Leben aus dem Archiv

Gaëlle Nohants Roman „All die gestohlenen Erinnerungen“ rekonstruiert Zusammenhänge von Menschen und Gegenständen

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein schöner, literarhistorisch und motivisch auch alter Gedanke, sich die Dinge beseelt und lebendig vorzustellen. So, als würden die Gegenstände, Kunstwerke und Objekte, mit denen wir täglich zu tun haben und in Berührung kommen, mit uns kommunizieren können wie Lebewesen. Die wohl berühmteste Formulierung, die einer solchen Vorstellung Ausdruck verleiht, stammt vom Titelhelden aus Vergils erstem Gesang seiner Aeneis: „Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt“, entfährt es dort dem in tiefe Traurigkeit fallenden Aeneas beim Anblick von Schlachtszenen des Trojanischen Krieges, die er als künstlerische Darstellungen an einem Tempel unterhalb von Karthago sieht. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert mit Victor Hugo hat sich die Stelle aus der Aeneis verselbständigt und ist sinnbildlich geworden für die Idee einer beseelten Dingwelt, sodass man gemeinhin den Vers mit „Die Dinge haben ihre Tränen“ übersetzt, auch wenn dabei der eigentliche – grammatikalische – Aussage- und Werkkontext etwas unterschlagen wird, nach dem es „Tränen für die Dinge gibt und sterbliche Dinge den Geist berühren“. Und genau diesen Gedanken greift auch das dem neuen Roman von Gaëlle Nohant vorangestellte, von der bereits 1976 gestorbenen jüdischen Historikerin und Holocaust-Überlebenden Rachel Auerbach aus einem ihrer Gedichte stammende Motto auf, wo es heißt:

Und diese stummen Tränen von Gegenständen […] / Wer noch nie das Schluchzen toter Gegenstände gesehen hat, / der hat noch nie etwas Trauriges gehört oder gesehen.

Was der im Original mit dem treffenderem Titel „Le bureau d‘éclaircissement des destins“, also „Büro für Schicksalsklärungen“ überschriebene Roman anschaulich macht, ohne dabei ein Thesenroman oder (nur) Dokumentarliteratur zu sein, ist die Frage nach der Materialität des Immateriellen und der Erinnerung oder auch umgekehrt den immateriellen Grundlagen materieller Zeugen der Vergangenheit. Denn das ist es, worum es geht: Eine Pierrot-Puppe aus Stoff und ein kleines Medaillon, die in den „Arolsen Archives“ aufbewahrt werden, sollen den Angehörigen und Nachkommen derer zurückgegeben werden, denen sie von den Nazis vor der Ermordung in einem der Konzentrationslager entrissen worden waren. Natürlich handelt es sich nicht zufällig um Alltagsgegenstände von nur geringem Wert, denn die wertvollen Gegenstände wurden von den Mördern für andere Zwecke entwendet. Für die Nachkommen aber, das ist die Überzeugung der Archivleitung, sind diese wertlosen Gegenstände wie fehlende Puzzleteile einer verloren gegangen oder auch gar nicht erst gekannten Vergangenheit. Die Handlung der Geschichte setzt ein mit dem 27. Oktober 2016. Es ist der Tag, an dem die Leiterin des Archivs die Hauptfigur Irène Martin – eine 25 Jahre zuvor wegen der Liebe nach Deutschland gekommene Französin – damit beauftragt, einige der im Archiv verwahrten Gegenstände den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben, auch wenn viele von denen tot sind. Im Zuge ihrer ‚Ermittlungen‘, und tatsächlich liest sich der Roman über weite Strecken wie eine spannende Kriminalgeschichte, kann Irène anhand von Beschriftungen, Brief-Korrespondenzen, Augenzeugenberichten und -befragungen sowie Gesprächen mit Nachfahren von Überlebenden erstaunliche, ja atemberaubende Zusammenhänge zwischen den beiden Gegenständen und einigen immer wieder auftauchenden Namen herstellen. Auf einmal werden Konstellationen und Zusammenhänge sichtbar, die auch zur Geschichtsschreibung des Holocaust gehören und noch einmal ein differenziertes, komplexes Bild darauf werfen, was die Mordmaschinerie der Nazis aus und mit Menschen gemacht hat. Da ist etwa die nicht gerade judenfreundliche Polin Wita, die einen kleinen jüdischen Jungen an sich nimmt und bis in die Gaskammern tröstend begleitet oder der polnische Zimmermann Lazar, der das Konzentrationslager überlebt und dessen Spur Irène bis nach Griechenland in die 1950er Jahre verfolgen kann. Auch Nebenfiguren wie der 13-Jährige polnische ‚Dieb‘ treten dem Leser unvergesslich vor Augen, der zunächst nach Bergen-Belsen, danach ins Lager Neuengamme deportiert wird, um seinen Tod schließlich auf der „Cap Arcona“ zu finden, das als ziviles Schiff am Ende des Zweiten Weltkrieges von den Nazis zur Evakuierung von KZ-Häftlingen genutzt, mit Hakenkreuzflaggen bestückt und dann von den Alliierten irrtümlich bombardiert und versenkt wurde und damit zum Sarg Tausender KZ-Häftlinge geworden ist. Oder die Deutsche Elsie, in deren Nachlass sich das Medaillon von Wita befindet, von dem die Familie und ihr Sohn nichts wussten. Dieser Sohn schreibt Irène an, um Genaueres über die Herkunft des Gegenstandes zu bekommen, dessen Existenz ihm aber auch klarmacht, dass ein geliebter Mensch Teil eines vergangenen Grauens gewesen sein muss. Mit Nachkommen von den fiktiven Figuren Wita und Lazar wird Irène im Laufe ihrer Recherche, so viel darf verraten werden, in Kontakt und ins Gespräch kommen.

