Das Ende des Lesens, wie wir es kannten?

Florian Rötzer legt mit „Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“ eine kurzweilige Kulturgeschichte des Lesens vor, die vielfach den Blick über den philologischen Tellerrand wirft

Von Lucas AltRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lucas Alt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lesen kann vieles bedeuten – darauf verweist der Journalist Florian Rötzer bereits auf den ersten Seiten seiner interdisziplinär angelegten Geschichte dieser Kulturtechnik:

[W]ir müssen eigentlich fortwährend und überall lesen, um uns in der modernen Welt zurechtzufinden, die viele Arten von Schriftkundigkeit, nicht nur in alphabetischer Schrift, voraussetzt: Formulare, Preis- oder Namensschilder, Bedienfelder von Maschinen, Verkehrszeichen, Wegmarkierungen, Bedienungsanweisungen, Angaben über Inhalte oder Bestandteile von Produkten, Karten, Menüs von Programmen, Münzen und Scheine, Uhren und Thermometer etc., [aber auch] Gestik und Mimik unserer Mitmenschen, d[ie] Vielzahl von Formen, Spuren, Farben und Bewegungen der natürlichen Welt.

In seinen weiteren Ausführungen beschränkt sich Rötzer dann aber doch auf eine eher enge Auslegung eines hier noch als sehr weit skizzierten Lesebegriffs, was sich zugleich als Stärke des Texts, letztlich aber auch als zentraler Kritikpunkt erweist.

Zunächst reflektiert der Text die Auswirkungen der Kulturtechnik des Lesens, vor allem verstanden als Prozess der Entzifferung und Bedeutungszuweisung schriftsprachlicher Zeichen, auf den Menschen. Lesen erscheint dabei seit jeher eng verbunden mit der Tätigkeit des Schreibens, denn beides erschafft und strukturiert Wirklichkeit. Eine besondere Bedeutung weist Rötzer in dieser Hinsicht dem leeren Trägermedium zu, das, so seine Vermutung, geradezu als Initialzündung für die Verdopplung der Welt in Zeichenform fungiere: „Der Zeichenbildung liegt, so meine These, das Bedürfnis zugrunde, leere Flächen neben Bildern, die sich für einen Betrachter auf einem strukturierten Untergrund, etwa einer Felswand abzuzeichnen scheinen, durch zunächst rhythmische Einritzungen oder Farbstriche zu füllen.“ Die weiße Seite, zunächst aus Tierhaut hergestellt, stelle als Weiterentwicklung der vorgefundenen Felswand eine geradezu „radikale Erfindung“ dar, weil sie einen „Schnitt“ oder „Riss“ in der Welt markiere, der zugleich verdeckende und öffnende Effekte auf die Wahrnehmung habe.

Rötzers Interesse für die Materialität und die Phänomenologie des Lesens drückt sich nicht nur in diesen semiotischen Urerzählungen aus, sondern zeigt sich auch auf den Folgeseiten vielfach in einem interdisziplinären Zugriff: Dass Schreiben und Lesen alternative Wirklichkeiten im inneren Rückzug ermöglichten, begründet der Text beispielsweise mit der je besonderen körperlichen Situation dieser Tätigkeiten: Während sich beim Schreiben die leere Seite vor die Welt schiebe und so eine gewissermaßen erwünschte Kurzsichtigkeit erzeuge, regten isolierende Dunkelheit und Schattenwurf der archetypischen Situation nächtlichen Lesens bei Kerzenschein zur Phantasie und Projektionsbildung an. Lesen verändere zudem die körperlichen Bedingtheiten des Menschen, der, nach Erringen des aufrechten Gangs, zunehmend zum „homo sedens“, dem sitzenden Menschen, geworden sei.

In oftmals philosophisch-philologischer Findigkeit, im Sprachspiel und im Ausloten mehrdeutiger Wendungen kommen beim Lesen von Rötzers Darlegungen genau die „Lust am Text“ (Roland Barthes) und die Freude an der Erkenntnis auf, von der dieses Buch im Grunde handelt. Dazu tragen nicht zuletzt eine ausgesprochen gute Lesbarkeit und der allgegenwärtige Blick über den Tellerrand der Bezugswissenschaften bei. Lesen erscheint an dieser Stelle als zutiefst menschlich-existenzielle Erfahrung.

Gerade vor diesem Hintergrund ist es etwas schade, dass Rötzers Beschreibungen in einer weithin pessimistischen Zukunftsprognose münden. Während der Autor sich um die Einordnung der Rezeptionsprozesse sogenannter ‚Künstlicher Intelligenz‘ bemüht und verdeutlichen kann, dass hier kategoriale Unterschiede im Lesen zwischen Mensch und Maschine vorliegen, unterläuft der Text seine eigene Argumentation, wenn vielfach mit Vermenschlichungen der Maschine und vice versa technologischen Metaphern für menschliche Wahrnehmungs- und Reizverarbeitungsstrategien hantiert wird. So erscheinen Chatbots als „Psychopathen“, das menschliche Gehirn wird zur „neuronalen Wetware“ und kann „formatiert“ werden, während Lesen im digitalen Zeitalter einem „Rasen auf der Textautobahn“ gleiche. Diese Wortwahl, die sicher anschlussfähig an gängige populärwissenschaftliche Diskurse vom Menschen in der Moderne ist, erscheint an dieser Stelle mitunter etwas unglücklich, reproduziert sie doch recht unverhohlen das Problem, das der Autor für die Kulturtechnik des Lesens im Zeitalter der KI identifiziert: Die fortschreitende Angleichung des Menschen an Technik und Maschine – inklusive aller damit verbundenen Fallstricke und Untiefen, wie die semantische Verschiebung des reflektierten Lesens als Prozess kritischer Bedeutungszuweisung hin zu einem Verständnis steriler Informationsentnahme. Andererseits vermag diese Annäherung, auch auf sprachlich-ästhetischer Ebene, ein Anliegen des Texts zu spiegeln, nämlich aufzuzeigen, dass Kulturtechniken zwangsläufig zu einer Veränderung des Menschen und seiner gesamten Dispositionen führen.

Der Unterton, der die letzten Seiten prägt, gibt sich folglich kulturkritisch. Die allgemeine Beschleunigung, die sich beispielhaft im sogenannten „Speedreading“ manifestiert sowie die zunehmende Präsenz sprachverarbeitender Chatbots lassen das gediegene und gründliche Lesen als Kulturtechnik im Abstieg erscheinen. Diese Schlussfolgerung mag nachvollziehbar sein, lässt sich aber kritisieren. Zunächst könnte man fragen, ob das intellektuelle und gleichsam zeitintensive Lesen nicht schon immer einigen wenigen Privilegierten vorbehalten war, während große Teile der Menschheit gar nicht oder lediglich das Nötigste zu lesen vermochten. Zweitens müsste man einwenden – und hier kann der Anschluss zum weiten Lesebegriff gebildet werden, den Rötzer selbst zu Anfang einführte –, dass es vielfältige Formen und Arten des Lesens gibt. Diese richten sich je situativ nach Zweck, Intention und Ziel der Lesenden und müssen sich als verschiedene Lesestrategien gegenseitig keineswegs ausschließen. Könnten also nicht auch maschinenunterstütztes Lesen, Speedreading und kritisches und literarisches Lesen als unterschiedliche Spielweisen einer weiterhin wichtigen Kulturtechnik begriffen werden? Zudem kämen im digitalen Zeitalter weitere Ausdifferenzierungen des Lesens hinzu, die durch die Technologie erst möglich werden. Hierzu zählt etwa das sogenannte Social Reading in Internetforen und sozialen Medien, wie der Germanist und Buchwissenschaftler Gerhard Lauer betont. Wirft man einen Blick in die Didaktik des Lesens, so wird ebenfalls deutlich, dass längst eine produktive Auseinandersetzung mit sich verändernden Leseroutinen bei Schüler:innen im Gange ist. Unlängst erschienen ist dazu der Band Digitales Lesen. Grundlagen – Perspektiven – Unterrichtspraxis von Tilman von Brand, Gerhard Eikenbusch und Brigitte Mues, der unter anderem den Umgang mit Hypertextstrukturen, eine aktive Lesehaltung sowie die Lenkung von Aufmerksamkeitsströmen thematisiert.

Ja, das einsame, fokussierte Lesen bei Nacht und Kerzenschein in idyllischer Ekstase hat möglicherweise als primäre Lesestrategie ausgedient. Fortzubestehen vermag es vielleicht aber dennoch – als Teil eines vielfältigen Ensembles verschiedener Lesestrategien.

Ebenso wichtig wie die Frage danach, was Lesen alles sein kann, erscheint jedoch die Frage, was es überhaupt bedeutet, lesen zu können – also sich diese zu Differenzierung und Distanzierung befähigende, zutiefst menschliche Kulturtechnik anzueignen, auszubauen und stetig weiterzuentwickeln.

Rötzer reißt diese Punkte alle lediglich an – dass er ihnen nicht mit derselben Aufmerksamkeit begegnet wie den wunderbar zu lesenden kulturgeschichtlichen Ausführungen im Vorfeld von Digitalisierung und KI, ist etwas schade. Erneut imitiert die Form hier den Inhalt – nach der Beschleunigungsdiagnose kommt das Buch allzu schnell zum Ende.

Titelbild

Florian Rötzer: Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Über den Wandel einer Kulturtechnik.
Transcript Verlag, Bielefeld 2023.
128 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783837669480

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