Bachmann-Preis 2023 – Tag 3
Der dritte Lesetag endet ohne große Überraschungen
Von Bozena Badura
Wie an den vergangenen zwei Tagen wurden auch am dritten Lesetag vier Texte vorgetragen, doch nicht alle konnten die Jurorinnen und Juroren gleichermaßen begeistern. Jetzt sind alle zwölf Texte des diesjährigen Wettbewerbs bekannt. Die Jury hat sich über die eingereichten Geschichten mehr oder minder kontrovers ausgetauscht und kann sich nun zurückziehen, um über ihre Favoriten nachzudenken. Nun gilt es abzuwarten, welcher der Texte morgen in Klagenfurt zum Bachmannpreis-Gewinner ernannt wird.
Doch bevor dies passiert, kommen wir noch zu den vier letzten Texten.
Den dritten Lesetag eröffnete Yevgeniy Breyger, der auf Einladung von Insa Wilke der Jury seinen Text Die Lust auf Zeit präsentierte. Der Text beginnt, als wäre man bereits mitten im Gespräch, mit einem sehr interessanten Satz: „Apropos Gesicht.“ Wir begegnen einem Protagonisten, der sich im Wartezimmer eines Krankenhauses befindet und beabsichtigt, seinen Vater zu besuchen, der dort nach einem Schlaganfall behandelt wird. Doch bevor die Erzählung ihr Ende erreicht und der Sohn es wagt, in das Krankenzimmer einzutreten, erfahren wir einige Informationen aus der Familiengeschichte. Viele Themen liegen zwischen den Zeilen verborgen, etwa die Beteiligung des Großvaters am Krieg oder vererbte Traumata. Der Ich-Erzähler versucht, sich von sich selbst zu distanzieren. Hierfür spricht er sein Spiegelbild mit „du“ an, wird am Ende auf den bloßen „Körper“ reduziert, verliert das Zeitgefühl bzw. versucht, die Zeit bis zur Begegnung mit dem Vater auszudehnen. Ist es die Angst vor dem Zusammentreffen, die ihn zurückhält? Diese Frage bleibt offen.
Gelobt wurde an dem Text z.B. der Umgang mit den Motiven Zeit und Gesicht, doch es gab auch einige Kritikpunkte. So war es für Thomas Strässle unklar, was nun die Entscheidung, das Krankenzimmer des Vaters zu betreten, für die Figur bedeute. Für Klaus Kastberger war es dennoch ein in höchstem Maße poetologischer Text, in dem die Zeit die Narration bestimmt und der sich hervorragend für literaturdidaktische Zwecke eignen würde. Und während der Text Philipp Tingler überhaupt nicht erreicht haben soll, lobt Insa Wilke die Darstellung der Hilfslosigkeit der Sprache angesichts der Situation. Der Text sei ein Versuch, einen Halt zu finden, behandele die Frage „Was ist ein Mensch?“ und arbeite hervorragend mit den Metaphern Raum und Zeit. Brigitte Schwens-Harrant attestierte dem Text einen raffinierten Umgang mit der Zeit, auch wenn ihr der Text an einigen Stellen doch zu erklärend vorkam. Zusammenfassend fiel das Urteil der Jury durchwachsen aus. Dennoch würde sich ein erneuter Blick auf diesen Text sicherlich lohnen, vielleicht dann mit mehr Zeit und Geduld.
Bei der zweiten Lesung gehörte die Bühne Mario Wurmitzer, der auf Einladung von Philipp Tingler seinen Text Das Tiny House ist abgebrannt präsentierte. Wie es nach dem Vorstellungsvideo des Autors zu vermuten war, wohnt der Ich-Erzähler dieses Textes in einem Tiny House. Es ist sein Job, potenziellen Kunden zu vermitteln, wie gut es sich in einem solch kleinen Haus leben lässt. Dabei kann er rund um die Uhr über Kameras und durch soziale Netzwerke beobachtet werden. Seine ungewöhnliche Arbeitszeit nutzt er, um ein Buch über Rainald Goetz zu schreiben. Doch bald brennen einige der Muster-Tiny-Häuser ab und als er sich dafür entscheidet, das Private für sich zurückzugewinnen und die Kameras abschaltet, wird er aus seiner Behausung ohne ein Wort rausgeworfen. So lässt sich der Roman nicht nur als eine Geschichte über Marketingkampagnen von Unternehmen lesen, sondern auch als eine Satire auf das Influencer-Leben. Denn Wurmitzers Text rekurriert auf viele aktuelle Themen aus dem Bereich Content Creation sowie den herrschenden Zwang, das private Leben durch die sozialen Kanäle zur Schau zu stellen.
Die Jury hat dieser Text allerdings kaum erreicht. Welche Gründe es dafür gibt, ist an dieser Stelle nicht zu erraten, aber womöglich sind es fehlende Referenzen und ein unzureichender Einblick in die Sozial-Media-Kultur. Denn die Diskussion der Jury konzentrierte sich hauptsächlich auf die obere Textebene und driftete hin und wieder zu den im Text benannten Autoren wie Rainald Goetz und Clemens Setz ab. Es ist schade, dass alles, was am Ende von dieser Geschichte übrig zu bleiben scheint, die Worte derjenigen sind, die in den Text hineingearbeitet wurden.
