Frühkapitalistische Verwertungsmaschine
Marcus Rediker beschreibt den transatlantischen Sklavenhandel anhand seines zentralen Werkzeugs: „Das Sklavenschiff“
Von Walter Delabar
Die Forschungen zum transatlantischen Sklavenhandel haben in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen, für den deutschsprachigen Raum nicht zuletzt deshalb, weil mittlerweile die postkolonialen Denkansätze etwa aus den USA auch hier verstärkt wirken. Das führt dazu, dass auch ältere Publikationen aus dem angloamerikanischen Raum ihre Übersetzungen erhalten. So die beeindruckende Studie des amerikanischen Historikers Marcus Rediker über das Sklavenschiff, die bereits aus dem Jahr 2007 stammt.
Rediker nennt seine Studie im Untertitel eine „Menschheitsgeschichte“, was darauf abzielt, dass der transatlantische Sklavenhandel bei der Etablierung der großen Kolonialreiche ebenso eine große Rolle gespielt hat wie bei der Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsformen und des internationalen Handelssystem, wie wir es heute kennen. Dabei habe, so Rediker, das Sklavenschiff eine zentrale Rolle übernommen, eben nicht nur als Transportmittel, sondern auch als demonstratives Machtmittel europäischer Dominanz und als Schnittpunkt verschiedener Praktiken, in deren Mittelpunkt die Anhäufung von Macht und Kapital in den Händen der europäischen Eliten stand. Ohne Sklavenschiffe hätte es, wenn man Rediker folgt, weder Sklavenhaltergesellschaften auf dem amerikanischen Kontinent gegeben noch ein britisches Kolonialreich; mehr noch, die moderne westliche Welt, ja der Kapitalismus wird mit dem transatlantischen Sklavenhandel begründet.
Das Sklavenschiff stand dabei am Schnittpunkt verschiedener Disziplinierungs- und Zurichtungspraktiken, die vordergründig dazu dienten, Menschen auf dem afrikanischen Kontinent zu versklaven, sie zu den westindischen Inseln zu transportieren, um sie an die dortigen Plantageneigner zu veräußern, die mithilfe der Sklaven höchst lukrative Agrarindustrien aufbauten. Im Gegenzug transportierten die Sklavenschiffe von den westindischen Inseln eine Reihe von Produkten zurück nach Europa, nicht zuletzt Zucker.
Auf diese Weise wurden internationale Handels- und Wirtschaftsbeziehungen geknüpft, die profitabel, aber auch sehr riskant waren. Allein auf Seiten der Sklaven forderte der Handel, dessen zentrale Ware sie waren, mehrere Millionen Menschenleben. Hinzu kam die hohe Sterblichkeit bei den Seeleuten und die relativ hohen Verluste beim Material, den Schiffen und den sonstigen Waren. Was nicht nur ein moralisches Problem aufwarf, sondern – systemintern gedacht – auch den Verlust von großen Teilen des Kapitaleinsatzes bedeutete. Darüber hinaus jedoch beschreibt Rediker das Gesamtsystem des Sklavenhandels als Zurichtungssystem, das über einen engmaschig funktionierenden Gewaltapparat die Beteiligten in jeweils abgestimmte Rollen- und Verhaltensmuster zwang. Das betraf die Sklaven, die aus ihren angestammten sozialen Kontexten gerissen, in fremde und willkürlich zusammengestellte neue Kontexte überführt wurden (die Fracht des Sklavenschiffs), dort auf engstem Raum und unter extremen Bedingungen die Überfahrt zu den westindischen Inseln absolvierten, um dann in der Neuen Welt in den Plantagenökonomien „verbraucht“ zu werden.
Aufschlussreich ist allerdings, dass die spezifischen Bedingungen des Sklavenhandels zugleich die Grundlagen der afroamerikanischen Kultur gelegt haben, die dann im 20. Jahrhundert eine so ungeheure Wirkung haben sollte. Die gesamte populäre Musik der Gegenwart basiert zum Beispiel auf der afroamerikanischen Kultur, die unter anderem durch die Sklaverei bestimmt wurde. Dass Rediker einerseits die Herkunftsgesellschaften, andererseits die afroamerikanische Kultur als Kulturen von unten idealisiert, als solidarisch, multiperspektivisch und egalitär, mag man ihm dabei nachsehen.
Auch andere soziale Gruppen wie die Seeleute selbst mussten ihrerseits spezifische Verhaltensmuster und Rollen adaptieren, um im Sklavenhandel zu reüssieren. Sie waren nicht nur Seeleute, sondern mussten als Wachpersonal herhalten oder wurden zu Disziplinierungsmaßnahmen herangezogen. Darauf waren sie nicht vorbereitet, wie das typische Persönlichkeitsprofil zeigt, das Rediker in seiner Studie von Matrosen, die er Teerjacken nennt, entwickelt. Was dazu führte, dass sie ebenfalls Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt waren.
