Ein Land auf dem Weg ins Dunkel

Mit „Rath“ schließt Volker Kutscher nach 16 Jahren und 10 Bänden eine der interessantesten deutschsprachigen Romanreihen ab

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man trifft sich auf halbem Wege zwischen Köln und Berlin in Hannover. Einmal im Monat für ein Wochenende in einem schäbigen Hotel lassen der für tot erklärte Gereon Rath und seine ‚Witwe‘ Charlotte ihre alte Liebe wieder aufleben. Befriedigend ist das für keinen der beiden. Aber man muss vorsichtig sein. Denn Gereons Todfeinde bei der SS glauben nicht daran, dass Raths Leben mit dem Sturz des Angeschossenen in den Landwehrkanal nach einer wilden nächtlichen Verfolgungsjagd zu Ende ging.

Volker Kutschers neuer Roman trägt den Namen jener Figur im Titel, deren Lebensweg zwischen 1929, dem Jahr der Weltwirtschaftskrise, und 1938 er in nunmehr zehn Büchern verfolgt hat: Rath. Die Leserinnen und Leser des in Köln lebenden Autors durften über 16 Jahre hinweg miterleben, wie aus dem aus dem Rheinland nach Berlin versetzten Kriminalkommissar und der anfangs für die Mordkommission im Polizeipräsidium am Alexanderplatz arbeitenden Stenotypistin Charlotte Ritter ein Paar wurde, Gereon Rath mit der Zeit seine loyale Haltung gegenüber dem System verlor und sich nach der Machtübernahme Hitlers immer mehr in einer Außenseiterposition wiederfand, ihn seine Beziehungen zum organisierten Verbrechen, den sogenannten Ringvereinen, immer wieder in Schwierigkeiten brachten und ihm schließlich nichts anderes übrig blieb, als Deutschland praktisch über Nacht zu verlassen.

Dabei sind die einzelnen Bände der Serie entlang von historischen, die deutsche Geschichte prägenden Ereignissen jener Jahre erzählt – der Weltwirtschaftskrise zunächst, später der Machtergreifung von Hitlers Nazipartei, den Nürnberger Parteitagen und der Berliner Olympiade von 1936. Und dem Autor gelingt es dank umfangreicher Recherchen zu jedem einzelnen Band, das Klima jener Jahre, in denen Deutschland nach einem verlorenen Krieg langsam aber sicher auf die nächste Katastrophe zusteuerte, so detail- wie kenntnisreich aus der Perspektive von unten einzufangen.

Nun also, zum Abschluss der Reihe, 1938, das Jahr, in dem in der Nacht vom 9. auf den 10. November deutschlandweit die Synagogen brannten und tausende Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe von Juden gestürmt und zerstört wurden. Volker Kutscher hat schon in früheren Gesprächen betont, die Reihe mit diesem Band zuende gehen zu lassen und er nicht vorhat, seinem Romanpersonal in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zu folgen. Deshalb wohl galt es für den Autor, noch einmal alle losen Enden aufzugreifen, und seinem Rath-Universum – zu dem inzwischen ja auch ein äußerst erfolgreicher Serienableger, Hörspiele, Kurzgeschichten und zwei (bald drei) von Kat Menschik kongenial illustrierte Erzählungen gehören – einen würdigen Abschluss zu geben. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, mit wie vielen Figuren die Serie im Laufe von 16 Jahren gearbeitet hat, Figuren, die alle ihre eigenen Biographien und Konflikte einbrachten und sich entwickelten – mal zum Guten, mal zum Bösen.

Dass diese Mammutaufgabe gelungen ist, Kutscher seiner über die Jahre immer größer gewordenen Lesergemeinde im Grunde kaum etwas schuldig bleibt, die wichtigsten Handlungsfäden unterm Strich abschließend verknotet werden und das Ganze mit einem wuchtigen Finale, das ahnen lässt, wohin es mit diesem Deutschland in den nächsten Jahren gehen wird, an sein Ende kommt, darf dem Autor durchaus attestiert werden.

Was freilich den Kriminalfall betrifft – Charlottes und Gereons ehemaliger Ziehsohn Friedrich Thormann, zu dem vor allem sie den Kontakt nie ganz verloren hat, wird beschuldigt, kaltblütig zwei Hitlerjungen getötet zu haben –, so ahnen gewiefte Leserinnen und Leser diesmal ziemlich schnell, wer als Täter letzten Endes nur infragekommt. Allein die Rath-Romane Volker Kutschers hatten auch in der Vergangenheit ihre spezifischen Stärken mehr in einem breit ausgefächerten Zeit- und Gesellschaftsbild als darin, ein kriminalliterarisches Rätselspiel zu inszenieren. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Reihe von vornherein auf die Genrebezeichnung „Kriminalroman“ verzichtete und ab Band 7 in ihren Untertiteln auch keinen durchnummerierten „Fall“ ihres Helden Gereon Rath mehr ankündigte. Stattdessen ist, um es mit Ludwig Wittgenstein auszudrücken, in Volker Kutschers Büchern die Welt „alles, was der Fall ist“.

Und deren Zustand, so wie der Autor ihn schildert und seine Figuren ihn erleben, ist beklagenswerter denn je. Recht und Gerechtigkeit existieren nicht mehr in einem Deutschland, in dem die Nazis inzwischen schalten und walten, wie es ihnen gefällt. In dem jeder Angst haben muss, dass er von Nachbarn oder Kollegen aus Eigennutz oder Bosheit denunziert wird. So kann Gereon Rath zwar nach seiner Rückkehr aus Amerika – der bevorstehende Tod ihres Vaters hat es nötig gemacht, dass beide Rath-Brüder  noch einmal über den Großen Teich nach Europa fliegen – für eine Weile bei dem Kölner Ex-Oberbürgermeister Konrad Adenauer, einem alten Freund seiner Familie, unterschlüpfen. Doch sicher fühlt er sich auch in Rhöndorf am Rhein nicht. Und Charlotte landet über Nacht im Frauenkonzentrationslager Schloss Lichtenburg im sachsen-anhaltinischen Prettin und muss am eigenen Leib erleben, wie brutal und ahuman dort von Frauen mit Frauen umgegangen wird. Allein die Tatsache, dass sich Hermann Göring in ihrer Schuld sieht, weil er glaubt, dass sie einen Anschlag auf sein Leben mit zu verhindern half, führt dazu, dass sich die Mauern dieser Einrichtung nicht für immer hinter ihr schließen.

Bei so viel Trouble mit und um seine zentralen Figuren noch zusätzliche Schauplätze aufzumachen – wie etwa die in die Kindheit von Raths vom Vater verstoßenen Bruder Severin, von dem in der Reihe vor diesem abschließenden Band noch nicht viel zu lesen war, zurückweisende Missbrauchsgeschichte in einem Katholischen Internat –, überlädt den Roman dann zum einen. Sorgt andererseits aber auch dafür, dass sich unter all den immer mehr verrohenden Protagonisten, von denen Kutschers Helden umgeben sind, auch ein paar Figuren finden, die sich dem herrschenden Zeitgeist nicht unterordnen. Allein die letzten gut dreißig Seiten des Romans, auf denen der Autor unfassbare Gewaltszenen der Pogromnacht aneinanderreiht, machen dann nur zu deutlich, dass Menschen, denen die Ideologie des faschistischen Systems immer fremd gewesen ist, in diesem Deutschland nichts mehr zu suchen haben.

Titelbild

Volker Kutscher: Rath.
Piper Verlag, München 2024.
560 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783492074100

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch