Es war einmal in Georgien…

Anna Kordsaia-Samadaschwili erforscht in ihrem Roman „Sinka Mensch“ die postsowjetische Gesellschaft und ihre Mythen

Von Timo KrstinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Krstin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sinka Mensch von Anna Kordsaia-Samadaschwili kommt als kleine Geschichte daher, eine kleine Erzählung über gewöhnliche Menschen aus der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Sie wohnen als Nachbar*innen zusammen in einem „italienischer Hof“ genannten Gebäudekomplex am „Revolutionärsplatz Nummer eins“, sie leben ihren Alltag, reden miteinander, feiern und aus ihren Gesprächen und kleinen Abenteuern setzt sich die Geschichte von Alexi Mensch zusammen. Alexi ist Straßenmusiker, der mit seinem Akkordeon „Raviata“ durchs Land zieht. Er genießt das Leben und die Liebe und trinkt und feiert mit seinen Freunden Data und Kotiko, mit denen er sich schließlich ebenfalls am „Revolutionärsplatz“ niederlässt, um die junge Niniko zu freien.

Was Aleksi auf seinen Reisen getrieben hat, bleibt weitgehend sein Geheimnis, bis eines Tages eine Frau vor der Tür steht und sich als seine unbekannte Tochter vorstellt, an ihrer Hand ein kleines Mädchen: Sinka, die Enkelin. Sinka zieht bei dem frischgebackenen Großvater ein, und die Geschichte folgt ihr auf dem Weg ins Erwachsenenleben, durch eine Epoche Georgiens, die irgendwo zwischen der späten Sowjetunion und der Rosenrevolution von 2003 angesiedelt ist.

Sinka wird selbst Musikerin. Sie geht mit dem Großvater auf Tour durch das noch sozialistische Georgien, tritt den Jungen Pionieren bei, wird erwachsen und erlebt die erste Liebe, trennt sich von Freunden und findet neue: Stationen eines einfachen Lebens. Und so ist es in Sinka Mensch auch weniger das Was, als vielmehr das Wie der Erzählung, das die Literatur macht. Sinka und ihr Großvater sind Volksmusiker im besten Sinne, sie sammeln kleine Geschichten und Anekdoten und weben daraus für das Publikum auf Dorfplätzen und Festen einen Volksmythos der einfachen Leute. Es ist dieses künstlerische Verfahren, das der Roman auch auf sich selbst anwendet: Bei genauerem Lesen verdichtet sich Sinka Mensch zu einem Gewebe aus Erzählungen und Zitaten, in dem das einfache und recht moderne Leben Sinkas zu einer Allegorie georgischer Geschichte wird.

Ganz wunderbar dabei die Art, wie es Anna Kordsaia-Samadaschwili gelingt, weit in die Vergangenheit zurückgreifende Märchen und Mythen mit der Geschichte der Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien zu verbinden. Sie stellt ihren Kapiteln kleine Textbausteine voran, die unterschiedslos Volksweisen und Sprichwörter auf der einen, offizielle Verlautbarungen der Kommunistischen Partei und marxistische Floskeln auf der anderen Seite zitieren, und so die Erzählung von Sinka Mensch zum Kulminationspunkt der verschiedenen Historien Georgiens machen. Im Buch mischt sich die Sprache einer volkstümlichen Landesgeschichte mit dem auf die Zukunft zielenden Jargon des Marxismus zum Versuch einer neuen Sprache, die sich versöhnlich über beide Vergangenheiten legen könnte.

Damit verhält sich Kordsaia-Samadaschwili genau wie ihre Protagonist*innen, sie zieht los und sammelt Erzählungen und Anekdoten, um daraus – so hoch ist der Anspruch – einen neuen Volksmythos zu weben, einen, der auch jene Teile der Geschichte umfasst, die sich als Revolution vom Rest der Landesgeschichte abtrennen wollten. So führt der Roman an seinem Ende auf die Rosenrevolution von 2003 hin, in der Eduard Schewardnadse als letzter Repräsentant der Sowjetunion und zugleich wichtiger demokratischer Reformer Georgiens abgesetzt wurde. Die alte und die neue Geschichte des Landes, vereint im Staatspräsidenten, überwunden und bewahrt im Roman Sinka Mensch, der anfangs als kleine Geschichte daherkommt, und erst bei genauerem Lesen den großen Anspruch preisgibt, die ganze Geschichte zu erzählen.

Die georgische Literatur ist in Mitteleuropa noch weitgehend unbekannt. Umso schöner, sie mit einer Autorin wie Anna Kordsaia-Samadaschwili entdecken zu können, die in jede kleine Erzählung auch ein Stück Landesgeschichte packt und uns ganz unaufdringlich ihre Heimat näherbringt. Dabei hilft auch die elegante Übersetzung von Sybilla Heinze, die, während sie das flirrende Leben in Tbilissi nah heranholt, zugleich das klischeehaft Vertraute so weit entrückt, dass man tatsächlich neu über Georgien und seine Geschichte nachzudenken beginnt. Diese kleinen Entrückungen, die eine andere Nähe und ein tieferes Interesse erst ermöglichen, liegen vor allem in Momenten der Nichtübersetzung, wenn Heinze bewusst Namen und Orte in Originaltranskription stehen lässt und damit eine kleine Übersetzungsleistung auch von der Leser*in fordert.

Allen voran natürlich Tbilissi, von dem die meisten noch wissen könnten, dass die in Deutschland Tiflis genannte Hauptstadt gemeint ist. Durch die Irritation einmal auf die Spur gebracht, lässt sich beim Lesen der Übersetzung und beim Selbstübersetzen der unbekannten Namen die Geschichte Georgiens quasi en passant erschließen. Und es erklärt sich im Ganzen, weshalb Heinze Städte, Flüsse, Landstriche nicht übersetzt, den Nachnamen ihrer Protagonistin aber sehr wohl: Sinka Adamiani – Sinka Mensch. Denn in ihrem Spiel mit Geschichten, die aufgenommen, weitergegeben und damit immer auch übersetzt werden, erzählt die Autorin eine zutiefst menschliche Geschichte vom Willen zu gegenseitigem Verständnis.

Titelbild

Anna Kordsaia-Samadaschwili: Sinka Mensch.
Aus dem Georgischen von Sybilla Heinze.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2020.
192 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002756

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