Nicht gerade ein Wiesengrund

Peter Buwaldas Roman „Otmars Söhne“ ist ein größenwahnsinniger Kosmos aus Öl, Sex, verschwundenen Vätern, verhassten Opas und Beethovens letzter Sonate

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht gut gealtert, Sigmund Freud: Muss man so nicht heute urteilen? Wie passen Vatermorde und ödipale Komplexe zu Familien, in denen Kinder mit zwei Müttern (oder zwei Vätern) aufwachsen? Und wie die Phallussymbolik zur Gender-Fluidität? Geschlechterrollen ändern sich, und damit auch die Traumata. Nicht so im fantastischen Kosmos des niederländischen Autors Peter Buwalda. Er eröffnet den Roman Otmars Söhne mit dem Zitat der feministischen Theoretikerin Andrea Dworkin: der Penis ist und bleibe neben Faust, Pistole, Messer, Bombe und so weiter das tatsächliche, wenn auch versteckte Symbol des Terrors. Und dann geht es los: „Mit dem, was Psychiater für ein stattliches Honorar Vatersuche nennen, hat es nichts zu tun“. Ein großartiger erster Satz, aber dass er nicht ganz stimmen kann, verrät schon der Buchtitel.

Einer dieser Söhne Otmars ist Dolf, der mit dreizehn Jahren seinen Namen in Ludwig ändern muss. Er zieht den Kürzeren gegen seinen Stiefbruder, ebenfalls Dolf, zu dessen Familie mitsamt Stiefvater Otmar der junge Dolf-Ludwig und seine Mutter gezogen sind. Otmars leiblicher Sohn Dolf ist ein pianistisches Wunderkind, und zu berühmt, als dass er seinen Namen wechseln könnte. Entsprechend verkorkst ist der erwachsene Ludwig, der im Zentrum des Romans steht. Seinem leiblichen Vater ist er nie begegnet, mit seiner Mutter verbindet ihn nicht mehr viel, er ist unsicher, entscheidungsschwach und in einer toxische Beziehung mit Lebensgefährtin Juliette verfangen. Wenn sie sich am Telefon ‚Darling‘ nennen, sind alle semantischen Brücken zum Kosewort abgebrannt.

Ludwig wird auf Dienstreise von seinem Arbeitgeber Shell auf die sibirische Insel Sachalin geschickt. Der Zufall – oder möglicherweise doch profanere Kräfte – wollte es, dass er hier seinem leiblichen Vater begegnet, der in der Chefetage des Ölkonzerns arbeitet. Allerdings ist die Begegnung von Ludwig und Johan Tromp auf wenigen Seiten abgehandelt. Der überwiegende Teil des rund 600-seitigen Romans findet in Ludwigs Kopf statt – und in dem von Isabelle Orthel. Seine alte Mitbewohnerin aus Studienzeiten ist ebenfalls in Sachalin aufgeschlagen. Die investigative Journalistin im Ölbusiness verbindet mit Ludwig weit mehr als ein für ihn äußerst peinliches Geheimnis. Sie will Johan Tromp konfrontieren, der, wie sie im Rahmen einer ziemlich fragwürdigen Recherche herausgefunden hat, für Shell buchstäblich über Leichen gegangen ist. Vollkommen unvermittelt wechselt die Erzählung nach einem Drittel des Romans in die Perspektive Isabelles, und von dort immer wieder zu Ludwig zurück.

Bei Peter Buwalda sehen diese Blickwechsel mitten im Absatz mühelos aus, dabei sind es stilistische Achterbahnfahrten. Gleiche Ereignisse bekommen, aus unterschiedlichen Winkeln erzählt, eine ganz andere Bedeutung. Kein Detail, kein Buch, in dem Isabelle in der WG-Küche mit ihren Fingern die Seite markiert, taucht nicht etwas später wieder auf. Sogar bis in Buwaldas Erstling Bonita Avenue führt ein nur angedeuteter Erzählstrang hinein. Wird er noch aufgelöst werden? Die Kapitelzählung beginnt bei 111 und zählt rückwärts bis 75, zwei Nachfolgebände sind schon angekündigt.

Warum eigentlich 111 Kapitel? Die Antwort ist Beethoven. Denn neben Vatersuche, Ölbusiness und SM-Spielchen geht es auch um Beethovens vielleicht größte Klaviersonate op. 111, deren angeblichen Mittelsatz der mittlerweile noch berühmtere Pianist Dolf entdeckt zu haben behauptet. Auch wenn das Beethovenjahr vorbei ist: Peter Buwalda huldigt dem Genie auf seine Weise, indem er sich unbescheiden daneben stellt, dafür aber sein eigenes op. 111 vollenden will.

Man kann mit Spannung erwarten, wie Buwalda seinen Kosmos weiter bauen wird. Den Größenwahn hat er sich offenbar bei dem großen Ludwig abgeschaut, so gewitzt, temporeich und detailversessen geht es zu. Auch die Vatersuche des kleinen Ludwig wird weitergehen. Auf Sachalin steht für ihn und Johan Tromp noch ein gemeinsamer Skiausflug an. Tromp bekommt nur gegen Ende des Buches die Gelegenheit, aus seiner Sicht zu erzählen. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich dieser macht- und sexbesessene, von Dworkins Terrorsymbol gesteuerte Old School Chauvinist in den Folgebänden präsentieren wird. Isabelle, die ihn schon einmal hinters Licht geführt hat, wird dabei sicherlich eine Rolle spielen. Sie hat im Gegensatz zu Ludwig durchaus einen Killerinstinkt, auch wenn man für sie das Bild des Großvatermords erfinden müsste. Die Episode, wie sie als Teenagerin ihren Opa abserviert, ist eine der stärksten Passagen des Buchs.

Gut, dass Buwalda nun erst einmal vorgelegt hat: zwischen Bonita Avenue und Otmars Söhne lagen immerhin neun Jahre. Bleibt zu hoffen, dass er sein Meisteropus schnell vollendet – und dass es nicht sein letztes bleibt.

Titelbild

Peter Buwalda: Otmars Söhne.
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
640 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001759

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