Fake News, Reisen zum Mars und die Wahrhaftigkeit im Film

Werner Herzog denkt in seinem Essay über die „Zukunft der Wahrheit“ nach

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Werner Herzog beginnt seinen Essay mit der bescheidenen Formel, dass er wirklich nicht weiß, was Wahrheit ist. Eine Bescheidenheit, die allerdings sofort dadurch zurückgenommen wird, dass auch die Philosophen keine Antwort hätten und ebenso wenig Mathematiker oder gar der Papst. Damit macht er es sich zu einfach, da er sich dem Begriff der Wahrheit gar nicht stellt. Denn natürlich gibt es Wahrheiten. Dafür benötigen wir nicht einmal die Naturgesetzte ‒ es gibt auch persönliche Wahrheiten. Was problematisch erscheint, ist das Verhältnis der Zeichen zur Wahrheit, also Fragen der Repräsentation und Vermittlung von Wahrheiten. Was persönliche Wahrheiten angeht, dürfte es ein allgemein bekanntes Problem sein, dass diese zur Disposition stehen, sobald man versucht, sie mitzuteilen. Sind es dann keine Wahrheiten mehr?

Diese Fragen zumindest, die in den Kern unseres Begriffs von der Wahrheit führen, stellt Herzog nicht. Dadurch, dass er in der Schwebe hält, was Wahrheit ist, kann er in seinem Band eine Vielzahl an Themen ansprechen, die ihn offenbar mehr interessieren als die Wahrheit selbst. Wie dann allerdings die „immerwährende Bemühung, sich ihr [nämlich der Wahrheit] anzunähern“ aussehen kann, muss offenbleiben. So setzt sich Herzog in eher lockerer, teilweise assoziierender Weise mit der Möglichkeit auseinander, den Mars zu kolonisieren, schreibt über die Wahrheit im Film, erfundene Personen oder die Probleme und Potentiale im Umgang mit der künstlichen Intelligenz. In vielen Rezensionen wurde sein Stil als „mäandernd“ bezeichnet, aber auch das Mäandernde führt zu einem Ziel. Das aber fehlt dem schmalen Buch. Die Frage ist, ob ihm das nun schadet oder nicht.

Herzog hat ein Kapitel „Philosophische Versuche“ genannt und natürlich erwartet man eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Wahrheitssuche. Diese aber unterbleibt, wichtig ist Herzog nur, dass der Begriff des Faktischen immer eine zentrale Rolle spielt; ohne sich hier weiter aufzuhalten kommt er auf das Verhältnis von Foto oder Filmbild und Realität und darüber zu dem Rennen um den Südpol zwischen Robert Falcon Scott und Roald Amundsen. Letzterer hat zwar den Südpol als erster erreicht, Scott wurde aber Jahrzehnte als Märtyrer und idealtypischer Forscher verehrt. Herzog, der in seinem analogischen Denken diese Rezeptionsgeschichte in die Gegenwart verlängert (und das Ringen der Philosophen um die Fakten rauscht im Hintergrund), kommt zu der lesenswerten Einsicht:

Wenn heute Informationen in Bruchteilen von Sekunden weltweit verbreitbar sind, spielt die Tatsache, wer das Narrativ bestimmen kann, eine oft größere Rolle, als was die dahinterliegende Realität des Narrativs ist.

Damit ist der Weg hinter das bloß Faktische beschritten. Auf einem Foto können wir sehen, welche Menschen wann faktisch an einem Ort waren und welche Kleidung sie trugen. Auch wenn wir die Möglichkeiten der Bildmanipulation und die subjektive Perspektive der Fotograf*in außer Acht lassen, ist die Aussagekraft des Faktischen für Herzog begrenzt. Denn was die Menschen denken, wer wen hasst, welche Stimmung geherrscht hat – all das lässt sich bestenfalls erahnen und ist doch das eigentlich Wahre an der Situation. Damit nähert sich die Wahrheit der Wahrhaftigkeit, die sich weiter vom Faktischen entfernt. Herzog berichtet von japanischen Schauspieler*innen, die für Trauerfälle oder Hochzeiten gebucht werden können, um die richtigen Emotionen zu produzieren, oder davon, wie er in seinem Dokumentarfilm „Little Dieter“ eine Originalaufnahme integriert und den Erfahrungen des jungen Dieter zuschreibt, auch wenn das nicht dem Fakten entspricht: Ein Metzgerladen im Nachkriegsdeutschland präsentiert eine vereinzelte Wurst, die sich niemand der Passanten leisten kann ‒ aber alle werfen begehrliche Blicke darauf. Hier ist eine Stimmung eingefangen, die Dieters wahrem Empfinden so nahekommt, dass sie wahrer für seine Erfahrungen einsteht, als Aufnahmen, die faktisch aus seinem Leben stammen.

