Auf der Suche nach dem Menschsein

Helga Meisters zusammengefasste Ateliergespräche bezeugen die Vielfalt figurativer Gegenwartsskulptur

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Längst ist die Auffassung passé, dass in der Bildhauerkunst der Nachkriegszeit die figurative Skulptur in Ostdeutschland dominierte, während man sich im Westen mehr der nonfigurativen Skulptur zugewandt hatte, die Kunst hier so unterschiedliche Erscheinungsformen wie Plastik, Skulptur und Objekt, Environment und Rauminstallation, Licht- und Klangskulptur, Foto- und Videoskulptur, Aktion und Performance, interaktive und temporäre Skulptur umfasste. Im Osten waren Gustav Seitz, Waldemar Grzimek, Fritz Cremer, Theo Balden die Altmeister einer realistischen Figuration, denen dann bald eine große Zahl jüngerer Bildhauer – allen voran Wieland Förster und Werner Stötzer – folgten. Aber auch im Westen wirkten unmittelbar nach 1945 Gerhard Marcks, Emy Röder, Bernhard Heiliger, Toni Stadler, Hans Wimmer vor allem in der Porträt- und Denkmalsplastik. Seit den 1960 Jahren waren es dann Horst Antes, Waldemar Otto, Jürgen Weber, Rolf Szymanski und viele andere, die an der menschlichen Figur festhielten. Und Anfang der 1980er Jahre sollten die Maler-Bildhauer Georg Baselitz, Jörg Immendorff, Markus Lüpertz oder A. R. Penck im Westen für einen neuen Aufschwung der figuralen Skulptur sorgen. Im Osten wie im Westen hatte die figurale Skulptur längst nichts mehr gemein mit der Gewinnung einer Gestaltform aus einem hölzernen oder steinernen Block. Sie hatte alle medialen Grenzen gesprengt. Sie hatte den Sockel überwunden, um einen unmittelbaren Kontakt zum Boden, zur Wand, zur Decke, zum Umraum, zur Innen- und Außenarchitektur, zum Stadt- und Landschaftsraum sowie zum Betrachter aufzunehmen. Skulptur als Raumkunst war vielfältiger denn je geworden.

Helga Meister, Kunstkritikerin, Kuratorin, Buchautorin und Ausstellungsmacherin, gilt als eine exzellente Kennerin vornehmlich – aber nicht nur – der Düsseldorfer Kunstszene. Um sich ein Bild über die figurative deutsche Gegenwartsskulptur zu verschaffen, ist sie in die Bildhauerateliers und Werkstätten gegangen, hat mit den Künstlern über ihre Werke gesprochen. Ihre Texte sind Atelierbesuche, Gespräche mit den Bildhauern, im Einzelfall auch bereits früher geführte Interviews, so bei Stephan Balkenhol. Ein neues Terrain hat sie sich in den ostdeutschen Bildhauerateliers erworben, in denen sie sich genauso souverän und kompetent erweist wie in denen ihrer westfälischen Heimat. Das sind locker und feuilletonistisch geschriebene Beiträge, jedermann zugänglich und sie tragen dazu bei, ein Höchstmaß an Verständnis für Motiv und Thema, die Schaffensweise, die stilistischen, strukturellen und materialbezogenen Prinzipien, für das Schaffen des jeweiligen Künstlers überhaupt hervorzurufen. 24 Bildhauer werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt – wären da vielleicht dialogische Gegenüberstellungen mitunter besser gewesen? – und so der Betrachter mit wesentlichen Phänomenen der nationalen modernen figuralen Skulptur vertraut gemacht. Ein substantieller Einblick soll gegeben werden, eigentlich kein handbuchartiger Überblick.

Stephan Balkenhol hat 2013 in Leipzig auf dem Sockel des von Max Klinger geplanten Richard-Wagner-Denkmals den jungen Wagner in farbig gefasster Bronze dargestellt, dem als schemenhafte Silhouette der gereifte Meister zugeordnet ist. Dem Künstler gegenüber hat Nike Wagner geäußert, der Schatten des Mythos ihres Urgroßvaters stehe übergroß hinter ihm. Balkenhols Reaktion: „Meine Figur vor dem Schatten ist das vermenschlichte Genie“. Seine in sich ruhenden Skulpturen und Reliefs hat er überraschend auf Mauerstücken, in Nischen und Türmen postiert. Es sind anonyme, stereotype Figuren, er hat sie aus einem Holzblock herausgeschält und dann bemalt, sie geben nichts von sich preis, erzählen nichts, stellen nichts dar. Für den Künstler sind sie „Verallgemeinerungen des Persönlichen“ und „Kürzel für die menschliche Existenz“.

