Haruki Murakamis Rotschläppchen
„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ offeriert eine Psycho-Märchenwelt
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seinem aktuellen Roman führt Haruki Murakami das „Murakami-Prinzip“ dem Gipfel zu. Die Anwendung der von ihm über lange Zeit angewandten Themen und Kompositionsprinzipien erzeugt eine Endform, die all ihre Möglichkeiten zur Geltung bringt, die jedoch zugleich einen Kipp-Punkt erreicht, ab dem sich die Kunst des Meisters aufzulösen beginnt und in die finale „Superflatness“ zerfließt.
Ein neues Doppelweltenspiel
Wie es Murakami im Nachwort zu Die Stadt und ihre ungewisse Mauer (jap. Machi to sono futashika na kabe, 2023) erklärt, sei der Ursprung des Romans eine 100-seitige Erzählung, die er 1980, zwei Jahre vor seinem erfolgreichen Debütwerk Wilde Schafsjagd, veröffentlichte. Er habe dann erst vier Dekaden später, Anfang 2020, wieder an dem Stoff gearbeitet, um dem ersten Teil noch einen zweiten und dritten hinzuzufügen.
Der vorliegende Text enthält sämtliche Kernelemente seines Schaffens. Wie in den Vorgängerwerken kommt in der „Stadt“ eine Parallelwelt zum Tragen, wobei diese etliche Anspielungen auf andere, bekannte Entwürfe phantastischer Literatur beinhaltet: Der Weg in eine seltsame Stadt mit merkwürdigen Gestalten (Kafka, Hofmannsthal), der Verlust des Schattens (Chamisso, Anderson), die Bibliothekserfahrung (Borges) oder die Begegnung mit einem charmanten Geist (Wilde).
Als sein zentrales Motiv behauptet sich auch hier die Suche nach einem sehnsuchtsvoll erinnerten Mädchen. Diese femme fragile in ihren „flachen roten Sandalen“, deren sommerliches Bild er nie vergessen konnte, traf der Protagonist im Alter von siebzehn, das Mädchen war ein Jahr jünger. Prägend für die Begegnung war der innige Gedanken- und Briefaustausch. Man erschafft eine gemeinsame geheime Phantasiewelt, eben die Stadt mit den ungewissen Mauern, von der die junge Frau berichtet. In ihr gibt es eine Bibliothek mit „alten Träumen“ in Ei-artigen Kapseln, den Torwächter und die bewegliche Begrenzung. Bevor einem Menschen Zugang gewährt wird, muss er seinen Schatten abgeben.
Die Schulzeit des Jungen neigt sich dem Ende zu, seine Gefährtin zieht sich plötzlich zurück, bleibt schließlich unauffindbar. Der junge Mann siedelt nach Tôkyô um und ergreift nach Abschluss des Studiums einen Brotberuf im Buchhandel. Da er die Literatur schätzt und sprachlich begabt ist, hatte er sich bei Verlagen beworben, wurde aber nie ausgewählt. Er fügt sich gut in den Betrieb ein, lebt jedoch ohne große Begeisterung und ohne feste Bindung. Mit fünfundvierzig gerät er in eine mentale Krise. Seine Phantasie führt ihn nun in jene rätselhafte fluide Sphäre seiner Jugend, die Stadt. Er überlässt seinen Schatten dem Torwächter, verrichtet eine Arbeit als Traumleser in der Bibliothek und trifft auf das Mädchen, das ihn – wie damals vorausgesagt – nicht mehr erkennt. Der Schatten wird, je länger der Aufenthalt in der Anderswelt dauert, erschöpfter und schwächer. Um ihn zu retten, plant der Mann wieder in die (sogenannte) Realität zurückzukehren, was letztlich auch geschieht.
Teil zwei des Buchs beschäftigt sich mit der Situation nach der Anderswelterfahrung. Augenscheinlich zurück im Alltag, will der Protagonist sein Leben ändern. Er kündigt und tritt in einer privaten Provinzbibliothek in der Präfektur Fukushima eine Bibliothekarsstelle an. Vier wichtige Kontakte pflegt er in dieser Phase. Es handelt sich um Frau Soeda, die gewissenhafte Sekretärin der Einrichtung, um den Geist Koyasu, den ehemaligen Direktor, den Jungen M** mit Inselbegabung sowie um die sympathische Chefin eines Coffeeshops, den er öfters aufsucht.
