Alles ist jetzt
Der letzte Roman Gernot Wolfgrubers „Die Nähe der Sonne“ ist ästhetisch und poetologisch herausragend
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm 20. Dezember dieses Jahres feiert der österreichische Schriftsteller Gernot Wolfgruber seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass hat der Verlag Jung und Jung Wolfgrubers Roman – und zugleich seinen letzten literarischen Text – Die Nähe der Sonne aus dem Jahr 1985 wiederaufgelegt. Wolfgruber hat in den Jahren zwischen 1975 und 1985 in rascher Folge hintereinander fünf (z. T. umfangreiche) Romane, von denen drei auch verfilmt worden sind, herausgebracht; hinzu kommen vier weitere Bände, die der Schriftsteller mit anderen verfasst hat. Danach ist er (bis heute) literarisch verstummt.
Dass der Verlag Jung und Jung den letzten Roman Wolfgrubers wieder auf den Markt gebracht hat, muss ihm hoch angerechnet werden, denn es ist ein durchaus schwieriges Unterfangen, diesen Text einer neuen Leserschaft und einer nachwachsenden Generation zu präsentieren. Die Romane des Österreichers, Auf freiem Fuß (1975), Herrenjahre (1976), Niemandsland (1978), Verlauf eines Sommers (1981) und Die Nähe der Sonne (1985), waren seinerzeit überaus erfolgreich, erlebten mehrere Auflagen (auch im Taschenbuch) und wurden von der Kritik gepriesen. Dabei atmen sie alle, die durchaus als autofiktionale Prosa bezeichnet werden dürfen, den Zeitgeist der 70er- und frühen 80er-Jahre, also einer Zeit, die literarisch von der sogenannten ‚Neuen Subjektivität‘ bzw. ‚Innerlichkeit‘ – despektierlich damals auch ‚Weinerlichkeit‘ genannt – dominiert worden ist. Lyrik wurde großgeschrieben und Gedichtbände von Ursula Krechel, Ulla Hahn, Nicolas Born, vor allem aber dem ‚Trendsetter‘ Rolf Dieter Brinkmann erzielten hohe Auflagen; bereits etablierte Prosaautoren wie Peter Handke oder Max Frisch (Montauk), aber auch andere wie Hermann Lenz (der durch Handke allererst bekannt gemacht worden ist) oder Botho Strauß bestimmten den Tonfall: Überall wird der Rückzug auf die Innenwelten des Subjekts inszeniert, eines Ichs, das oft genug lädiert und leidend, ja sogar (tod-)krank Äußerlichkeiten wie Gesellschaft, Staat und Politik hinter sich lässt. Häufig stehen im Vordergrund krude und banale Alltäglichkeiten, was sich insbesondere bei österreichischen und schweizerischen Vertretern (etwa Franz Innerhofer oder Silvio Blatter) mit Bezügen auf die Lebens- und Arbeitsalltagswelt verbindet. Krankengeschichten machen die Runde (Fritz Zorns Roman Mars oder Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte) und die Entfremdung zwischen dem Ich und der Gemeinschaft/Gesellschaft kann nicht entfernt genug gedacht werden.
Von all dem erzählen auch die Romane Gernot Wolfgrubers. Ästhetisch und poetologisch herausragend ist der letzte Roman Die Nähe der Sonne, dem man heute möglicherweise einen gewissen Manierismus vorwerfen kann (seitenlange, absatzlose Sätze, die die innere Befindlichkeit des Protagonisten abzubilden versuchen), der sich insgesamt aber am weitesten vorwagt. Wolfgruber entwirft das Psychogramm eines Protagonisten, des Architekten Stefan Zell (mit künstlerischen Ambitionen), der – nicht zuletzt durch den Verkehrstod seiner Eltern, mit deren Begräbnis der Roman beginnt – aus der Bahn geworfen wird. Das Begräbnis ist nicht nur Anlass, sich mit der eigenen Kindheit und Jugend in einem vom Nationalsozialismus geprägten, diesen aber beharrlich beschweigenden Elternhaus ebenso wie mit den Geschwistern und früheren Freundinnen auseinanderzusetzen, sondern auch die Verheerungen, die das bei ihm angerichtet hat (etwa ein früherer Aufenthalt in der Psychiatrie, die danach durch Medikamente einsetzende Sedierung, anhaltende Bindungsängste und die Furcht vor Nähe), an sich heranzulassen. Wolfgrubers Protagonist Zell erlebt sich überall als nicht zugehörig, als Abseitsstehender – „Nebendraußen“, um eine Lieblingsvokabel von Hermann Lenz zu benutzen –, was ihm aber möglicherweise nur den Blick dafür schärft, dass sich um ihn herum allerorten Stagnation breitmacht, dass die Menschen irgendwie irgendwo in ihrem Alltag stecken geblieben sind. An einer Stelle spricht Zell auch davon, dass ihm die Welt wie ein Spinnennetz vorkommt:
[E]in[…] undurchdringliche[s] Gespinst[…] aus Staatsmacht und Geld und Militärs, aus Politikern, Polizei, Geschäftemachern, Nazis und Freimaurern, Waffenhändlern in Regierungsrang, Hochadel, Ministerien und Multinationalen, CIA, KGB, gedungenen Mördern, Psychiatern, Universitätsprofessoren und Lügenfabrikanten in Zeitungen und Fernsehen, Drahtziehern und Mitläufern und Agenten und Spitzeln und gewohnheitsmäßigen Wegschauern, eine[…] Macht, die alles erdrückend umschlingt, allgegenwärtig und unsichtbar […].
Und geradezu divinatorisch klingt es, wenn Wolfgruber auf die ubiquitäre „Simulation“ und deren ‚Fake-Charakter‘ hinweist:
[A]lles erfunden, alles erfunden, Raketen, Bomben, Satelliten, eine ungeheure Lüge, bloß im Fernsehen uns vorgespielt!, und die Mondlandung! Hat es nie gegeben! Walt Disney-Productions, die ganzen Bombenarsenale ein gigantischer Schwindel, alles den Menschen nur vorgespielt, keiner hat das jemals wirklich gesehen, immer nur Fernsehen, immer nur Nachrichten, IHRE Nachrichten!, das Gleichgewicht des Schreckens ein Schwindel, das ganze Spiel Ost-West!
Gleichzeitig zeigt Wolfgruber aber auch das permanente Bedürfnis Zells auf, präsent, d. h. im Augenblick, anwesend sein zu wollen, Unmittelbarkeit herstellen zu können, was vor Jahren bereits der Literarhistoriker Karl Heinz Bohrer im Blick auf die moderne Literatur als Epiphanie zu herabgesetztem Risiko gedeutet hat. Und so schließt dann der Roman mit einer Autofahrt. Wohin? Ins Offene:
Hinter ihm klappte zu beiden Seiten das Land hoch, als fahre er in einer schwarzgläsernen Schlucht, deren Wände sich über ihm sanft aneinanderlehnten, wie ein Falter die Flügel zusammenlegt. Und vor ihm die lichtperlende Stadt. Die Ungeheuerlichkeit eines Augenblicks: daß der in einen Kopf ging.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||