Wie er dem Malakt eine größtmögliche Freiheit einräumte, so behandelte auch der Bildhauer Georg Baselitz seit seiner ersten bildhauerischen Arbeit „Modell für eine Skulptur“ (1979) das Holz mit Kettensäge, Beil und Stecheisen. Die lebhafte Sprachkraft der bildnerischen Mittel sei, so der Künstler, im Medium Skulptur viel direkter lesbar und viel weniger verschlüsselt als in der Malerei. Dabei geht es Baselitz, der sich in seinen frühen Skulpturen zunächst mit dem Sujet der Figur auseinandersetzt, jedoch nicht um eine konkrete Person, sondern um das Abbild als Träger seiner künstlerischen Ideen. Die entgegen aller handwerklich künstlerischen Eleganz gesägten, geschnitzten und gestochenen Skulpturen wirken oft wie „Figuren voller Wunden“.

Leitmotiv des künstlerischen Schaffens von Marguerite Blume-Cárdenas ist der menschliche Körper in seiner Vielfältigkeit, sei es als Fragment, im Torso oder als integrale Figur. In ihren Arbeiten gelangt die gestaltgebende Struktur des Materials Sandstein in Wechselwirkung mit dem schweren Eisenwerkzeug zu einer neuen künstlerischen Harmonie. Die Arbeitsspuren des Meißels sind Mittel, um Lebensalter und körperliche Verwerfungen zu zeichnen. Die Schwere des Steins überführt die Künstlerin in ihren fast klassischen Formfindungen in eine Leichtigkeit der Oberflächen von erstaunlicher Dynamik.

Unter dem Aspekt „Der zerstückelte Körper“ untersucht H. Meister die eigenwillige Bretterkunst von Laura Eckert, die disparate Hölzer zu einer Skulptur zusammenfügt. Die Zerrissenheit des Menschen in unserer Zeit soll gespiegelt werden. Dagegen inszeniert Katharina Fritsch die Angst vor dem Absoluten, die wie im Wachtraum entsteht und etwas Obsessives hat. Doch präsentiert sie ihr Werk in klarer, präziser Form, die eine Logik an sich besitzt. “Die Tischgesellschaft“ (1988): 32 identische Männer sitzen an einem 16 Meter langen Tisch. Es ist eine ins 32fache multiplizierte Form des einsamen Mannes am Tisch, der vor sich hinstarrt, als denke er über die Welt nach. „Mann und Maus“ (1991/92): Ein Mann liegt im Bett, alles in weiß, über ihm hockt eine gigantische Maus und wacht über seinen Schlaf, der durch die Körpermasse des Tieres tödlich werden könnte. Eine ironische Variante des Geschlechterkampfes?

Sabina Grzimek zieht einen sofort in den Bann. Ihre Plastiken – der sich bewegend Stehende, die sich drehend Sitzende – drehen sich aus dem klassischen Koordinatensystem heraus, sie kippen aus der traditionellen Raumvorstellung. Sie haben eine fließende Beweglichkeit, eine bestürzende Augenblicklichkeit, Raumverbundenheit und einen rhythmischen Abwechslungsreichtum.

Die in Berlin lebende Leiko Ikemura hat mit „Usagi Kannon“ (2012/19) eine 3,4 Meter große, hybride Figur, teils Häsin, teils buddhistische Heilige, geschaffen, die Mitgefühl und Barmherzigkeit verkörpern soll. Die Nuklearkatastrophe vom März 2011 in Fukushima hat sie zu Terracotta- und Glas-Arbeiten im Sinne eines Memento Mori (2012) veranlasst: Ein versehrter weiblicher Körper, die Augen ausgestochen, der bauschige Rock erinnert an eine sich öffnende Blüte. Immer wieder hat sie sich mit Tod, Vergänglichkeit und Neubeginn des Lebens als Leere oder als Abwesenheit auseinandergesetzt.

Markus Lüpertz wiederum greift auf die Helden und Mythen der Vergangenheit zurück und wandelt sie ab. Es geht ihm um elementare Emotionen des Menschen wie Einsamkeit oder Versagen. Im Frankfurter „Apoll“ (1989) produziert er eine spiegelverkehrte Paraphrase auf den David-Apoll Michelangelos. Seine Augsburger „Aphrodite“ von 2000, als Brunnenstatue vor dem Augsburger Rathaus gedacht, erregte einen Skandal, weil sie so gar nicht dem Klischee einer Liebesgöttin entspricht, und steht heute vor dem Verlagsgebäude der „Augsburger Allgemeinen“. Der „Herkules“ von Gelsenkirchen ist eine Monumentalskulptur auf einem 80 Meter hohen Sockel, der Lüpertz viel Ärger und hohe Kosten bereitet hat. Vor dem Ratinger Tor in Düsseldorf stehen die ineinander verschlungenen Figuren von Robert und Clara Schumann („A Danse à Deux“, 2023) mit einem zerbrochenen Stuhl als Attribut, der auf das spannungsvolle Verhältnis des Musikerpaares aufmerksam machen soll.  

