Ansteckungsgefahr
Echos antisemitischer Mythen in F.W. Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922) und in Robert Eggers’ Remake (2024)
Von Jan Süselbeck
Antisemitismus als Angstkommunikation
Der literarische Antisemitismus arbeitet mit starken Wiedererkennungsanlässen oder auch affektiven Reizkonfigurationen, die im Massenpublikum erwartbar breiten Anklang finden. Schon seit den Anfängen der deutschsprachigen Schauerliteratur und der Schwarzen Romantik im frühen 19. Jahrhundert wurde dabei gerne mit schillernden Figurencharakterisierungen gearbeitet – etwa anhand bestimmter Attribute oder Kontexte wie hässlichen Physiognomien, einer besonderen Kleidung, eingestreuten Symbolen, zugeordneten Tierfiguren oder -metaphern, Wohnorten, Häusern oder anderen ‚verdächtigen‘ Schauplätzen, die im Text mit pseudojüdischen Figuren in Zusammenhang gebracht werden. Versteckte, in solchen Fällen meist nur andeutungsweise als solche erkennbare Judenfiguren, die gerne an dem frühneuzeitlichen Hirngespinst des „Ewigen Juden“ bzw. Ahasver orientiert waren, der angeblich von Jesus Christus verflucht wurde und seither untot bzw. heimatlos um die Welt irrt, wurden dabei zu einem zentralen Gruselelement, einem kardinalen Affektszenario des literarischen Antisemitismus.
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde mit solchen Pathosformeln (Aby Warburg) auf den in Preußen weit verbreiteten Judenhass und seine teils schon seit Jahrhunderten existierenden Fiktionen und Verschwörungsmythen rekurriert, um damit gleichsam todsicher Angst und Spannung im Publikum zu erzeugen: Gerade weil das bloße Verdachtsmoment auf Seiten der Rezipient*innen zusätzliche affektive Energien freizusetzen vermochte, erschien es klug, unheimliche Figuren nicht explizit als jüdisch zu markieren. Aufgrund des zeitgenössischen Gefühlswissens bzw. entsprechender feeling rules in der seinerzeitigen (Populär-)Kultur lag eine solche Rezeption bei nicht-jüdischen Leser*innen affektiv nahe.
Das sogenannte Gefühlswissen regelt unsere emotionalen Reaktionen auf reale oder fiktive Gestalten oder Objekte intuitiv oder auch unbewusst, beruht aber auf Narrativen, die meist sehr alt und tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind, wie etwa biblische Geschichten, Legenden oder Mythen. Das eigenständige Wiedererkennen camouflierter Bösewichte oder ihrer Kennzeichen anhand eines solchen Gefühlswissens avancierte deshalb zu einer zentralen Emotionalisierungsstrategie, die insbesondere in der Schauerliteratur und dem späteren Horrorfilm zum festen Instrumentarium effektiver Angsterzeugung wurde. Um die zeitgenössischen Leser*innen in diese mutmaßliche Erkenntnisposition zu bringen, bedurfte es aber eben bereits eines betreffenden allgemeinen Kontextwissens über das, was Shulamit Volkov im Blick auf den modernen Antisemitismus ab Ende des 19. Jahrhunderts als kulturellen Code analysiert hat.
Dieser Code entwickelte sich in Preußen bzw. der deutschsprachigen Kultur bereits vor der Reichsgründung im Jahr 1871 und hatte seine Wurzeln im Frühantisemitismus, der sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts zu formieren begann. Zur Konstitution einer solchen breiten Rezeptionshaltung, die beispielsweise in untot umherreisenden Vampirfiguren selbständig den „Ewigen Juden“ zu erkennen vermag, bedarf es einer spezifischen „Angstkultur“, „Angstpolitik“ bzw. eines passenden Konzepts der „Angstkommunikation“ (Niklas Luhmann): „Angst wird so als eine treibende Kraft von Diskursen und als kommunikativ und medial vermittelter geschichtsmächtiger Faktor erkennbar“, wie es Falko Schmieder in einem einschlägigen Handbuchartikel resümiert. Antisemitismus sei dabei als „eine eigenständige, besonders wirkmächtige Form der Angstkommunikation zu beschreiben“, als ein „kulturell tradiertes Vorurteilsmuster, das sich als äußerst kritik- und revisionsresistent erwiesen“ habe: Mysteriöse Abstraktheit und Unfassbarkeit standen dabei stets für jenes erfundene Prinzip ‚des Juden‘, dass sich Antisemiten auch ganz ohne die Anwesenheit tatsächlicher Juden selbst ausdenken und erschaffen konnten, um es als eine welterklärende, personalisierte Realität zu konstruieren.
