Die Schatten im Tal

Paolo Cognetti erzählt im Roman „Unten im Tal“ von einer vergifteten Brudergeschichte

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2017 erschien in der Deutschen Verlags-Anstalt der Roman Acht Berge des italienischen Autors Paolo Cognetti (geboren 1978), mit dem er erfolgreich die deutschsprachigen Leser:innen überzeugte und der rasch zum internationalen Bestseller aufstieg, nachdem der Autor für dieses Werk bereits in Italien mehrfach ausgezeichnet worden war: Unter anderem mit dem Premio Strega, dem renommiertesten italienischen Literaturpreis.

Erzählt wird die Geschichte einer Männerfreundschaft, auf dem Hintergrund der eindrücklichen piemontesischen Bergwelt. Die Verfilmung des Romans mit intensiven Aufnahmen einer einzigartigen Landschaft und unter die Haut gehenden Begegnungen der beiden Männer trug das Ihre zum Erfolg bei. In rascher Folge veröffentlichte Cognetti drei weitere Romane, die seinen Bergzyklus bilden sollten, zuletzt erschien 2023 „Giù nella valle“, deutsch in der ruhigen klaren Übersetzung von Christiane Burkhardt 2024 bei Penguin. Während in den drei vorangegangenen Büchern das Hochsteigen zum Berg, das Fliehen aus dem Tal nach oben den Antrieb gaben, liegt im letzten Band der Fokus – wie im Titel angekündigt – unten, im Tal. Und damit auf den Schattenseiten des Lebens.

Im Mittelpunkt stehen zwei Brüder, Luigi und Alfredo, die mit ihrem Vater auf 1800 Meter über Meer aufgewachsen sind, nun jedoch bereits lange weggezogen sind von zu Hause. Nur der Vater harrte oben aus. Zwar haben die beiden Brüder ihre Wurzeln in der gleichen Erde, doch entwickeln sie sich sehr unterschiedlich, vergleichbar mit den beiden Nadelbäumen, die der Vater bei ihrer Geburt vor dem Haus gepflanzt hat: für Luigi die Lärche, für Alfredo die Fichte. Alfredo, den Jüngeren, zog es früh weg aus dem ihn einengenden Tal, bis nach Kanada floh er, in die weiten Wälder, wo er als Holzfäller schwere körperliche Arbeit fand. Luigi hingegen kam nicht weiter als ins Tal, wurde Forstpolizist, traf Elisabetta, mit der er inzwischen verheiratet ist und die das erste gemeinsame Kind erwartet, ein Mädchen, auf das sich beide freuen.

Erst kürzlich verstarb der Vater der beiden Brüder, nun gilt es, die Erbschaft zu regeln. Luigi will seinen Bruder auszahlen und das alte Haus so weit herrichten, dass es für ihn und seine Familie bewohnbar wird. Dabei verschweigt er seinem Bruder jedoch, dass in unmittelbarer Nachbarschaft der Hütte ein Sessellift geplant ist, was deren Wert wesentlich erhöhen dürfte. Schnell wird klar, dass die Brüder nicht nur völlig verschieden sind, sondern sich auch spinnefeind. Elisabetta spürt jeweils eine große Unruhe, wenn sie weiß, dass Luigi mit seinem Bruder unterwegs ist: Sie befürchtet, dass er wie immer zu viel trinken und sich von ihr entfernen wird.

Wenn in den vorangegangenen Romanen Cognettis der sich öffnende Blick zu den Bergen hoch und weiter nach oben in einen überwältigenden Himmel hoffnungsvoll stimmte, dominiert unten im Tal Gewalt unter Menschen und Tieren. Der Vater hat sich umgebracht, Alfredo hat einen Mann lebensgefährlich verletzt und sich davongemacht. Im Wald wird ein Hund verfolgt – oder ist es ein Wolf? –, der sich an anderen verbeißt, bis sie tot sind. Auch die Eingriffe in die Natur, die nötig sind, um ein lukratives Skigebiet entstehen zu lassen, sind gewalttätig. So müssen für die touristische Entwicklung der Region 5000 Bäume gefällt werden. Zerstörung ist überall und hinterlässt Trauer, Verzweiflung, Resignation.

Der Roman endet mit einem keltischen Gedicht, das den Titel „Die Schlacht der Bäume“ trägt und vom Autor leicht abgewandelt worden ist. Es erzählt von Bäumen, die als verfolgte Partisanen zu den Waffen greifen und gegen jene kämpfen, die sie fällen wollen. Im Nachwort schreibt Paolo Cognetti von der wunderschönen Valsesia – das Tal, in dem der Roman spielt – und deren „langer Tradition als Zufluchtsort für Verfolgte und Minderheiten“. Und er fährt fort:

Doch für uns, auf unserer Seite des Monte-Rosa-Massivs, ist die Valsesia der Ort, wo das schlechte Wetter herkommt. (…) Dieses Tal ist ein Trichter, in dem aller Nebel landet, der zwischen Novara und Vercelli aufsteigt, und es ist schon bizarr, an der Wasserscheide zu stehen oder vom Gletscher am Monte Rosa hinabzuschauen und die Wolken stets auf der einen, die Sonne hingegen stets auf der anderen Seite zu sehen.

In diesem leisen, gleichzeitig intensiv geschriebenen Roman erzählt Paolo Cognetti eindringlich vom Schatten, der sich im Tal ausbreitet und den auch der Blick nach oben zu den Bergen nicht verdrängen kann. Denn vielmehr sind es die Berge, die den Schatten aufs Tal werfen. „Unten im Tal“ ist ein schmales Werk, das lange nachhallt, laut, eindringlich, unüberhörbar.

Titelbild

Paolo Cognetti: Unten im Tal. Roman.
aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt.
Penguin Verlag, München 2024.
144 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783328603641

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