Nie trumpft das plastische Werk der im brandenburgischen Premden lebenden Emerita Pansowova auf. Ihren Figuren und Köpfen ist eine große Sensibilität eigen, der Sinn auch für Asymmetrie, die zum Lebendigen gehört, für feinste Verschiebungen der Teile. Der menschliche Leib kann sich in eine Landschaft verwandeln oder sich zu einer „leiblichen Architektur“ verfestigen. Ihre eindringliche Ausdrucksstudie „Große Palucca“ (2009, Bronze) hat in tänzerischer Bewegung die Arme weit ausgebreitet, scheint vom Boden abheben zu wollen und wird doch von der Erde noch festgehalten. Eine Synthese zwischen strömender Plastizität und figurativer Bändigung.

Die Figuren der am Rande von Berlin lebenden Anna Franziska Schwarzbach stehen, hocken, sitzen, den Blick ins Grenzenlose gerichtet, in einer ihnen eigenen, sie gleichsam rahmenden Leere – und Leere ist es, in die die Arme greifen und die die Hände umschließen. Sie verharren an der Schwelle von Selbstbehauptung und Selbstaufgabe, Schmerz und Angst, Einsamkeit und Tod. Die Epidermis ist geschrundet, aufgerissen, die Bruchstellen bleiben stehen, ohne Übergänge zwischen den Teilen, die kontinuierliche Linie ist abrupt unterbrochen, der Umriss aufgebrochen. Die Skulpturen übertragen ihre Materialdramatik auf den Betrachter. Ihre Eisenskulpturen setzen der edlen Patina der Bronze das Zufällige, Unregelmäßige, Nichtfunktionierende, Verkommene und Verrostete entgegen, die abkürzenden, suggestiven Mittel dieses Metalls. Die Bildnis-Büsten und Köpfe, Torsi und Ganzfiguren wie mehrfigurigen Reliefs wollen nicht das psychologische Bildnis, nicht die bestimmte Person mit ihren unverwechselbaren Kennzeichen geben, sondern den konkreten, individuellen Menschen an sich, in seinem lebendigen Sein.

Wie kann man den menschlichen Leib vitalisieren? Der Berliner Bildhauer Berndt Wilde stellt die signalisierenden Möglichkeiten der Gliedmaßen in das Zentrum seines Schaffens. Eine große strömende Energie formt seine Körper. Im Beziehungshaften präsentieren sich seine Stand- und Sinnbilder. Nie wird die Abstraktion so weit getrieben, dass dadurch die materialbedingte Gestalt ihren Naturgrund verliert. Der Bildhauer abstrahiert, indem er aus der lastenden Schwere des Vorgegebenen ein Formgefüge in seiner Singularität herausarbeitet. Es sind klare Entscheidungen, aufgebaut in der Durchdringung von organischen Werten und tektonischer Form: Figuren als Widerstand, Figuren des Widerstehens.

Man wird unter den 24 gegenwärtigen Bildhauern, die Helga Meister erfasst, viele vermissen, wie – um nur einige ostdeutsche zu nennen – Rolf Biebl, Sylvia Hagen oder Margret Middell –, das ist zu bedauern. Aber unverständlich ist schon, dass der Nestor der Bildhauerkunst Wieland Förster fehlt. Von tragischer Gespanntheit vermochte Förster in seinem Alterswerk zu einer fast arkadischen Gelassenheit zu gelangen, so wenn er der durch das Feuer gegangenen „Nike“ von 1998 atmenden Rhythmus und tänzerische Beschwingtheit verlieh. Dieser Hoffnung auf Überleben, auf Überdauern stand dann wieder der durch die Überdrehung des Leibes an den Füßen wie aufgehängte, gehäutete „Marsyas – Jahrhundertbilanz“ (1999) gegenüber. Und diese Polarität hat den heute 94-jährigen Bildhauer als noch immer offene Frage nach der Würde und Selbstbestimmung des Menschen begleitet.

Unbestritten bleibt der Wert dieser Bildhauer-Gespräche: Helga Meister verweist auf Arbeiten, die uns beleben und berühren, uns irritieren und doch seltsam anziehen. Sie führt uns zu ihnen hin, erkundet fragend das Anliegen des/der jeweiligen Bildhauers/Bildhauerin, lässt uns ihre Schaffensweise und originelle Eigenart zum gedanklichen wie emotionalen Erlebnis werden. Tatsächlich ist aus ihren Ateliergesprächen ein Who is Who der figurativen Gegenwartsskulptur geworden, in dem man immer wieder mit Gewinn nachschlagen kann.

Kein Bild

Helga Meister: Der Mensch in der Skulptur. Figurative Kunst der Gegenwart.
Verlag Peter Tedden, Düsseldorf 2024.
224 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783911339001

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