Konsequent subjektiv

In „Betrachtungen einer Barbarin“ reflektiert die Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan eigene Erfahrungen mit kultureller und sozialer Differenz

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den aktuellen Debatten um Identität in der postmigrantischen Gesellschaft, um Rassismus und Genderfragen ist Asal Dardan schon lange als Bloggerin und über Twitter aktiv. Jetzt legt sie ihr erstes Buch vor, einen Essayband mit dem etwas altmodisch klingenden Titel Betrachtungen einer Barbarin. Die Autorin erklärt das mit einem Verweis auf John Maxwell Coetzees Erzählung Warten auf die Barbaren. Man könnte aber auch an Thomas Mann denken und dessen Debattenbuch Betrachtungen eines Unpolitischen. So wie dessen Betrachtungen alles andere als unpolitisch waren, spielt auch Dardan ironisch mit den Vorurteilen des Lesers. Denn ihre Texte sind keineswegs fremd oder barbarisch. Die Autorin bekennt, in mancher Hinsicht „zu deutsch“ zu sein, und die Themen ihrer Texte betreffen den Kern der aktuellen Diskussion hierzulande. Außergewöhnlich ist nicht die Fremdheit der Autorin, sondern ihre konsequent subjektive Herangehensweise.

Dardan, Jahrgang 1978, hat ihr Buch als lose Folge von Essays aufgebaut, die ihrem eigenen Lebensweg chronologisch folgen: von dem Aufwachsen als Kind iranischer Flüchtlinge in einer Frankfurter Hochhaussiedlung über die Internatszeit in Bad Godesberg, die ersten beruflichen Erfahrungen als Praktikantin bei CNN in den USA, die Studienzeit in Deutschland und Schweden bis hin zu den Erlebnissen als Lebenspartnerin, Schwiegertochter und Mutter. Es sind intime Einblicke in das Leben einer Person, die durch die zufälligen Koordinaten ihrer Geburt überall zwischen den Stühlen sitzt.

Die Autorin nutzt den persönlichen Erfahrungsschatz, um daraus allgemeinere Gedanken zu Kultur und Identität zu entwickeln. Der Gefahr, dabei unbeabsichtigt eigene oder familiär überlieferte Vorurteile zu verallgemeinern, begegnet sie durch eine genaue und sehr ehrliche Selbstanalyse. Das Buch ist also zweierlei: Selbstbefragung und persönliche Reflexion über das eigene Erwachsenwerden und gleichzeitig theoretischer Gedankengang, in dessen Verlauf die Autorin eine solide begründete Haltung entwickelt. Einige Beispiele mögen das verdeutlichen.

Da geht es im Kapitel Neue Jahre zum Beispiel um Dardans assyrische Tanten, Schwestern ihrer Mutter, die nach Schottland ausgewandert sind und bei denen die Weihnachts- und teilweise auch Sommerferien verbracht wurden: Bei den Tanten wurden stundenlang Anekdoten erzählt, es wurde gemeinsam gekocht und aus riesigen Koffern quoll eine Flut von Kochzutaten und Videokassetten. Die Tanten erklärten der kleinen Asal, dass die wichtigsten Errungenschaften der Menschheit – von Jesus bis zur Erfindung der Badewanne – assyrischen Ursprungs seien. Als Kind habe sie das staunend geglaubt, später darüber gelacht, jetzt versteht sie es: Es ist das Wissen darum, fremd zu sein, sich ohnmächtig zu fühlen, aus dem nationalistische Vorurteile entstehen.

Gleich darauf folgt ein Text über den Freund ihrer inzwischen alleinerziehenden Mutter, der Dardan zeitweise zum Ersatzvater wird. Dessen Verwandtschaft sieht in Dardans Mutter nur die junge Frau, die den einsamen Witwer ausnutzt, es kommt zu Spannungen. Wieder geht es um Vorurteile: Die Beziehung der Mutter zu ihrem Freund passt nicht in das gängige Muster von Liebesheirat mit Kindern, daher werden unlautere Absichten unterstellt. Das nicht der Norm entsprechende Beziehungsmuster wird nicht akzeptiert.

Ähnliches erfährt Dardan, als sie nach dem Abitur für ein Praktikum in die USA geht, in das Land, das sie für das fortschrittlichste und freieste Land der Welt hält. Hier muss sie erfahren, dass die amerikanische Freiheit nicht nur eine Vielfalt von Kultur bedeutet, wie sie sie von Deutschland nicht kannte, sondern dass auch der Rassismus zu den unausgesprochenen Grundkonstanten des Landes gehört. Als sie sich mit einem schwarzen Mitarbeiter anfreundet, erntet sie Verwunderung bei ihren weißen Kollegen, denen ein solches Verhalten nicht einfallen würde. Es zeigt sich: Gesellschaftliche Vorurteile normieren das Leben der Menschen und schränken es in seinen Möglichkeiten ein. Die Konsequenz für Dardan: sich einen bewusst subjektiven Blick auf den Anderen zu bewahren, der ideologische Vorurteile über kulturelle Differenzen möglichst ausschließt.