Dass das Genre der Schauerliteratur oder Gothic Literature spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert an der Entwicklung solcher antisemitischer Tropen mitwirkte, die sodann auch in der frühen Horror-Filmgeschichte und ihrer (intuitiven) Ausbeutung durch das Nazi-Propagandakino weitere Verbreitung fanden, ist nichts Neues. Im Vorwort ihrer Dissertation Anti-Semitism and British Gothic Literature (2004) etwa formuliert die kanadische Literaturwissenschaftlerin Carol Margaret Davison die historischen Folgen dieser von den Autor*innen nicht steuerbaren Rezeptionsphänomene ebenso nüchtern wie drastisch: „Ultimately, the Holocaust provided irrefutable testimony that Gothic literature’s anti-Semitic spectropoetics, as distilled into German Expressionist cinema and Nazi propaganda films, were not only oppressive and persistent but also fatally profound in their consequences.“ In ihrem Nachwort griff Davison die Beobachtung sodann erneut auf und fasst ihre Ergebnisse wie folgt zusammen:
Notably, the vampiric Wandering Jew featured in Nazi propaganda cinema was drawn from the terrifying phantasmagoria of German Expressionist cinema, an artistic movement which was itself influenced by Gothic literature. Such a figure was on exhibit in various German Expressionist classics, including Fritz Lang’s famous Metropolis which featured the evil Jewish alchemist-scientist Rotwang. This provenance was ironic given that the Nazis considered German Expressionism to be fostered by decadent Jewish ‘wheeler-dealer[s] and bloodthirsty Nosferatus’ who had ‘contaminated’ pure German cinema. Prior to 1940, the imagery of Jews as peripatetic parasites had been disseminated in various Nazi publications. Hitler described the Jews as vampires in Mein Kampf in 1925, and a horrifyingly illustrated issue of Julius Streicher’s Nazi newspaper, Der Stürmer, revived the Blood Libel in May of 1934. Its front cover depicted two rabbis sacrificing a group of ‘Aryan’ children and collecting their blood.
Antisemitisch lesbare Codes in Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922)
Doch wie genau funktionierte diese Angstkommunikation in der Filmgeschichte, und welche etwaigen Langzeitfolgen hatte sie bis heute? An einem der Klassiker des Vampirfilms, Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu, lässt sich das gut studieren: Obwohl der Film nur so vor Stereotypen strotzt, wie sie aus dem literarischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts bekannt sind, und diese für eine filmische Strategie der Angsterzeugung äußerst innovativ und effektiv adaptiert und weiterentwickelt hat, hat man ihn in den letzten Jahrzehnten nur selten mit diesem Thema in Verbindung gebracht, einmal abgesehen von der zitierten Studie Davisons und einigen neueren Arbeiten, die diese Verbindung dezidiert herstellen.
Aus der aktuellen Forschung sind hierzu vor allem drei Beiträge zu nennen, die sich zuletzt mit Nosferatu und Antisemitismus auseinandergesetzt haben: Zum einen J. Hobermans Essay The Twinned Evils of ‘Nosferatu’.The great film and social document illuminates a primal fear – that of foreign contagion, Patrick Colm Hogans Aufsatz Narrative Universals, Nationalism, and Sacrificial Terror. From Nosferatu to Nazism sowie Molly Harrabins jüngste, besonders lesenswerte Interpretation Racially profiled? ‘Jewish’ vampirism in Friedrich Wilhelm Murnau’s Nosferatu (1922).
Hobermann gibt seiner Verwunderung Ausdruck, dass die zwei führenden Kommentator*innen des Weimarer Kinos, Siegfried Kracauer und Lotte Eisner, es versäumten, auf die latente „Jewishness“ des bei Murnau von Max Schreck verkörperten Vampirs Nosferatu hinzuweisen. Letzterer kommuniziert brieflich mittels bizarr anmutender Hieroglyphen, unter denen sich neben hebräischen Buchstaben allerdings auch ein Davidstern findet.
Der so versteckt als eine obskure osteuropäische, jüdische Figur des Dritten, also als totaler Außenseiter jenseits fassbarer nationaler Kategorien charakterisierte Nosferatu, der öffentlich unter dem Namen Graf Orlok auftritt, kommt mit ganzen Schwärmen von Ratten in die fiktive Stadt Wisborg (gedreht in der deutschen Ostseestadt Wismar), in der sofort daraufhin eine Pandemie viele Opfer zu fordern beginnt.
