Vor dem Schrei kommt die Stille

Nina Bouraoui erzählt in ihrem Roman „Geiseln“ von gesellschaftlich und systembedingten Macht- und Ohnmachtsstrukturen

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich heiße Sylvie Meyer. Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Ich bin Mutter zweier Kinder. Ich lebe seit einem Jahr von meinem Mann getrennt. Ich arbeite bei Cagex, einem Gummiunternehmen. Ich bin für die Produktionskontrolle zuständig. Ich bin nicht vorbestraft.

Mit dem stakkatohaften Beginn des Romans setzt auch die zögerliche, vorsichtig tastende Selbstoffenbarung der Protagonistin ein. Zunächst erfahren wir lediglich ein paar Eckdaten eines Lebens, welches, reduziert auf die administrative Vermessung auf einer Polizeistation, zu unterschiedlichsten Frauen passen würde. Den mäanderartig und viele dunkle und enge Täler durchquerenden individuellen Lebensweg der Protagonistin entdecken wir erst gemeinsam mit ihr. Es ist ausschließlich Sylvies Perspektive, die gleich einem flackernden Licht diesen Weg beleuchtet, doch vor den sich dabei abzeichnenden Schatten der Vergangenheit immer wieder erschrocken zurückweicht.

Nina Bouraoui, vielfach ausgezeichnete französische Schriftstellerin und eine der bekanntesten literarischen Stimmen ihrer Generation, beschreibt in ihrem ersten in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman Geiseln das Drama eines nach außen unauffälligen Lebens, gewidmet den „Geiseln der Wirtschaft und der Liebe, die wir alle sind“. Es geht Bouraoui folglich nicht um die Darstellung eines Einzelschicksals als Sonderfall, sondern um das Aufzeigen struktureller und systembedingter gesellschaftlicher Gewalt, der wir alle – und Frauen häufig in besonderem Maße – ausgesetzt sind.

Wo Menschen Gewalt ausgesetzt sind, versuchen sie sich instinktiv zu schützen – und so unterschiedlich die Formen der Gewalt sein können, die sie erfahren, so unterschiedlich sind die Strategien, sich dagegen zu verteidigen. Eine nur vermeintliche Lösung ist die Verdrängung, so wie es Sylvie zunächst versucht: „Ich kenne keine Gewalt und habe nie Gewalt erfahren, keinen Ohrfeigen, keine Schläge mit dem Gürtel, keine Beschimpfungen, nichts.“ Sie wisse lediglich von der Gewalt auf der Welt, doch sie erkenne das Böse und habe einen „Schutzmantel“, so gleiche ihr Inneres einer „Festung“, in der sie jede Kammer kenne und jede Tür öffnen oder verschließen könne, wenn es sein müsse. Gerade zu Beginn der Lektüre hat man den Eindruck, sich selbst in einer dieser verschlossenen Kammern zu befinden, so einschnürend klaustrophobisch und bedrückend wirken die einfachen, kurzen Sätze; wirkt die in der Sprache greifbare Resignation.

Resignation äußert sich bei der Protagonistin im Verstummen. Als Sylvies Ehemann ihr eines morgens ohne Erklärung entgegnet „Ich gehe“ und damit über das Leben beider entscheidet, schweigt sie. Sie nimmt den Entschluss ihres Mannes hin, hinterfragt nicht seine Gründe, klagt nicht und geht zur Arbeit. Wo einmal die Liebe war, die die ihrige erwidert hat, klafft nun gähnende Leere. In ihrer Tätigkeit bei Cagex sucht sie diese Leere zu füllen, gilt als rechte Hand des Chefs, Victor Andrieu, doch wird letztlich nicht als Mensch mit eigenen Bedürfnissen wahrgenommen. Sie dient folgsam und zuverlässig ihrem Vorgesetzten als „Resonanzkörper“, also als Bestätigung für dessen eigene Wirkungsmacht. Als die Firma in finanzielle Schieflage gerät, versucht Victor die Entscheidung über vorzunehmende Entlassungen auf sie abzuschieben und verlangt von ihr, die Mitarbeiterinnen, die sie liebevoll „meine Bienen“ nennt, zu bespitzeln und eine Liste zu führen, auf wen die Firma verzichten kann. 