Dieser Blick ermöglicht ihr, auch Parallelen zwischen Kulturen wahrzunehmen: Auf Sardinien entdeckt sie alte Frauen, die ihren Tanten ähneln, in ihrer schwedischen Schwiegerfamilie entdeckt sie eine Frauengestalt, die sie an ihre assyrische Großmutter erinnert, deren Probleme aber auch heutige Frauen kennen. Die Ähnlichkeiten sind so offensichtlich, dass die Autorin jetzt einen Themenwechsel vornimmt: Während es in den bisherigen Texten um kulturell bedingte Identität und deren soziale Folgen ging, steht nun ein konkretes soziales Problem auf der Agenda: die unzureichende Emanzipation von Frauen, die über nationale und kulturelle Grenzen hinweg vergleichbare Auswirkungen hat.

Dardan lässt diese Beobachtungen in den Essay Wachsen münden, in dem sie von der Abtreibung ihres dritten Kindes berichtet. Sie erzählt zunächst wiederum plaudernd von ihren Schwangerschaften, von den Geburten, der Stillzeit und auch von ihrer Abtreibung – alles scheinbar private kleine Geschichten, und doch wird der gesellschaftliche Rahmen unmissverständlich klar und zwar daran, wie wenig die Idee von der Freiheit des Individuums für eine werdende Mutter taugt, wie existenziell eine Frau in dieser Situation seelisch wie auch körperlich belastet wird, auch was Elternschaft unter den gegebenen Umständen für die Familienkasse wie auch für die berufliche Karriere der Frau bedeutet. Dann berichtet sie davon, wie das schwedische Gesundheitssystem ihr den schweren Gang zur Abtreibung erleichterte – und fragt sich, warum das nicht auch in Deutschland so ist.

Leider sind nicht alle Texte des Bandes so überzeugend. Wo Dardan sich zwingt, von ihrer Methode abzusehen, wo sie glaubt, politische über private Zusammenhänge stellen zu müssen, werden ihre Gedanken manchmal unkonkret oder moralisierend. Das betrifft besonders einen Essay am Anfang des Bandes, Alle meine Kinder, in dem sich die Autorin mit alten und neuen Nazis beschäftigt. Hier übernimmt sie die moralische Anregung eines 68er-Lehrers aus ihrer Internatszeit, sich mit der Schuld der Eltern auseinanderzusetzen. Sie konnte das damals nicht annehmen, weil die Ereignisse des Dritten Reichs nicht zu ihrer Familiengeschichte gehören. Ein anderes, auf den ersten Blick nicht gesellschaftliches Problem war dringlicher: Ihr Vater hatte die Familie ein paar Jahre zuvor verlassen, sie wusste nichts von ihm, sie vermisste ihn. Dardan verfolgt den Gedanken einer kollektiven Schuld der Deutschen dennoch weiter, ohne dass eigene biografische Erfahrungen eine Rolle spielen – und verirrt sich entsprechend: Die Abwehrhaltung ihrer damaligen Mitschüler interpretiert sie übertrieben als konservierte Nazihaltung: „Der Muff saß dieses Mal aber nicht unter dem Talar, er hatte brav die Kinderschuhe angezogen.“ Dann überträgt sie den Schuldvorwurf auf die Gegenwart, spricht über strukturellen Rassismus im Umkreis des NSU-Prozesses. Es gelingt ihr aber nicht, die ohne Zweifel zutreffenden und aufschlussreichen Beobachtungen zivilgesellschaftlicher Prozessbeobachter angemessen einzuordnen. Am Ende hat sie dem skandalösen Plädoyer des Bundesanwalts Diemer im NSU-Prozess nichts weiter vorzuwerfen, als dass darin zwei Vornamen verwechselt werden.

Welch ein Gegensatz zu den Passagen des Buches, in denen Dardan „ich“ sagt und von ihrem Ich ausgehend die Brücke schlägt zu den anderen, zur Gesellschaft! Wo Dardan als individuelle Person hinsieht, wo sie ihrer eigenen Beobachtungsgabe vertraut und ihrem Vermögen, diese Beobachtungen vorurteilsfrei und kritisch zu reflektieren, kommt sie zu gesellschaftlich relevanten Erkenntnissen. Dabei ist es eher ein Vorteil als ein Nachteil, dass sie manches anders sieht als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft. „Ich als niemals Gleiche kann und will nicht daran glauben, dass man gleich sein muss, um kollektiv zu handeln.“, heißt es im abschließenden Text Überquerungen. Dardan führt damit auch beispielhaft vor, wie ein reflektierter Umgang mit Identität – eigener wie fremder – funktionieren kann. Würde jeder die Ambivalenzen seiner Prägung so authentisch in die Debatte einbringen wie sie – es gäbe keine identitären Aggressionen, keinen Rassismus.

Titelbild

Asal Dardan: Betrachtungen einer Barbarin.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
192 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455010992

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