Die Königsdisziplin der Heilkunst

Mit zwei Anteilen historischer Forschung und einem Esslöffel Fiktion braut Sabine Weiß in ihrem historischen Roman „Die Arznei der Könige“ die Medizingeschichte des frühen 14. Jahrhunderts zusammen

Von Eva SchützendübeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Schützendübe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einen das kalte Fieber überkam, sollte man Wasser lassen und Roggen in den Urin werfen. Aus dem Teig solle man kleine Kugeln formen und diese an Fische verfüttern. Davon vergehe das Fieber, duth js vor socht, versicherte der Schreiber die Erprobtheit der Arznei.

Über mittelalterliche Heilpraktiken lässt sich streiten. Manchmal handelt es sich um Quacksalberei, manchmal ist es wirksame Klostermedizin. Den Unterschied erkennt die adelige Jakoba von Dahlenburg, die bei dem genannten Rezept gegen Schüttelfrost nur gähnt. Im historischen Roman von Sabine Weiß wird das Schicksal von Jakoba Félicie de Almania nacherzählt, die als Frau die Medizingeschichte des frühen 14. Jahrhunderts prägte und mit Hildegard von Bingen auf eine Stufe gestellt werden kann. Die Romanfigur Jakoba sammelt ihre ersten natur- und heilkundlichen Kenntnisse im Kloster Ebbekestorpe (heute Ebstorf), wo sie viele Arzneirezepte und deren Wirksamkeit infrage stellt. Nach einigen Schicksalswendungen stößt Jakoba von Dahlenburg jedoch auf ein wirksames Allheilmittel, das sogar als Arznei der Könige bezeichnet wird: Theriak. Zusammen mit dem Theriak-Krämer Meister Arnold reist sie nach Venedig, um die geheime Herstellung dieser Medizin zu erlernen, obwohl ihr dies als Frau ohne entsprechende Qualifikation verboten ist.

Das überlieferte Theriak-Rezept klingt zunächst willkürlich, aber es handelt sich um hohe Kunst: Nach dem Motto „viel hilft viel“ werden Schwarzer Pfeffer, Weißer Pfeffer, Mohnsaft, getrocknete Rosen, kretischer Knoblauch-Gamander, Meerzwiebel-Pastillen, Theriak-Pastillen aus Schlangenfleisch und viele weitere Zutaten benötigt. Heben sich die Bestandteile nicht gegenseitig auf? Nein. Alles wurde exakt aufeinander abgestimmt. Deshalb ist die Zubereitung des Theriaks umso aufwendiger.

Jakoba braucht einige Monate, um der Königsdisziplin der Heilkunst gerecht zu werden. Aber sie ist dickköpfig und selbstlos, wenn es um die Heilung ihrer Patienten geht. Geld verlangt die Heilerin nur, wenn ihre Medikation anschlägt. Jakoba kuriert sogar Kranke, die von den Ärzten bereits aufgegeben oder gar nicht erst behandelt wurden. Bald schon verlangen Könige nach der deutschen Adeligen und ihrer viel gerühmten Theriak-Behandlung. Während Jakoba von Dahlenburg immer stärker davon überzeugt ist, in der Heilkunst ihre Bestimmung gefunden zu haben, nehmen besonders die studierten Ärzte ihr illegales Treiben als Bedrohung wahr: In deren Augen sollte nur Männern die Ausübung der Heilkunst gestattet sein, weshalb sie kurzerhand der Hexerei bezichtigt und verklagt wird. Mit Not entkommt sie dem gefällten Urteil, denn in Paris ist ihre Reise noch nicht zu Ende.

Die überlieferten Prozessakten zu Jakoba Félicie de Almania aus den Pariser Chroniken sind der einzige historische Beleg für die Existenz der jungen Frau und dienten Sabine Weiß als Vorlage für ihren Roman. In dem Gerichtsverfahren von 1322 verteidigte sich die deutsche Adlige auf kundige Weise gegenüber dem Vorwurf, ohne Lizenz praktiziert zu haben. Sie behandelte sowohl Männer als auch Frauen erfolgreich und rechtfertigte ihre Auffassung, dass kein Mann Frauenleiden untersuchen solle. Mehrere Zeugen wurden angehört und bestätigten Jakobas Heilkunst, die sogar die der Pariser Ärzte übertroffen haben soll. Nach dem Urteil verblassen die Spuren von Jakoba Félicie de Almania. Die akribische Recherchearbeit der Autorin geht jedoch tiefer in die politischen Unruhen und die Medizingeschichte des 14. Jahrhunderts hinein, sodass mit der Romanfigur Jakoba ein plausibles und von Männern unterdrücktes Schicksal erzählt wird.