Schlemihl, Pinocchio, und das Ich des M**
Ob die Orte und Geschehnisse, die der Protagonist in seiner Rolle als Bibliothekar schildert, die Realität abbilden, bleibt zu bezweifeln. Man kann vielmehr annehmen, dass der einsame Mann in mittleren Jahren einen Unfall erlitten oder einen Selbstmordversuch unternommen hat und im Koma liegt, möglicherweise in einen andauernden Wahnzustand verfallen ist. Die Dialoge mit Direktor Koyasu und den anderen Personen würden sich demnach nur in seinem Kopf abspielen. Entsprechende Hinweise gibt der Text, fast schon aufdringlich. Etwa wenn es im Gespräch mit den beiden älteren Brüdern des autistischen Jungen heißt, die Mauer, die die Stadt umschließt, sei das Bewusstsein einer Person und dass der Weg dorthin den Zugang zum Unbewussten bedeute. Auch die Schatten haben eine Funktion als Persönlichkeitsanteile inne. Der Schatten der Hauptfigur bietet im ersten Kapitel des Romans eine erfrischende Alternative zu seinem übermäßig von dem ominösen Rotschläppchen besessenen Inhaber.
Manche Fingerzeige lassen also den Schluss zu, die Handlungssequenzen stellten psychische Prozesse einer Ich-Repräsentanz dar, die sich aus diversen männlichen und weiblichen Akteuren zusammensetzt. So würde das Mädchen mit den roten Sandalen die Anima des Protagonisten verkörpern, der Savant den Wunsch, sich unendliches Wissen anzueignen, mit dem aber die Gefahr der Selbstisolation einhergeht. Koyasu, dessen Frau und Sohn einen unglücklichen Tod fanden, wäre wiederum eine gealterte und „tote“, d.h. nicht realisierte Version des Ich, dem es bis ins hohe Alter nicht gelungen ist, die Anteile des Jungen und der scheuen Seelenschwester in sich zu vereinen; als Anzeichen dieser misslungenen Adaption trägt Koyasu einen Rock und Strumpfhosen.
Belege für die Aufgabe des Ich, den alchemistischen Prozess der Ganzwerdung in seinem Inneren zu vollziehen, lieferten das Motiv der Schatten sowie die Beschreibung des abgespaltenen Jungen-Aspekts in Form der an Pinocchio erinnernden Holzpuppe. Der Protagonist entdeckt sie in einer Gerätekammer – eine recht unheimliche Szene, in der er in der Puppe M**s „abgeworfene leere Hülle“ erkennt. Partiell lesen sich Passagen des Romans wie Auszüge aus Horrorgeschichten oder lassen an einschlägige Videospiele denken. Düsteres dominiert weite Strecken des Erzählten. Als nachhaltig irritierende Szene wäre z.B. der Selbstmord von Koyasus Frau zu nennen, auf deren leerer Bettstatt nur zwei einsame Lauchstangen zurückblieben.
Psychoedukation und Phallophobie
Es ist unverkennbar, dass der Autor im aktuellen Werk auf das psychoanalytische Schema zurückgreift. Insofern verfährt Murakami nach bewährtem Muster. Zuletzt hatte er das Modell zur Interpretation des menschlichen Seelengefüges, das vom Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875-1961) entworfen wurde, in der Anthologie Erste Person Singular (2020) zur Anwendung gebracht. Über sein Interesse an den Theorien von C.G. Jung ist man in literatur- und japanwissenschaftlichen Fachkreisen seit längerem informiert. Weite Kreise hat dieses Wissen allerdings noch nicht gezogen – wohl weil es den Romancier aus Japan doch bis zu einem gewissen Grad entzaubern würde. Wer möchte mit der Erkenntnis konfrontiert werden, der Lieblingsschriftsteller konstruiere seine Plots um die inzwischen aus der Mode gekommene, zuletzt bei Alt-Esoterikern populäre Lehre von den Archetypen des menschlichen Bewusstseins?
Besonders hartnäckig hängt Murakami dem Anima-Schema an. Das verlorene sensible Mädchen erscheint in der „Stadt“ als die veritable Heroine eines Psycho-Märchens für den älteren Herrn. Das charakteristische Merkmal der Maid ist die Furcht vor dem Sexuellen. Die Iteration der jungen Frau, die Besitzerin des Coffeeshops, hat diese Eigenschaft übernommen. Sie schützt ihren Körper per Korsett und kann „keinen Geschlechtsverkehr zulassen“, während sich der Held vor allem in seiner Jugend hinsichtlich der ihm eigenen triebgesteuerten Sexualität mit ihren hygienischen Entgleisungen (befleckte Unterwäsche) und ihrer aggressiven Note schämt: „Mein erigierter Penis fühlt sich grässlich an in den engen Jeans“. Metaphern des Schwellens, des zustoßenden Horns oder des Bisses (der Junge beißt bei seiner Vereinigung mit dem Protagonisten-Ich ins Ohr des Helden) weisen auf die phallische Komponente hin, welche gebändigt werden muss. Im übertragenen Sinne beschwört diese Konstellation das Idealbild des Murakami-Helden. Es ist ein Mann, der eine funktionierende Verbindung zu seiner Emotionalität sucht und in einer Beziehung jede „toxische Männlichkeit“ meiden möchte. Jenseits der Begierde bemüht er sich treuherzig um ein angemessenes Wissen über die weibliche „Psychologie und Physiologie“. Mit diesem (das Weibliche seinerseits in klischeehafte Alteritäten fassenden) Ideal einher geht die Integration der Anima in den psychischen Apparat des Mannes sowie im Weiteren seine Öffnung für die Poesie, respektive die kultivierteren Neigungen des menschlichen Wesens.
