Ad infinitum, ad nauseam
Mit „In diesem Buch stirbt jeder“ schraubt der georgische Autor Beka Adamaschwili das Spiel mit der Metafiktion in schwindelerregende Höhen
Von Manfred Roth
Im kleinen aber feinen Verlag Voland & Quist, in dem es immer wieder junge und durchaus wilde Literatur, vor allem aus Osteuropa, zu entdecken gibt, erscheint nach Bestseller nun Beka Adamaschwilis zweiter Roman In diesem Buch stirbt jeder, in dem Memento Mori eines Tages erwacht und feststellt, dass er nur eine Romanfigur und damit der Willkür eines Autors unterworfen ist. Kurzerhand schart er weitere Figuren um sich und beschließt, kreuz und quer durch Bücher zu reisen, um prominente Opfer der Literaturgeschichte vor dem Dahinscheiden zu bewahren und damit nicht zuletzt die finsteren Pläne des eigenen Autors zu durchkreuzen.
Dass Adamaschwili in In diesem Buch stirbt jeder fast alle literarischen Gepflogenheiten unterwandert, inhaltliche wie formale, zeigt sich bereits daran, dass dem Roman gleich zwei Widmungen vorangestellt sind (später gibt es noch zwei Prologe und am Schluss sicherheitshalber zwei Enden), in denen er sich augenzwinkernd als Autor im Literaturbetrieb positioniert: zunächst begrüßt er Buchempfehlungen von Lesern auf Social Media-Plattformen sehr: „An alle Leser, die gerne Bücher auf Facebook, Instagram oder Twitter empfehlen: Macht weiter so.“, womit er auch eine Demokratisierung dessen, was gemeinhin Aufgabe von Literaturkritik war, befürwortet, während sich in der zweiten Widmung vielleicht auch der Kritiker angesprochen fühlen darf, wenn es heißt: „Ebenso allen Pedanten, die gedacht haben, dass in der vorhergehenden Widmung Hashtags gefehlt haben.“
Damit ist der Ton des Romans gesetzt: Er ist ein einziges gewaltiges Spiel mit Texten, deren Bedeutungen und Konventionen, ein wilder Ritt durch fast alles, was mit dem geschriebenen Wort zu tun hat, durch diverse literarische Gattungen, vom Roman übers Drama hin zum Comic, durch etliche Genres, vom Lehrdialog zum Märchen, über den Detektivroman zur Science Fiktion, durch literaturkritische Diskurse etwa über Intertextualität oder Romananfänge, durch Paratexte wie Widmungen, Fußnoten oder Glossare, und auch noch Überschriften, Listen und Aufzählungen nimmt er aufs Korn. Selbst Text als Spoiler greift er auf und führt ihn ad absurdum.
Das alles geschieht mit einer ironischen Haltung, voller Witz und Humor, ist ein uneigentliches Sprechen und Erzählen, das sich fast alles zu eigen macht – auf mancher Buchseite wird auf nahezu ein Dutzend Autoren und Werke verwiesen – und gleichzeitig alles Gesagte relativiert, neu und um schreibt, in einer Sprache zwischen schnellem Gag und Aphorismus, die manchmal an Twitter-Texte erinnert.
Auch indem der Roman Themen aufgreift, die momentan medial präsent sind, ist er auf der Höhe der Zeit. Unter all dem Wortgewitter, den Sprachspielen und Kalauern ist eines der zentralen Themen die Frage nach dem freien Willen, wie sie in letzter Zeit etwa in Science Fiction-Serien und -Filmen immer wieder gestellt wird, jüngst beispielsweise in Alexander Garlands Devs oder in Lisa Joys und Jonathan Nolans Westworld – auf die Filme des Bruders Christopher Nolan wird in dem Roman übrigens besonders häufig Bezug genommen –, also die Frage, ob die Welt nicht doch rein deterministisch und der freie Wille eine Illusion ist. Nur dass sich Adamaschwili auf dieser Grundlage nicht an existenzieller Sinnsuche versucht, sondern es ihm diebische Freude zu bereiten scheint, so viel Unsinn wie möglich zu stiften oder wie es gegen Ende des Romans über die (vermeintliche) Absicht des Autors heißt: „Er jammerte ständig, er wolle bei diesem Buch einfach nur Spaß haben, lege den Schwerpunkt auf Form statt Inhalt und habe nichts Ernsthaftes zu sagen.“
Das wesentliche Merkmal des Romans ist die Kreisbewegung, inhaltlich, strukturell und sprachlich:
Als Memento Mori eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er heraus, dass er eine Romanfigur war und ihm über sich selbst nur drei Dinge einfielen:
1. dass er den komischen Namen ‚Memento Mori‘ trug;
2. dass er eine Romanfigur war;
3. dass ihm über sich selbst nur drei Dinge einfielen.