Gegen ihren Willen fügt sie sich zunächst widerstands- und kommentarlos seinem Wunsch, doch das Aushorchen und Denunzieren nagt an ihr und lässt Sylvie aus ihrer Ohnmacht erwachen, als sie ihr Selbstbild hinterfragen muss, da das Böse nicht mehr nur außerhalb der inneren Festung zu lauern scheint. Victor habe ihre innere Wand zerstört, so Sylvie, 

die Wand, die niemand einreißen darf. Die Wand zwischen Gut und Böse. Früher stand ich auf der richtigen Seite. Ich war nicht perfekt, ich hatte meine Schwächen, aber ein reines Gewissen. Ich zog eine Linie, nein, ich ging auf einer geraden Linie, nicht auf den Abwegen, die zu abwegigen Zielen führen; ich ging auf der guten, geraden Geburt-Schule-Arbeit-Heirat-Familie-Linie, bis zum Tod, ohne allzu viel Schaden anzurichten. Aber du hast mich erpresst.

Den Methoden ihres Chefs, dessen willfähriges Werkzeug sie gegen ihre Überzeugung geworden ist, können weder Moral noch Gesetz Einhalt gebieten. Sie sieht in ihm einen „Typen“, der glaube, 

er stünde über allen, Männern und Frauen. Er erlaubt sich, auf ihnen herumzutrampeln, mit ihren Nerven zu spielen, sie zu demütigen, denn es ist immer eine Demütigung, an der Arbeit anderer zu zweifeln, und das macht alles nur noch schlimmer, da ist Gefahr im Verzug. Es sind vielleicht nur kleine Stiche, aber nach hundert kleinen Stichen krepiert man einfach.

Sylvies Entscheidung, zum Küchenmesser zu greifen und ihren Chef – schweigend – für eine Nacht in seinem eigenen Büro als Geisel zu nehmen, stellt den Wendepunkt der Geschichte dar. Er solle Angst spüren, Machtlosigkeit und Ungewissheit, vergleichbar mit den Ängsten seiner Angestellten, die sich stets vor der scharfen Klinge finanzieller Einschnitte ducken müssen, welche ihre Existenz bedrohen würden. Was oberflächlich als Kapitalismuskritik gelesen werden kann, ist für Sylvie ein psychischer Befreiungsschlag. Sie überwindet ihre Ohnmacht, ergreift die Initiative und dreht die Machtverhältnisse für zumindest eine Nacht um.

Als die Polizei sie am nächsten Tag von zu Hause abführt, verliert sie zwar die äußere Freiheit, erkämpfte sich jedoch die innere. Im Schutze der Mauern ihrer Gefängniszelle ist es ihr dann sogar möglich, sich mit ihrer Lebensgeschichte und dem sexuellen Missbrauch, den sie als junges Mädchen erlitt und der während der Lektüre manchmal unscharf angedeutet wird, schreibend auseinanderzusetzen. Der Roman selbst ist die Dokumentation dieser Auseinandersetzung, was rückblickend auch die sprachlichen Unterschiede erklärt, von den engen und knappen Hauptsätzen zu Beginn zu deutlich elaborierten und freieren Satzgefügen am Ende. Denken, Fühlen und Schreiben sind in Bouraouis Roman auf das engste miteinander verwoben und ermöglichen uns einen fühlbaren Perspektivwechsel, der zudem strukturelle gesellschafts- und systembedingte Ohnmacht- und Machtverhältnisse im Alltag offenlegt. 

Titelbild

Nina Bouraoui: Geiseln.
Aus dem Französischen von Nathalie Rouanet.
Salis Verlag, Zürich 2021.
160 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783906903163

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