Orloks hervorstechende Hakennase und seine monströse Erscheinung mit überlangen, knochigen Fingern und krallenartigen Fingernägeln, sein an ein Nagetier oder eine Ratte erinnerndes Gesicht, erinnern auf frappierende Weise an damals bereits typische antisemitische Karikaturen, wie sie später auch im Nationalsozialismus erneut auftauchten, insbesondere im von Davison erwähnten Propagandamagazin Der Stürmer. Murnau scheint sich jedoch mit Nosferatus unheimlich langen Monsterhänden an einer Rotschild-Karikatur orientiert zu haben, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts erschien.
Hinzu kommt, dass Graf Orlok alias Nosferatu als Aristokrat eine Immobilie in der Stadt kauft, um die nicht-jüdische Jungfrau Ellen mit seiner blutgierigen Todessexualität zu faszinieren und auszusaugen. Diese ambivalente Verknüpfung ansteckender Verführungskraft und dubioser Geschäftemacherei im Stile eines anonymen Immobilienhais mit der Verbreitung der Pest, die die gesamte Gesellschaft Wisborgs mit dem Tod bedroht, und nicht zuletzt das unheimliche Auftreten dieses teuflischen Vampirs, der schon rein äußerlich mit der Ekelhaftigkeit abstoßender, schädlicher Tiere verglichen werden kann, deutete tatsächlich auf unheimliche Weise auf die kommenden nationalsozialistische Propagandapraktiken und ihre konkreten Folgen im Holocaust voraus. Im NS-besetzten Polen wurden schließlich Hunderttausende von Jüdinnen und Juden aus ganz Europa in Vernichtungsghettos gesperrt, an deren Grenzen auf Schildern vor einem „Seuchengebiet“ gewarnt wurde.
Zu nennen wäre hier etwa auch Fritz Hipplers Propagandafilm „Der ewige Jude“ (1940), der mit ähnlichen Bildern wimmelnder Ratten arbeitete, um die Gefahr ‚des Juden‘ zu symbolisieren, suggestiven match cuts, wie sie auch schon 1922 bei Murnau zu sehen gewesen waren. Hogan verweist hier zudem auf die mittelalterliche Vorstellung der Juden als Bringer und Auslöser des Schwarzen Todes, der Pest, und erwähnt (wie Davison) Adolf Hitlers Tiraden über blutsaugende Juden in Mein Kampf (1925).
Hobermann wiederum stellt klar, dass Nosferatu von den Nazis keinesfalls nachweisbar als Propagandamaterial benutzt, sondern offiziell als okkultes und im Sinne der NS-Ideologie dubioses Werk geächtet wurde. Dennoch fügt Hobermann im Blick auf Hitlers Blutsauger-Metaphorik hinzu: „These and similar metaphors were picked up by followers like the Nazi ideologue Albert Rosenberg who repeatedly used quasi-biological terms to characterize Jews as a vampire bacillus infecting their German host. Once war broke out the tone grew ever more shrill as in the 1943 Nazi pamphlet, The Jewish Vampire Brings Chaos to the World.“
Wie Hobermann und Hogan stellt auch Molly Harrabin klar, dass es in solchen Analysen nicht darum gehen könne, Murnau oder anderen an der Produktion beteiligten Personen Antisemitismus oder die konkrete propagandistische Vorbereitung des „Dritten Reiches“ vorzuwerfen. Gleichwohl bleiben die Verbindungen der im literarischen Antisemitismus oder auch in judenfeindlichen Karikaturen zu kulturellen Codes oder paradigm scenarios (Ronald de Sousa) avancierten Pathosszenen teuflischer, ansteckender und tödliches Unheil bringender Figuren des sogenannten Ewigen Juden bzw. Ahasver mit der Figur Nosferatus aus heutiger Sicht verstörend.
Auffällig ist hier nicht zuletzt das ambivalente Stereotyp der Verführungskraft der Vampire gegenüber Frauen, die ihnen trotz der mörderischen Gewalt und ihrer ‚Verseuchung‘ durch den Biss, der sie selbst zu unsterblich-toten Vampirinnen macht, unwiderstehlich erscheint. Dies ist zugleich ein altes antisemitisches Phantasma, das im Nationalsozialismus in der Verfilmung der Wilhelm-Hauff-Novelle Jud Süß durch Veit Harlan besonders perfide in einer Vergewaltigungsszene inszeniert wurde, deren Ähnlichkeit zu der Begegnung Ellens mit Nosferatu in Murnaus Film auffällig ist. Auf diese motivischen Überschneidungen zwischen Harlans Film und dem Murnaus wurde bereits vielfach hingewiesen, u.a. auch bei Harrabin, Hobermann und Hogan.