Dass In diesem Buch stirbt jeder fremde Texte aufgreift, hier praktisch im Vorbeigehen den Anfang von Franz Kafkas Die Verwandlung zitiert, ist von Beginn an augenscheinlich. Darüber hinaus liegt dem Roman eine Verfahrensweise zugrunde, die man als literarisches Pendant zu einem Spirograph beschreiben kann, jenem Kinderspielzeug, bei dem durch kontinuierliche Kreisbewegung ein geometrisches Muster entsteht, das an ein Mandala erinnert. Auch der Roman gewinnt seine Form aus dem Kreisen in alle Richtungen, über alle Textebenen hinweg. Er ist zirkulär, indem er sich selbst als Roman thematisiert oder den Prozess des Romanschreibens karikiert; zirkulär die unzähligen sprachlichen Pirouetten, als würden sich die Sätze um die eigene Achse drehen: „Was für unbezahlbar zahllose Zahlen“; zirkulär außerdem in Bezug auf das Werk Adamaschwilis, indem in einem längeren Kapitel auf das Konzept der Literatenhölle aus dem Vorgängerroman Bestseller zurückgegriffen und die Handlung dort angesiedelt wird, und zirkulär ist nicht zuletzt die Romanhandlung selbst, die am Ende wieder an den Anfang springt, wobei – Achtung Spoiler – Apokalypse und Urknall ein und dasselbe sind.
Man merkt es dem Text regelrecht an, wie viel Spaß Autor und Übersetzerin an den zahllosen Wortspielen und Witzen gehabt haben müssen, und dass dabei nicht jede Pointe zündet und jeder Kalauer besonders geistreich daherkommt, ist bei der Dichte vielleicht nicht verwunderlich. Auch wenn man sich bei einem Satz wie „… ‚oder mit einer Zeitmaschine zurückreisen und zum Beispiel Hitler dazu zwingen, seinen Kampf aufzugeben.‘“ schon fragen kann, ob denn nun wirklich jede Möglichkeit zum Wortspiel tatsächlich auch genutzt werden muss, zeichnet den Roman diese ständige, fast schon übermäßige Wiederholung von Sprachspielen, Verweisen oder Kalauern ja gerade aus, sodass vielleicht gar nicht Sinn oder Unsinn der Einzelstelle so entscheidend sind, sondern der Umstand, dass durch die stetige Wiederholung so etwas wie ein Beat entsteht, der den Roman definiert und zusammenhält, selbst wenn er oft laut und schrill ist und einem manchmal der Kopf davon schwirrt.
Welchen besonderen Anteil die Übersetzerin Sybilla Heinze an allem hat, wird schnell klar, denn etliche Wortspiele und Verweise können sicherlich nicht wörtlich übersetzt, sondern müssen im Deutschen nachgebildet worden sein. Dass dies bei dieser Häufung in den meisten Fällen dann doch ungezwungen wirkt, ist eine beachtliche Leistung, und dass die Übersetzerin bereits auf dem Buchcover neben dem Autor genannt wird, mehr als gerechtfertigt. Im Grunde ist es aber immer so, dass eine Literaturübersetzung auch wesentlich von der Übersetzerin geprägt ist und vielleicht hätte sie ja immer einen Platz in der ersten Reihe verdient. Dass der Verlag Voland & Quist eine Vorreiterrolle einnimmt und Sybilla Heinzes Namen so prominent auf dem Bucheinband platziert, ist ein schönes Zeichen der Wertschätzung, und man kann nur hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht.
Ebenfalls auf dem Buchcover finden sich Felder zum Freirubbeln, bezeichnend für In diesem Buch stirbt jeder, das in vielerlei Hinsicht ein Mitmachbuch ist, indem verschiedene Vorformen von Hypertexten anklingen, Choose-Your-Own-Adventure-Bücher oder frühe digitale Textadventures, oder indem der Leser regelrecht manipuliert wird mitzumachen, etwa wenn es heißt: „Matthäus neigte ein wenig den Kopf, legte den abgespreizten Daumen der geballten linken Faust unters Kinn, presste die übrigen Finger an Lippen und Nase, fragte sich, ob die Leser seine Bewegungen nachahmen würden, wenn er eine Romanfigur wäre und jemand seine Bewegungen so beschriebe…“, und während man sich selbst fragt, warum man denn die Bewegung nachahmen sollte, kann es sein, dass man sich dabei ertappt, genau das zu tun. Daneben ist der Roman auch in hohem Maße selbst performativ, indem er nachahmt, wovon er erzählt, etwa wenn er die Dekonstruktion von Sprache in Satzbruchstücken widergibt: „‚Fuck Postmod ‘‚ fluchte , und alles war erleuchtet.“ oder wenn nach *** erklärt wird: „Die drei Sternchen sind eine Art Ersatz für die Formulierung ‚Die Zeit verging‘.“, was nicht zuletzt an Lawrence Sternes bereits Mitte des 18. Jahrhunderts erschienenen, metafiktionalen Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman erinnert.
Wenn eine neue Rolle von Kritik, die vielleicht nicht zu Unrecht mit den neuen sozialen Medien ihre Gatekeeper-Funktion teilweise eingebüßt hat, die sein kann, durch Einordung und Bezugnahmen Sichtweisen auf einen Text zu erschließen, die vielleicht nicht auf der Hand liegen, torpediert In diesem Buch stirbt jeder dieses Unterfangen, indem der Roman selbst bereits mit einer schier endlosen Menge an Bezügen und Verweisen aufwartet, sodass man feststellen muss, dass ein Vergleich mit Tristram Shandy zwar einerseits angebracht ist, der Roman dann andererseits aber doch nicht so ganz darin aufgeht. Vielleicht ist In diesem Buch stirbt jeder mit all seine Pirouetten und seinem metafiktionalen Kreisen doch näher an Flann O Brians Auf Schwimmen-Zwei-Vögel…, vielleicht kann man sich am Ende auch irgendwie geschlagen geben und einfach feststellen: hat Spaß gemacht, der Roman, auch wenn einem danach wie bei jeder guten Achterbahnfahrt etwas schwindelig ist.
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