Die Anforderungen des Sklavenhandels wirkten gar bis in dessen Spitzenpositionen hinauf: Die Kapitäne ihrerseits mussten in diesem System eine Vielzahl komplexer Aufgaben übernehmen, nicht zuletzt als Handlungsbevollmächtigte der Kaufleute, die in den Sklavenhandel investiert hatten. Sie mussten nicht nur die Schiffe auf den riskanten Fahrrouten befehligen, sie hatten zudem die ‚Ware‘, d. h. die Sklaven einzukaufen, sie zu transportieren, zu bewachen, zu disziplinieren, am Leben zu halten, auf den Verkauf vorzubereiten und schließlich auch zu veräußern, von der Anforderung, mit Rückfracht an den Ursprungsort in Großbritannien zurückzukehren einmal abgesehen. Die Gewalt, die sie dabei gegenüber den Sklaven und Mannschaften ausübten, über die sie gleichfalls absolute Gewalt hatten, ist in diesem Kontext – und das heißt im Kontext einer weitgehend undisziplinierten, wenig selbstgesteuerten, dabei extrem gewaltbereiten Gesellschaft auch in Europa – weniger als spezifische individuelle Gewaltaffinität zu sehen, sondern als systeminternes Handlungsmuster.
Wir neigen dazu, die Exzesse, von denen Rediker einige zu referieren weiß, als subjektive Übertreibungen und Extreme zu bewerten, die moralisch verwerflich sind. Die exzessiven Straforgien, bei denen Sklaven wie Matrosen verstümmelt wurden, werden auch den sadistischen Neigungen der tyrannischen Kapitäne zugeschrieben. Innerhalb der auch von Rediker mitgeteilten Berichte jedoch geraten solche Extreme vor allem dann ins Gerede, soll heißen wurden öffentlich kritisiert, wenn sie ihr Ziel, die Disziplinierung von Mannschaften und Sklaven, nicht erreichten. Der Aufstand von Sklaven oder Matrosen ist auch als spezifisches Versagen der Kapitäne als zentrale Akteure zu verstehen. Auch die Unterbringung der Sklaven auf den Transportschiffen ist erst im Kontext funktional: Auch wenn die Unterbringung in Decks, in denen sich die Sklaven bestenfalls hockend aufhalten konnten, die schlecht belüftet waren und eng belegt, auf den ersten Blick das „Verlustrisiko“ erhöhte, war sie doch zum einen eine der Bedingungen für eine rentable Fahrt und lässt sie sich zum anderen auch als primäres Disziplinierungsinstrument interpretieren.
In diesem Zusammenhang sprechen die hohen Verluste eigentlich dem transatlantischen Sklavenhandel ein Armutszeugnis aus, wenn denn nicht die ursprünglichen Ziele, die Erwirtschaftung hoher Gewinne, und die Etablierung interkontinentaler Wirtschafts- und Machstrukturen, in der Tat erreicht worden wären.
Redikers Schrift taucht tief in die historischen Berichte zum Sklavenhandelt im Dreieck Großbritannien – Afrika – Westindische Inseln ein. Das führt Leser und Leserinnen nah an die historische Gewalt heran, die mit dem Sklavenhandel verbunden ist. Das ist erschreckend und löst zugleich Empörung aus, zumal auch im Sklavenhandel jene moralinen Rechtfertigungsversuche zu finden sind, mit denen Europäer noch jede Grausamkeit rechtfertigten.
Dass Rediker das detailliert vorführt und auswertet, macht eben die besondere Stärke seiner Studie aus. Abstriche ließen sich höchstens deshalb machen, weil Rediker aufgrund seiner Quellennähe Widersprüche entweder nicht bemerkt oder unkommentiert hinnimmt. Auch hat er Quellen, insbesondere dann, wenn es sich um literarische Quellen handelt, nicht auf deren strategische, mithin rhetorischen Elemente hin gelesen, sondern sie vor allem inhaltlich ausgewertet. Schließlich geraten ihm in die Abhandlung immer wieder moralische Urteile, deren Basis das heutige Rechtsempfinden ist. Keine Frage, auch im Urteil der Zeitgenossen waren die Gewaltexzesse auf den Sklavenschiffen mit Sicherheit verwerflich. Die Abolitionsbewegung hatte es zentral auf diese Extreme abgesehen. Aber sie waren „gängiger“ als wir uns heute vielleicht eingestehen.
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