Wer diesen Roman gelesen hat und zur Seite legt, der schaut auf die Welt mit anderen Augen. Die Geschichten und Personen aus dem erzählten Universum von Nohant werden einem noch lange nachgehen, so wie die Figuren des Romans von ihren Geschichten verfolgt werden – selbst wenn sie das manchmal nur ahnen. Sie alle, die Figuren der erzählten Romanwelt, sind vertrieben aus ihrer Vergangenheit aber auch getrieben von dieser Vergangenheit und dem, was unausgesprochen geblieben, vergessen oder aber, wie die Gegenstände im Archiv, verloren ist. Bei vielen mit den Gegenständen verbundenen Geschichten verschlägt es nicht nur der Hauptfigur Irène den Atem, sondern auch dem Leser und manches Schicksal, das sich mit den Objekten verbindet, ist nur schwer zu ertragen, was im Sinne des Vergils-Zitats zeigt, dass die Dinge ihre Tränen haben und auch zu Tränen rühren.

Gleichzeitig ist der Roman auch ein Stück Lokalgeschichte, was mit dem Sitz der realen „Arolsen Archives“ zu tun hat, die bis zum Mai 2019 noch unter dem Namen „Internationaler Suchdienst“ (englisch: „International Tracing Service“, ITS) bekannt waren und heute offiziell „International Center on Nazi Persecution“ heißen. Die Alliierten verfügten, dass diese Institution zur Klärung von Schicksalen und Zuordnung von aufbewahrten Gegenständen der Nazi-Opfer gerade in jenem Dorf Bad Arolsen ihren Sitz haben sollte, das in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund der Schwärmerei von Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont für Hitler zu einem Zentrum der SS geworden war.

Der Text ist von seiner Konstruktion her eine kunstvolle, arrangierte – und damit romanhafte – Verbindung von Täter- und Opferbiographien. Die Geschichten von den „Effekten“, wie die „bewegliche Habe“, die Gegenstände, etwas altmodisch aber durchaus korrekt in der deutschen Übersetzung genannt werden, präsentiert die Erzählinstanz indessen nicht wie in einem Dokumentarbuch, sondern sie werden eingebunden in die Lebenswelt der Hauptfigur Irène, von der über weite Strecken aus der Innenperspektive erzählt wird. Die Geschichten und Konstellationen der mit den Effekten verbundenen Personen überschneiden und wiederholen sich, sind Variationen menschlicher Beziehungen, Verletzungen unter anderen Vorzeichen und in anderen Zeiten. Sie relativieren sich nicht gegenseitig oder bilden Erklärungen, sondern sind Parallelentwicklungen. Die Erzählinstanz und mir ihr Irène hat auch keine Scheu, am Beispiel von der schon erwähnten Elsie Weber etwas zu thematisieren, was aus der österreichischen Literatur der 1970er Jahre und den sogenannten Mutter-Büchern vor allem bekannt ist: Die brisante Darstellung von Mütter-Leben in der Nazi-Zeit, von denen Peter Handkes „Wunschloses Unglück“ sicher das bekannteste ist und in denen einem kurzzeitig empfundenen, aus unserer heutigen Sicht verblendeten und naiven Autonomie-Gefühl dieser Frauen nachgegangen wird.

Nicht zufällig ist der ganze Roman auch im Präsens erzählt. Er vergegenwärtigt die Vergangenheit als etwas, das noch anhält, nicht nur von der Relevanz der Geschichte, sondern auch von der narrativen Präsentation her. Was alle diese Geschichten und die Menschen, die diese erzählen oder wenigstens wissen wollen, verbindet, ist der immer wieder beschriebene Drang, den kommenden Generationen – und meist ist das ganz individuell-familiär bedingt – mehr mitzugeben als nur das, was auch die Geschichtsbücher wissen. In gewisser Weise ist der Text – die Institution der „Arolsen Archives“ in der realen Welt ohnehin – Teil einer „Geschichte von unten“, aus der Perspektive und für die Belange derer, die die individuellen Schicksale in und hinter den großen Zahlen und Gruppenbezeichnungen der historischen Darstellungen und Forschung sind. Geschichte wird hier menschlich, nicht nur, weil sie das Schlimmste erfahren haben, was Menschen einander antun können, sondern weil sie denjenigen, der sie erfährt auch zur Menschlichkeit verpflichten. Dennoch ist dieser Text kein Thesen- oder Gesinnungsroman geworden, sondern ein literarisches Kunstwerk.

Nicht zuletzt ist der Roman auch eine Hommage und literarische Anverwandlung der großen Holocaust-Dokumentationen und Darstellungen, die im Text auch erwähnt werden, allen voran Claude Lanzmanns neunstündige Holocaust-Dokumentation „Shoa“ aus dem Jahr 1985. „All die gestohlenen Erinnerungen“ ist kein eindimensionaler Roman über die Schuld und Monster des Nationalsozialismus, die die Verbrechen an denen begangen haben, von denen nur noch die Effekten übriggeblieben sind. Die Personen und Gegenstände, denen Irène nachspürt sind solche, die selbst ambivalent sind, wie eben Wita, die ein fremdes jüdisches Kind als Polin in die Gaskammer begleitet – und dass auch angesichts des polnischen Antisemitismus, der, wie es im Roman einmal heißt, kein „Mythos“ ist.

Trotz der kunstvollen Konstruktion des Romans wirken die Verbindungen, die immer wieder aufgegriffenen Namen, Querverbindungen und nach und nach von losen Fäden sich zu einem dichten Gewebe formierenden Strukturen unangestrengt, was auch an der flüssigen und präzisen Übersetzung liegt. Ob die eine Verwicklung am Ende, jene des Großvaters von Irène und der Schwester von Wita, nicht eine Wendung zu viel ist, sei jedem nach der Lektüre selbst überlassen und soll hier vor allem nicht verraten werden. Bevor man das Nachwort der Autorin liest und weiß, dass alle Personen und Gegenstände des Romans erfunden sind, stellt man sich während der Lektüre bisweilen die Frage, ob nicht die Wirklichkeit die größte Erfinderin von Romangegenständen sein dürfte. Dabei ist es am Ende aber gar nicht mehr wichtig, dass die im Roman präsentierten Dokumente und Namen nicht zu Treffern in den Datenbanken der „Arolsen Archives“ führen würden. In der Literarisierung haben sie ihre eigene Wahrheit, eine sowohl reale als auch überzeitlich-sinnbildliche Wahrheit erhalten und gefunden.

Titelbild

Gaëlle Nohant: All die gestohlenen Erinnerungen. Roman.
aus dem Französischen von Alexandra Baisch.
Piper Verlag, München 2024.
428 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492072601

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch