Ist das überhaupt noch Kunst oder eine Diskussionsveranstaltung?

Gerald Siegmund fragt nach der Relevanz der zeitgenössischen Theater- und Tanzperformance

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob das heutzutage auf Theaterbühnen und Tanzbelägen Dargebotene Kunst oder eine Diskussionsveranstaltung sei, fragt sich Gerald Siegmund, Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Bereits am Anfang seiner Einführung in die zeitgenössische Theater- und Tanzperformance macht er klar, dass es ihm im gesteckten Rahmen um viel geht: „Es geht um nichts Geringeres als um die Grundfrage nach der Relevanz von Kunst, bei der sich Menschen begegnen.“

Bezeichnenderweise beginnt Siegmund seine Auseinandersetzung mit einer mehrseitigen Beschreibung der jüngsten im Buch vertretenen Veranstaltung: With der Choreografin Meg Stuart war vom 29. Februar bis 6. März 2020 in München zu erleben. Bei Stuarts Veranstaltung trafen sich internationale Künstler_innen eine Woche lang, um nicht auf Wiederholung angelegte tänzerische und soziale Situationen gemeinsam mit wechselndem Publikum zu erschaffen. With, mit seiner offenen Form und unvorhersehbarem Ausgang, steht paradigmatisch für die vielen im Buch besprochenen Veranstaltungen, denen man mit der Bezeichnung „postdramatisch“ schon lange nicht mehr gerecht wird.

Auf den über 200 folgenden Seiten entwickelt Siegmund in dichter Abfolge von theoretischen Ausführungen und praktischen Beispielen einen sehr umfassenden Zugang, um die Veränderungen von Theater und Tanz seit der Jahrtausendwende in Schlagwörtern zu bündeln. Die Betonung muss hier auf entwickelt liegen:

Siegmund bietet zwar immer wieder Zusammenfassungen des bisher Erarbeiteten an Kapitelanfängen und -enden, jedoch eignet sich das Buch nur bedingt zum auszugsweisen Lesen. Das liegt nicht nur an der sich aufschichtenden Argumentation, sondern auch an den dutzenden Beispielen für Siegmunds Thesen, die über den Text verstreut sind und immer wieder von ihm aufgegriffen werden.

Die Grundthese des Buchs ist dabei recht schnell formuliert: Zeitgenössische Theater- und Tanzperformances spielen sich im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ästhetik ab und tarieren dieses Verhältnis je individuell aus. Diese sehr vage Feststellung wird in der Folge weiter bestimmt und differenziert, indem Siegmund durch den Begriff der „Situation“ den Blick auf die in Performance-Arbeiten bröckelnde Dichotomie von Ausführenden und Zusehern lenkt.

Mit der „Situation“ soll nur bedingt an die avantgardistischen Theaterentwürfe des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts angeschlossen werden: Im theatergeschichtlichen Abschnitt des Buchs arbeitet Siegmund heraus, dass (und warum) die ästhetischen Avantgarden mit ihrem Anspruch, Kunst und Leben zur Deckungsgleichheit zu bringen, gescheitert sind bzw. zum Scheitern verurteilt waren. Dennoch findet er bei einigen (Bertolt Brecht, Antonin Artaud und Richard Schechner) Programmatiken, die auf das Heute vorausdeuten. Nicht das Ineinander-Aufgehen von Kunst und Leben, sondern der Konflikt zwischen diesen vielgebrauchten Schlagwörtern (bzw. hier Ästhetik und Ethik) sieht Siegmund als Motor für das aktuelle Arbeiten.

Leider bleibt Siegmund im Buch aber eine klare Beschreibung schuldig, was denn nun genau unter dem Ästhetischen und Ethischen zu verstehen ist. Es bilden sich wenig Konturen, nur dass sich beides am Schnittpunkt, an dem Alltägliches zu Inszeniertem wird, trifft und dabei (politisch) aufgeladene Reibungsflächen erzeugt. Seine Ausführungen widmen sich, diesen Schritt überspringend, verschiedenen Praktiken („Durchspielen“, „Fiktionalisieren“ „Anerkennen“, „Anordnen“, „Diskursiveren“ und „Verbinden“), in denen der Konflikt der beiden Bereiche bereits ausgetragen wird.

