Lettische Selbstbefreiung gegenüber deutscher Leitkultur
Der von Pauls Daija und Benedikts Kalnačs herausgegebene Sammelband „A New History of Latvian Literature. The long Nineteenth Century“ ist eine Herausforderung an die Germanistik
Von Rolf Füllmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie lettischen Literatur- und Kulturwissenschaftler Pauls Daija und Benedikts Kalnačs haben 2022 eine umfangreiche englischsprachige Darstellung mit dem Titel A New History of Latvian Literature herausgegeben, die den Weg dieser Literatur vom Ende des Aufklärungsjahrhunderts bis zum Fin de Siècle nachzeichnet. Der Band enthält gewichtige Beiträge lettischer Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen.
Ostmitteleuropa mit seinen Bloodlands (Timothy Synder) in Vergangenheit und Gegenwart gewinnt zurzeit eine neue Aufmerksamkeit. Ein „Eastern Turn“ in postkolonialen Diskursen ist vonnöten. Dies gilt angesichts der aktuellen kriegerischen Entwicklungen, des russischen Binnenkolonialismus in der Ukraine und seiner Zuarbeiter*innen im Westen, in Ostasien und im Süden von Wagenknecht bis Lula, aber auch wegen der deutschen Ostkolonisation vom Mittelalter bis zur mörderischen Großraumpolitik im Zweiten Weltkrieg.
Es ist naheliegend, in diesem Kontext das Baltikum in den Fokus zu nehmen. Die Kultur- und Literaturgeschichte des heutigen Lettlands ist hier ein besonders aufschlussreiches Feld. Gerade in der Germanistik mag es viele überraschen, dass es im langen neunzehnten Jahrhundert von der deutschbaltisch-lettischen Spätaufklärung um 1800 bis zur Moderne um 1900 fließende Grenzen zwischen der autochthonen und der deutschen Sprache und Kultur gab. Diese reichen von einer vielfältigen, ja massiven Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen und Lettischen bis hin zu einem weiten Feld literarischen Eigenschaffens lettischer Autor*innen. Diese Szenerie ist der Habsburger Westukraine im selben Zeitraum nicht unähnlich, etwa was heute längst etablierte Nationalautoren wie Ivan Franko (1856-1916) betrifft.
Es ist offensichtlich, dass die Entwicklung der lettischen Kultur in besagtem Zeitraum einen Zustand abbildet, den es so in Russland nur in den privilegierten Ostseeprovinzen gab. Im heutigen Lettland wurde die Leibeigenschaft durch die seit den Eroberungen der Ordensritter um 1200 dominierende deutschbaltische Oberschicht viel früher als anderswo im Zarenreich aufgehoben. So wurde sie 1817 in Kurland und 1819 in Livland abgeschafft. Die Gesetzgebung zur Bauernbefreiung brachte den Bauern persönliche Unabhängigkeit und erweiterte Rechtssicherheiten. Selbstverwaltungsinstitutionen wie Gemeinderäte entstanden. Die Bauern erhielten nun auch Familiennamen. Sie bekamen die Möglichkeit zum Landkauf. Aus dieser ehemals unterdrückten zumeist ländlich-bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit stieg im langen neunzehnten Jahrhundert eine neue Elite auf, die nach der hart erkämpften nationalen Unabhängigkeit der baltischen Staaten nach 1918 endgültig die Führung übernahm.