Nach der Pause forderte Laura Leupi die Jury wie auch das Publikum mit dem Text Das Alphabet der sexualisierten Gewalt heraus. Sie las auf Einladung von Thomas Strässle. Ihr vielschichtiger und höchst performativ vorgetragener Text behandelt nicht nur schwierige, sehr tabuisierte Themen wie sexualisierte Gewalt und den Umgang mit diesem Thema, sondern forderte das Publikum durch eine direkte Ansprache heraus, Position zu beziehen. Der Text verfügt über zwei textuelle und eine performative Ebene. Den äußeren Rahmen bildet ein Alphabet, wobei jedem Buchstaben mehrere Begriffe zugeordnet werden. Zum Beispiel: „A steht für Angst, die uns anerzogen wird: Angst vor dem öffentlichen Raum, Angst vor Sex, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Fremden, Angst vor der Angst.“ Zwischen der alphabetisch angeordneten Aufzählung gibt es kurze, zunehmend surrealistisch gestaltete Textminiaturen, in denen zunächst ein Raum beschrieben wird, in dem sich Schimmel verbreitet. Dieser Raum erweitert sich im Lauf der Erzählung zu einer Wohnung, in der nach und nach auch verschiedene Figuren ihren Platz finden.
An zwei Stellen wird das Publikum direkt aufgefordert, das soeben Gehörte zu reflektieren: „Welches Bild haben Sie sich in der Zwischenzeit von mir gemacht?“ Einige Minuten später folgte eine weitere Frage: „Wie sehen Sie mich, jetzt, da Sie wissen, dass ich vergewaltigt wurde?“
Die performative Ebene, die zwischen Beobachten und Beobachtetwerden, zwischen Urteilen und Verurteiltwerden oszillierte, glich einem Verhör. Indem Laura Leupi viele der Textstellen nicht vorgelesen, sondern das Publikum, die Jury anschauend (oder direkt in die Kamera blickend) frei vorgetragen hat, erhielt diese Lesung eine ungewöhnliche Authentizität.
In der Jurydiskussion wurde schnell klar, dass es der traditionellen Literaturkritik am Instrumentarium fehlt, um einem solchen Text auf der sachlich-formalen Ebene zu begegnen. Die thematische Ebene blieb daher weitegehend unbehandelt, und die Diskussion konzentrierte sich auf den Textaufbau, die Funktion von Listen und Aufzählungen in literarischen Texten. Die Jury verstand den Text als einen Versuch, eine geeignete Sprache für das Unsagbare zu finden. Wobei auch über eine „unfreiwillige Ironie“ (Philipp Tingler) gesprochen wurde. Die Diskussion endete mit einem Statement der Juryvorsitzenden, Insa Wilke, die konstatierte, dass Begriffe wie Körper, Empathie oder Ethik noch keinen ausreichenden Eintritt in die Literaturkritik gefunden hätten.
Als letzter Text des Wettbewerbs wurde Damit du sprichst von Deniz Utlu präsentiert, der ebenfalls von Thomas Strässle ausgewählt wurde. Der Autor erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte über einen Jungen türkischer Abstammung, dessen Vater einen Schlaganfall erlitten hat. Die Mutter muss sich nun sowohl um die Pflege des Vaters, der seit dem Schlaganfall nur mit den Augen kommunizieren kann, als auch um die Erziehung des heranwachsenden Sohnes kümmern. Die Geschichte endet mit dem Wunsch des Ich-Erzählers, nach Berlin zu ziehen und Schriftsteller zu werden.
Die Jury lobte die feine Ausarbeitung der Geschichte, die Vorbilder und Identifikationsmöglichkeiten schafft (Insa Wilke) und verlagert die Diskussion schnell auf die Umsetzung von „Sprache“ in dem Text. Es wurde beobachtet, dass die Sprache hauptsächlich auf der Figurenebene verhandelt wird (Insa Wilke), wobei der Text in einer durchgängigen Sprachtonalität und im gleichbleibenden Sprachregister vereharrt (Mara Delius). Dabei ginge es in dem Text auch um das Verstehen, so Thomas Strässle. Zudem wurde erneut die Frage nach der Konventionalität aufgegriffen – wie bereits auffällig oft während des gesamten diesjährigen Wettbewerbs. Abschließend ließ sich die Jury zu einem Vergleich mit einem thematisch ähnlichen Text des Wettbewerbs (von Martin Piekar) verleiten und thematisierte die unterschiedliche Gestaltung beider Texte.
So verlief der dritte Tag des Wettbewerbs ohne größere Überraschungen, weder im Bezug auf die eingereichten Texte noch in Bezug auf die Jurydiskussion. Nun bleibt nur abzuwarten, welcher Text sich bei den jeweiligen Jurorinnen und Juroren durchsetzen wird. Spannend bleibt auch die Frage, welcher der Texte den Publikumspreis gewinnen wird.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen