Portugiesische Melancholie im Handgepäck
Über den Gedichtband "Atlantikblau und Olivengrün" der portugiesischen Dichterin Maria do Rosário Loures-Popp
Von Teresa Pinhero
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAlles begann 1986, als Portugal aus dem politischen und wirtschaftlichen Dornröschenschlaf erwachte und der Europäischen Union beitrat. Allmählich wurde auch in Deutschland der schmale Streifen Land am Atlantik wahrgenommen, und das Interesse für die Menschen und die Landschaften, die dort - auch nördlich vom Tourismusziel Algarve - zu finden sind, wuchs. Wie bei jedem Prozess kultureller Annäherung musste eine portugiesische Kultur erfunden werden, die sich leicht vermitteln lässt. Jeder öffentliche Repräsentant Portugals bemüht sich darum zu zeigen, dass Portugal über eine "Kultur" verfüge, die erlebenswert sei und sich von der spanischen "Kultur" absetze. Anhand einiger Stereotypen, unabdingbarer Werkzeuge der Selbstdarstellung bzw. Wahrnehmung von Kulturen, hat sich in Deutschland ein Bild von Portugal und den Portugiesen durchgesetzt, das zwar nicht unbedingt der Realität entspricht, dafür aber die Phantasie in weite Ferne schweifen lässt. "Lissabon: die Metropole der Melancholie" betitelte die Reisezeitschrift "Merian" ihr Juliheft über Portugal. Die Portugiesen sind dennoch ein melancholisches Volk, das den Fado singt, jenen eigenartig traurigen Gesang, der von vergangener Liebe erzählt, während die portugiesische Gitarre die Saiten der lusitanischen Seele bis zur Verzweiflung anschlägt. Das unübersetzbare Wort saudade - das im alltäglichen Sprachgebrauch lediglich "Sehnsucht" bedeutet - soll das portugiesische Gemüt am deutlichsten wiedergeben: eine unstillbar traurige Mischung aus Sehnsucht und Fernweh. Das Bild hat bei bestimmten Gruppen deutscher Touristen - vor allem bei intellektuellen massentourismuskritischen Touristen - seinen Niederschlag gefunden, und Portugal ist gegenwärtig in Deutschland in.
Angesichts dieser Hochkonjunktur Portugals in Deutschland überrascht es nicht, dass vor zwei Jahren die portugiesische Dichterin Maria do Rosário Loures-Popp den Gedichtband "Atlantikblau und Olivengrün. Geschichten zwischen Lissabon und Nürnberg" zum Druck brachte. Mit diesem Buch stellt sich die Autorin, die im Süden Portugals geboren wurde, einige Jahre in Lissabon lebte und seit 1987 in Nürnberg wohnt, dem deutschen Publikum vor. Der Band umfasst 53 Gedichte, die wie Erinnerungsfragmente eine Lebensgeschichte konstruieren. Die ersten Gedichte berichten in weitschweifigen, narrativen Versen von einer Kindheit in Portugal. Im Laufe des Bandes macht der erzählerische Charakter einer stilistischen Ökonomie der Verse Platz, in denen das Subjekt sich und die Welt auf lakonische, unprätentiöse Weise thematisiert.
Nicht nur der Titel, sondern auch die Aufmachung des Buches - eine Abbildung der Atlantikküste auf olivgrünem Hintergrund - lassen eine saudosistische Elegie auf Portugal befürchten. Das Meer, dessen Rauschen und gewaltige Größe besinnlich stimmen, ist seit dem Mittelalter einer der häufigsten Topoi der portugiesischen Literatur und wurde ab dem 20. Jahrhundert zum Ort par excellence, wo sich Sehnsucht und Fernweh überlappen. Olivgrün sind die Olivenhaine, die mit den Weizenfeldern die Monotonie der Landschaft im ruralen und armen Alentejo bestimmen, einer Region, die von Modernitätsmüden auf der Suche nach Lebensalternativen heimgesucht wird. Der Titel trügt - zum Glück. Zwar beharren manche Gedichte auf stereotypen Vorstellungen einer portugiesischen Identität, Vorstellungen, die erst die jüngere Generation in Frage stellt, weil sie vom intellektuellen Erbe der 48 Jahre andauernden Diktatur nicht mehr belastet ist. Beispiel dafür ist das Gedicht "Saudade", in dem Gemeinplätze um den Begriff Saudade in freier Assoziation erscheinen: "Saudade / Sentimentalität // durchgeweinte Augen // unübersetzbarer / Begriff". Auch in "Tejo" und "Lissaboner Nächte" wird auf die alten Bilder der Literatur und Fados zurückgegriffen. Der bei Lissabon in den Atlantik mündende Tejo ist zugleich der Ort des Abschieds (und so ist der Fado in den Hafenvierteln Lissabons entstanden, wo die flüchtigen Begegnungen zwischen Matrosen und Lissabonnerinnen zu unvermeidlichen Abschieden führte) und eine musische Inspirationsquelle: "ich laß' heute / Tränen fließen // die ich beim Abschied / nicht kannte // du wanderst / in meinem Blut / wie Lebenssaft // und gibst / meiner Phantasie / Nahrung die / die Poeten / brauchen". Lissabon wird, wie oft in Fadotexten, direkt angeredet, um seine schicksalhafte Verbindung zum Fado zu verdeutlichen: "deiner Nächte Sternenpracht / sind längst nicht nur Fado // aber // jeder in deinen Nächten / wird von ihm erfaßt".
Und dennoch: Mehr als die Mythologisierung einer portugiesischen Identität durchwandert ein anderes Thema die meisten Gedichte dieses Buches: die Artikulation der eigenen Identität in einer interkulturellen Situation. Und die Tragik des Individuums, das sich in einem fremden kulturellen Kontext vor dem Dilemma der Aufrechterhaltung oder Auflösung seiner Identität sieht, wird in den Versen von Loures-Popp wenn nicht aufgelöst, so zumindest entmythisiert. In ihren Gedichten wird nicht die durch zwei Kulturen gespaltene Identität oder gar ihr Verlust zum Thema gemacht, sondern eine sich in zwei kulturellen Kontexten entwickelnde Persönlichkeit gefeiert. Das erste Gedicht des Bandes weist bereits auf eine Entproblematisierung des kulturellen "Fremdgehens": Lakonisch, direkt und in knappen Worten verkündet es, als sei es eine Leseanleitung für die folgenden Gedichte, das poetische Programm: "Portugal ist meine Wiege / Deutschland die Straße / auf der ich mich bewege". Zwei unterschiedliche kulturelle Hintergründe zerreißen das Subjekt nicht, verunsichern es nicht, denn das Subjekt gehört keinem von beiden, sondern diese ihm. Auch die Sprache, das identitätstiftende Element per se, dominiert nicht das Individuum, sondern dieses besitzt die Sprachen, und diese Vielfalt wird positiv besetzt: "die Worte sind / Karamelbonbons / in verschiedene / Farben eingehüllt". Was folgt ist die Artikulation des Individuums, da an der sprachlichen und kulturellen Vielfalt nicht den Grund für die Fragmentierung der Persönlichkeit, sondern ihre Bereicherung sieht. Das Thema der Sprache(n) wird in "Walzer" und "Worte" behandelt. "Worte" ist eine Liebeserklärung an die sprachliche Vielfalt: "wie ich sie [die Worte] liebe / Gelbe Rote Lila / und Orangene". In "Walzer" kommt das letztlich harmonische Verhältnis zwischen der Mutter- und der Wahlsprache zum Ausdruck: "bis zu dem Tag // als ich mich / in eine verliebte // ich ging fremd // ich tanze heute / mit ihr meinen Walzer // aber dich // Sprache meiner Wiege / liebe ich noch immer". Die Wahl der fremden Sprache zur Kommunikation (zum Walzer) wird zwar als ein "Treuebruch" angedeutet. Dennoch führt diese Wahl nicht zur Verdrängung der Muttersprache. Das Nebeneinanderbestehen beider Sprachen inszeniert die Autorin in spielerischen Wortgeflechten, wie in "Räuber und Gendarme": "ich verteile Depressionen / wie die Ardina Zeitungen / und / der Aguaceiro Wasser". In "Dear Mr. X", eine Selbstdarstellung in Form einer Kontaktanzeige, gibt die Autorin eine optimistische Antwort auf die Frage nach der Identität: Sie ist nicht zerrissen, aufgegeben, abhanden gekommen, denn sie macht sich nicht an politischen Grenzen, sondern an familiären Landschaften und persönlichen Erinnerungen fest: "ich lebe seit einem Jahrzehnt / in der B.R.D. und / auf meinem Reisepaß steht / daß ich Portugiesin bin // meine Nationalität / sind die Korkbäume / mit dem Geschmack / nach Eukalyptus".
Auch wenn "Atlantikblau und Olivengrün" mit gängigen Mustern und Stereotypen über das Portugiesische bisweilen Kitsch streift, bietet der Gedichtband eine spannende Lesart des intellektuellen Dilemmas: Das Subjekt überwindet hier die Krise des interkulturellen Daseins und nutzt seine kreativen Kräfte für die Artikulation der eigenen Identität. Auf diese Weise umgeht Loures-Popp einen gängigen Topos der literarischen Artikulation von Interkulturalität: Das Subjekt sitzt hier nicht zwischen, sondern selbstbewußt auf den Stühlen. Diese Überwindung der interkulturellen Krise soll jedoch nicht blauäugig betrachtet werden. Sie ist nur im Rahmen einer - relativ seltenen - privilegierten Auswanderung möglich: einer Auswanderung, die nicht wirtschaftlich oder politisch motiviert ist, die aus freiem Willen entsteht und die Neugierde und die Bereitschaft zur Integration im Koffer mit in die weite Ferne nimmt.