In ihrer historischen Einleitung zu A New History of Latvian Literature nehmen Pauls Daija und Benedikts Kalnačs zunächst einmal die methodischen Probleme heutiger Literaturgeschichtsschreibung in den Blick. Mit Bezug auf die lettische Situation wird darauffolgend unter Übernahme des deutschen Begriffs die Bedeutung der „Volksaufklärung“ um 1800 betont. Deutschbaltische Autoren, die auf Lettisch schrieben wie Gotthard Friedrich Stender (1714-1796) und sein Sohn Alexander Johann Stender (1744-1819), übernahmen eine Pionierfunktion in der Aufklärung der durch das Luthertum, etwa die Herrnhuter Brüder, bereits teilweise alphabetisierten lettischen Landbevölkerung. Die lettische Übersetzung der Novelle Das Goldmacherdorf des im deutschen Sprachraum ungemein erfolgreichen liberalen Theologen und demokratischen Wahlschweizers Heinrich Zschokke (1771-1848) half dabei, die protestantische Erwerbsethik endgültig unter den Lett*innen zu etablieren. Die ganze Breite der deutschsprachigen Literatur wird dann im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dem sich mit den Jungletten auch eine Nationalbewegung formiert, ins Lettische übersetzt, allen voran Schiller, Goethe und Heine.
Im weiteren Verlauf der Gesamtdarstellung stellt Pauls Daija die Bedeutung der deutsch-baltischen literarischen Gesellschaften bei diesem Prozess vor, während Aiga Šemeta die Relevanz des sich formierenden lettischen Zeitungswesens bei der nationalen Selbstfindung nachzeichnet und Mārtiņš Mintaurs das „Biedermeier“ in Lettland, das dort so heißt wie hier bei uns, und seine häusliche Lesekultur vorstellt. Dass zur Herausbildung dieser Alltagskultur eine kulturprotestantisch fundierte „Reading Revolution“ notwendig war, erscheint naheliegend. Am Ende des Jahrhunderts war die lettische Bevölkerung zu 85% literarisiert, im Vergleich dazu die Russlanddeutschen zu 78,5% und das russische Staatsvolk zu 29,3%. Pauls Daija widmet dieser Entwicklung einen entsprechenden Beitrag. Den Mustern der deutschen Romantik folgen zugleich auf lettischer Seite die von Mintaurs geschilderte Genese nationaler Identität und die von Ginta Pērle-Sīle hervorgehobene Bedeutung der Volkskunst bei literarischen Prozessen. Epen und Volkslieder spielen wie schon bei Herder, einem der ersten Sammler lettischer Lieder, in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle. Dass sich an diese auch von der Sammeltätigkeit der Brüder Grimm inspirierten hoch- und spätromantischen Tendenzen die Etablierung des realistischen Romans, zunächst noch mit ländlichen Sujets, anschließt, ist nur folgerichtig. Benedikts Kalnačs geht dieser literarischen Tendenz nach. Gleichzeitig etabliert sich mit ersten Kunstausstellungen in der Metropole Riga eine lettische Kunstszene, deren Formation die Kunsthistorikerin Kristiāna Ābele mit prägnanten Abbildungen wiedergibt. Mit der Moderne halten dann nicht nur eine Vielzahl literarischer Zeitschriften, sondern auch der ebenfalls aus dem deutschen Sprachraum kommende Marxismus Einzug in die lettische Bildungselite. Inguna Daukste-Silasproģe stellt im Folgenden heraus, dass bis zum Epochenbruch von 1914 selbst Übersetzungen russischer Klassiker ins Lettische oft aus dem Deutschen erfolgten. Dass Hauptvertreter der lettischen Literatur um 1900 wie Rūdolfs Blaumanis (1863-1908) und Rainis (eigentlich Jānis Pliekšāns, 1865-1929) ihre Hauptwerke selbst auf Deutsch schrieben oder ins Deutsche übersetzten, sei dabei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Wenn die Germanistik in Zukunft ihren Horizont in die transkulturellen Gebiete Mitteleuropas von der Westukraine bis ins Baltikum ausweiten sollte und diesen Kulturräumen auf Augenhöhe entgegenträte, könnten sich weite und ergiebige Betätigungsfelder neu eröffnen. Der Band von Pauls Daija und Benedikts Kalnačs hat das Potenzial, eine gewichtige Hilfe auf diesem Weg zu neuen Ufern zu sein.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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