Natürlich finden sich immer wieder – bisweilen selbstverliebte, aber für Interessierte an Herzogs Filmen interessante ‒ Einblicke in seine Arbeit als Filmemacher. Für das Verhältnis von Wahrheit, Fiktion und Wahrhaftigkeit ist interessant, wie er seinen Film „Lektionen in Finsternis“ mit einem Zitat von Blaise Pascal beginnen lässt: „Der Untergang der Sternenwelten wird sich ‒ wie die Schöpfung ‒ in grandioser Schönheit vollziehen.“ Nur, das Zitat stammt gar nicht von Pascal, sondern von Herzog selbst ‒ und anders als im Essay behauptet, steht im Film Zusammenbruch statt Untergang; ich zögere in diesem vielfachen Spiel mit falschen Zuordnungen vorschnell von einem Fehler zu sprechen. Die Intention sei es gewesen, die Zuschauer*in gleich richtig auf den Film einzustimmen und dazu sei der Name Blaise Pascals viel besser geeignet als Werner Herzog. Da er aber seine Fälschung stets öffentliche zugebe, handle es sich eben nicht um Täuschung, sondern um eine filmische Strategie, Wahrhaftigkeit zu transportieren. Hier wird es nun etwas selbstverliebt denn die Suche nach der Wahrheit in und mit dem Film lässt nur zu deutlich durchscheinen, dass es gute und schlechte Filme gibt ‒ selbstverständlich dreht Herzog selbst, anders als die meisten anderen, gute Filme. Und tatsächlich ist man, auf der Suche nach der Wahrheit hinter den Erscheinungen, besser beraten, einen Film von Herzog zu schauen, als den Essay zu lesen, in dem er an keiner Stelle die gleiche Intensität erzeugen kann wie in den meisten seiner filmischen Werke.

Dabei ist Herzogs Stil eher bescheiden und leicht, bisweilen polemisch oder von pointiertem Witz: „Lieber tot, als je ein Toupet zu tragen“, streut er etwa „zur Ermutigung der Männer mit lichtem Scheitel“ kurz ein, wenn es um die Selbstdarstellung der Körper im virtuellen Raum geht. In der digitalen Manipulation sieht er, wie viele andere, die größte Bedrohung und Herausforderung für unsere Suche nach Wahrheit. Während das Narrativ der Kolonialisierung des Mars noch mit einigen Berechnungen als bloßes Hirngespinst entlarvt werden kann, Bedarf die Desinformation im Internet anderer Strategien, die auch Herzog nicht präsentieren kann. Recht erwartbar spricht er davon, dass wir neue, kritische Formen des Umgangs mit der digitalen Welt entwickeln müssen, damit sie ihren Schrecken verliert, und erinnert an das (laut Herzog) auch nur vermeintliche Potential der Täuschung, das Fotografie und Radio zu Beginn zugesprochen wurde. Anders als vor Gericht, sollte bei Berichten aus dem Internet die „Schuldvermutung“ gelten. Eine Nachricht ist so lange mit großer Skepsis zu behandeln, bis man durch kritische Prüfung von ihrem Wahrheitsgehalt ausgehen kann.

Abgesehen von einigen Seichtheiten, etwas Geltungssucht und manchen Trivialitäten, ist Herzogs Buch unterhaltsam zu lesen, stilistisch gut gelungen, voll von absurden Fundstücken und es ist schon erstaunlich, wie viele Themen und Anekdoten Herzog auf so wenigen Seiten zu präsentieren versteht ‒ von erfundenen Wissenschaftlern und historischen Fake News war ja noch gar nicht die Rede. Der Verlag verkauft das dünne Büchlein mit 22 Euro für die Printausgabe ziemlich hochpreisig. Die Tendenz zu steigenden Preisen auf dem Buchmarkt steht zumindest im Widerspruch zu einer der beiden Empfehlungen Herzogs, sich der Wahrheit anzunähern. Da wäre erstens, vor dem Hintergrund seiner Biografie bekannt, das Gehen zu Fuß. Herzog ist 1974 im Winter ohne Gepäck von München nach Paris gewandert, in der spirituellen Annahme, seine schwerkranke Mentorin Lotte Eisner könne nicht sterben, solange er gehe (Darüber liegt eine eigenständige Publikation Herzogs vor). Zweitens aber, und hier werden teure Bücher zum Problem, spricht er dem Literaturwissenschaftler aus dem Herzen, wenn er jungen Filmemachern empfiehlt: „Lest, lest, lest, lest, lest. Lest. Wenn ihre nicht lest, werdet ihr vermutlich trotzdem Filme machen, aber im besten Fall mittelmäßige. Ohne Lesen werdet ihr nie einen großen Film machen.“

Lesen und schreiben bleiben die Königsdisziplinen auf der Suche nach der Wahrheit. Ach ja, und Filme sehen ‒ besonders die von Werner Herzog. Denn Selbstverliebtheit kann auch als Selbstbewusstsein verstanden werden, etwas Außerordentliches geleistet zu haben. Und das hat Herzog auf der Leinwand allemal.

Titelbild

Werner Herzog: Die Zukunft der Wahrheit.
Carl Hanser Verlag, München 2024.
112 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446279438

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