Weltliteratur Marke KI?
Fans von Murakami dürfte auch dieses Opus nicht enttäuschen. Nimmt man an der Bezeichnung Unterhaltungsliteratur für den „großen“ Roman keinen Anstoß, wäre festzuhalten, der Autor hat geliefert wie bestellt, seine Pflicht als weltliterarischer Vertreter der japanischen Literatur ohne Not – per Umfangsstärke und Nachwort – sogar übererfüllt. Als Highlights sind exzentrische Figuren wie Koyasu zu würdigen, ebenso manch eindrucksvoll erzählte Szenen (die Schattendialoge, die Holzpuppe, die Lauchstangen). Auch amüsante Episoden und witzige Anspielungen (M**: eventuell ein Kürzel für seinen Schöpfer Murakami; literarische Ambitionen: das prämierte Erstlingswerk des jungen Ich-Erzählers ist eine der gegenwärtig populären Katzengeschichten) wären hervorzuheben.
Auf der anderen Seite kann man sich nach der Lektüre der 630 Seiten in deutscher Übersetzung des Eindrucks einer gewissen Banalität und Beliebigkeit nicht erwehren. Das Leitmotiv des Mädchens vermag kaum zu fesseln, die sexualphobischen Exkurse wirken sehr artifiziell. Eher ermüdend: Die Wiederholung von Motiven wie Einhörner, Uhrturm, Apfelkuchen, grüne Bekleidung, weiße Blusen, blaue Röcke und Blaubeermuffins. Manche der eingestreuten Bemerkungen und Querverweise fallen unter die Rubrik Effekthascherei. Die Nennung von Anne Franks Tagebuch und Armbinden mit Hakenkreuzen erzeugt keine historische Tiefendimension. „Fukushima“: Hier sicher mehr ein „Muss“ als eine ernsthafte Message. Ebenso wenig authentisch muten verstreute Einwürfe (Arbeiterviertel, Fabrik) an, die man mit dem Label „Working Class Hero“ assoziieren mag – eingedenk dessen, dass der Text sich ausführlich (und meist in positiver Konnotation) der Schilderung bürgerlicher Kultur und ihres Inventars widmet. Gefühlt hatten selten so viele Tassen, Teekannen und Porzellanunterteller ihren Auftritt in einem Gegenwartsroman. Obschon sein interner Sprecher das Postmoderne halbwegs dementiert, pflegt der Autor die Zitation: Über die Erwähnung westlicher Werke (u.a. von Dostojewski, Flaubert, Thomas Mann, García Márquez, Conan Doyle und Agatha Christie) hinaus wird eine Reihe japanischer Autoren (etwa Ango Sakaguchi, Nobuko Yoshiya, Ogai Mori, Tanizaki und Ôe) genannt.
Dass Die Stadt und ihre ungewisse Mauer auch ein Bücherroman ist, spiegelt einen Trend innerhalb des Bestsellermarkts wider. Das Medium bekräftigt seine Existenz und baut auf den behaglichen Retrocharme, den das Motiv der (computerfreien) Bibliothek versprüht. Dem Bestsellerformat entspricht spätestens seit Sophies Welt zudem die Anmutung philosophischer Tiefe: Das tragende Thema der „Stadt“ ist – wen wundert es – die Einsamkeit eines Mannes in mittleren Jahren, der sich nie seine Wünsche erfüllt hat und sich mit der Endlichkeit des Daseins konfrontiert sieht. Er gönnt sich eine Auszeit aus der öden Lebenssimulation. Während einer Traumkur, so scheint es, holt er die psychische Reifung nach und wagt den Sprung in eine andere Bewusstseinsstufe.
Wie bereits eingangs subsumiert, gelingt Murakami die Erweiterung einer kürzeren Erzählung nur auf Kosten der für seine Kurzgeschichten verbürgten Prägnanz und Originalität. Indem er sich ganz dem Prinzip der modularen Amplifikation überantwortet, beeinträchtigt er die Kraft seiner poetischen Potenz. Mit anderen Worten: Wenn der Schriftsteller offenbar mehr und mehr Content für die gängige Sparte Weltliteratur produziert, läuft er vielleicht Gefahr, bald durch eine auf die Marke Murakami programmierte KI ersetzt zu werden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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