Als Frau zieht Jakoba von Dahlenburg im Mittelalter trotz ihres Adelsstandes stets den Kürzeren: Ihre Meinung zählt nichts, ihre Berufung darf sie nicht ausüben, ihr Körper gehört ihrem patrizischen Ehemann. Einzig zu dem mysteriösen Ritter Roger d՚Aval, Pflegesohn des Theriak-Krämers Meister Arnold, fühlt sich die Romanfigur bei jeder kurzen Begegnung stärker hingezogen. Doch als zwangsverheiratete Frau ist ihr selbst das Glück einer Liebesromanze versagt, denn Scheidung ist eine Sünde. Jakoba bleibt als Frau und Heilerin somit ein Spielball der politischen und männlichen Machenschaften. Sie ist ständig auf der Flucht, ob vor dem Kirchenbann, vor Räubern und Mördern, vor ihrem gewalttätigen Ehemann oder ihrem egoistischen Bruder. Die weibliche Erzählperspektive ist dabei ernüchternd. Jakoba von Dahlenburg scheint zwar in vielem ihrer Zeit voraus zu sein, dennoch bleibt es oft nur bei einem stummen Protest der Hauptfigur, beispielsweise wenn ihr Gewalt angetan wird. Eine Beschönigung der historischen Bitterkeit in Bezug auf die Frauenproblematik gibt es bei Sabine Weiß nicht. Auch wenn man bei der Lektüre möglicherweise schlucken muss, so entwirft die Romanhandlung besonders dadurch ein authentisches Bild der damaligen Gesellschaftsordnung.

Das Reisen ist im Mittelalter mit vielen Gefahren verbunden. Besonders für eine Frau, weshalb sich Jakoba von Dahlenburg bisweilen als Mann verkleiden muss, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Sabine Weiß versucht ausführlich zu rekonstruieren, wie Jakoba Félicie de Almania nach Paris gelangte und wohin sie danach ging. Das Reisen macht daher einen Großteil der Romanhandlung aus; auch die Kapitelüberschriften sind in Zeit- und Ortsangaben gegliedert. Eine vorangestellte Landkarte aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verzeichnet zudem Jakobas fiktiven Weg von Lüneburg über Magdeburg, Nürnberg, München bis nach Venedig und schließlich Paris. Obwohl die längeren Reisepassagen die Handlungsdichte teilweise verringern, so folgt man der jungen Heilerin bei ihrer Bildungsreise quasi als Begleitung überallhin und ist am Ende überrascht, wohin ihr Weg sie geführt hat.

Sabine Weiß punktet insbesondere mit ihrer sprachlichen Ausdrucksweise. Für das Verständnis altertümlicher Begriffe im Roman wurde ein sprachliches und medizinisches Glossar angelegt. Die mittelalterliche Atmosphäre wird hervorragend subtil von den medizinischen Praktiken und dem Gesellschaftsbild um 1300 getragen.

Etwas zu viel des Guten sind dann aber willkürlich eingeworfene mittelniederdeutsche Sätze wie „Ik bün so hungerich“ oder das scheinbar einzige (der Hauptfigur bekannte) Kirchenlied dieser Zeit Wir wollen alle fröhlich sein. Das irritiert beim Lesen eher, da entweder der Sinnzusammenhang oder eine erläuternde Übersetzung fehlt. Abgesehen davon balanciert die Autorin jedoch gekonnt zwischen sachlich-wissenschaftlichem Stil und narrativen Ergänzungen. Gerade bei einem historischen Roman ist der fließende Übergang zwischen chronologischer Berichterstattung und fiktionalem Erzählen entscheidend für das positive und abwechslungsreiche Leseerlebnis. Daher ist Die Arznei der Könige trotz des beachtlichen Seitenumfangs schnell aufgebraucht. Sabine Weiß rät in ihrer Danksagung im Übrigen davon ab, die historischen Behandlungsmethoden oder Rezepte der Klostermedizin aus ihrem Buch zu imitieren, da diese nach derzeitigen Kenntnissen wirkungslos oder schädlich seien. Wer sich aber mit einer deutschen Adeligen auf die Suche nach Wissen und Glück begeben will, der kann Die Arznei der Könige getrost konsumieren. Wohl bekomm’s!

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Sabine Weiß: Die Arznei der Könige. Historischer Roman.
Bastei Lübbe, Köln 2018.
637 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783404176465

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