Die Unterscheidung von Theater und Tanz wird in der Herangehensweise nebensächlich bzw. ist nur noch relativ wichtig: Indem Siegmund das körperbetonte Arbeiten des Theaters und die diskursiven und theatralen Tendenzen des Tanzes hervorhebt, zeichnet sich unter dem Schirmbegriff der Perfomance ein Kontinuum ab. Platziert man in dessen Mitte Meg Stuarts Veranstaltung, lassen sich die jeweiligen Ausbereiche vielleicht mit Milo Raus Dokumentartheater und Florentina Holzingers Choreografien bezeichnen. Denn im Rahmen des Buchs stellen Raus Arbeiten, vor allem seine Re-Inszenierungen realer Prozesse in mehr oder weniger veränderter Form, verhältnismäßig klassische Theaterarbeiten dar. Dasselbe gilt auf der gegenüberliegenden Seite für Holzinger: Ihre intensiven Choreografien, deren provokantes Potenzial oft bei der Nacktheit der Darsteller_innen beginnt und nicht dort endet, lassen sich schnell als Tanzveranstaltung begreifen.

Die zumeist recht anschaulich beschriebenen Beispiele zeigen die Bandbreite an Situationen, die die jüngste Generation an Kunstschaffenden gestaltet bis provoziert. Wobei einzelne Künster_innen und Kollektive (z. B. Rimini Protokoll, Milo Rau, Jérôme Bel, She She Pop, Boris Nikitin) eher im Fokus stehen als andere. Da Siegmunds Interesse hauptsächlich beim Theater- und Tanzgeschehenals sozialem Interaktionsraum liegt, fehlen kleinteilige inhaltliche oder formale Analysen der Aufführungen.

Das soll aber nicht stören: Die von Siegmund vorgeschlagene Systematisierung der jüngsten Theater- und Tanzwelt ist, obwohl sie an einigen Stellen vage bleibt, insgesamt interessant zu lesen. Die aufgezeigten Tendenzen sind nachvollziehbar und bieten Leser_innen, die Theorie nicht scheuen und sich bereits den einen oder anderen Gedanken über zeitgenössisches Bühnenarbeiten gemacht haben, interessante Blickwinkel.

Auch lässt sich Siegmunds sehr offenes Konzept leicht produktiv übertragen und für gewandelte Umgebungsbedingungen weiterdenken – z. B. könnte man sich fragen, ob eine Online-Veranstaltung wie SoliDialogues, im März 2021 von NewKinco und dem Goethe-Institut abgehalten, schon mehr als eine reine Diskussionsveranstaltung darstellt. Dennoch beschreibt Siegmunds Buch notgedrungen nur einen Ausschnitt aus der kaum überblickbaren Landschaft aus staatlich subventionierten Bühnen und Freier Szene im gesamten deutschsprachigen Raum.

Nachzuhaken wäre auch, was Siegmund denn genau unter der „Relevanz von Kunst, bei der sich Menschen begegnen“ versteht. Die von ihm gestellte Frage „Kunst oder Diskussionsveranstaltung?“ zeigt in der Gegenüberstellung schon die Abgrenzung, die hier betrieben wird und welches Spektrum die einzelnen Veranstaltungen schließlich besiedeln. Würde man diese Frage durch eine ähnlich schwergewichtige wie „Kunst oder Unterhaltung?“ ersetzen, ließe sich vermutlich unter ähnlichen Vorzeichen eine gänzlich andere Einführung zum Thema schreiben, die nicht weniger relevante Bühnenkunst erwähnen könnte.

Ein anderer relevanter Aspekt wäre andernorts zu suchen: Obwohl sich Siegmund im Buch kurz mit der (leidigen) Subventionierungsfrage befasst und im Anmerkungsapparat viele Details zu den Veranstaltungen parat hält, bleibt offen, welche institutionellen Hebelkräfte und Fördergeber schließlich wirksam waren, um bestimmte Veranstaltungen zu ermöglichen. Aber beides sind Themen für andere Überblicksdarstellungen zur zeitgenössischen Theater- und Tanzperformance, die man dann ins Regal neben diese stellt.

Titelbild

Gerald Siegmund: Theater- und Tanzperformance zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2020.
284 Seiten , 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783960603160

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