2012 wandte der israelische Historiker Ofer Ashkenazi in seiner Studie Weimar Film and Modern Jewish Identity ein, dass diese Deutungen darauf hinausliefen, dem jüdischen Drehbuchschreiber Henrik Galeen, der an Murnaus Produktion beteiligt war, ostjüdischen Selbsthass zu unterstellen, und warb für eine differenziertere Betrachtung der jüdischen, theater- und filmgeschichtlichen Kontexte, aus denen heraus Galeen sein Skript geschrieben hatte. Im Grunde nehmen aber alle zitierten neueren Forschungsbeiträge eine ganz andere Perspektive ein und weisen derartige biografische Spekulationen selbst weit von sich: Es geht ihnen eben nicht um die etwaigen Intentionen Murnaus oder jüdischer Mitglieder des Produktionsteams wie Galeen, sondern um eine auf der konkreten filmischen Darstellung, ihrer Machart und ihrem kulturellen und historischen Horizont beruhende Eingrenzung naheliegender (emotionaler) Reaktionen in der Rezeption des Films bzw. um Narrative, Tropen und Stereotype, die zu jener Zeit unabhängig von der Intention der Urheber potenzielle antisemitische Lesarten zu provozieren vermochten.
„Nosferatu“ als Narrativ einer nationalistischen Säuberung?
Patrick Colm Hogan zählt die Story von Nosferatu zu den von ihm so genannten sacrificial narratives, weil die Aufopferung der schönen Ellen, die sich am Ende Nosferatu hingibt, um ihn den ersten Hahnenschrei vergessen zu lassen, im Plot zur Befreiung der Stadt von dem Vampir führt. Genauer: Da es sich bei diesem heroischen Selbstopfer der Heroine um eine rettende ‚Reinigung‘ der Gesellschaft Wisborgs – um hier nicht zuspitzend zu ergänzen: des „deutschen Volkskörpers“ – handele, sei der Film ein Paradebeispiel für die (unfreiwillige) mediale Vorbereitung eines „purgative sacrificial nationalism“ gegen einen dämonischen Feind. Hogan fühlt sich u.a. durch die Trope, wonach Vampire an einer Exponierung gegenüber der Sonne sterben, ungut an Adolf Hitlers Formulierung aus Mein Kampf erinnert, wonach es sich bei den Juden um eine „lichtscheue Rasse“ handele.
Harrabin wiederum erinnert ganz grundsätzlich daran, dass der Topos des Blutes und des Vampirs auf die DNA der westlichen Kultur und des Christentums zurückgingen: Schon im religiösen Antijudaismus spielten Ritualmordvorwürfe und die Vorstellung eines jüdischen Durstes nach christlichem (Kinder-)Blut eine zentrale Rolle. Die „vampire Jew“-Metapher sei zudem zur Publikationszeit von Nosferatu im Publikum der Weimarer Republik bereits äußerst lebendig gewesen: Nach der Niederlage von 1918 und dem antisemitischen Propagandanarrativ der Dolchstoßlegende galten ‚die Juden‘ vielen Deutschen als Verschwörer, die hinter der Schande des Vertrags von Versailles steckten und dem deutschen Volk in der Weimarer ‚Judenrepublik‘ buchstäblich das Blut aussaugten.
Immer wieder hingewiesen wurde außerdem auf weitere einschlägige historische Kontexte kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, wie die unzählige Opfer fordernde Pandemie der Spanischen Grippe, die deutsche Finanzkrise mit ihrer galoppierenden Inflation oder die Ermordung des jüdischen deutschen Außenministers Walther Rathenau durch rechtsextreme Terroristen, die ihn für einen ‚Strippenzieher‘ der von ihnen gehassten Weimarer Republik hielten. Antisemiten der Zeit dämonisierten einmal mehr die Einwanderung von Juden aus dem östlichen Europa, während Murnaus Nosferatu-Figur, wie schon die Vorbildfigur aus Bram Stokers Dracula (1897), aus Transsylvanien bzw. den Karpaten nach Deutschland einreist.
Naheliegenderweise verband sich hier in der Rezeption eine ganze Reihe (mittelalterlicher) antisemitischer Stereotype in der Figur Nosferatus, ohne dass der Film diesen Dämon explizit als Juden bezeichnen musste: Graf Orlock erinnerte unweigerlich an Brunnenvergiftung und Ansteckungsgefahr sowie an ein schädliches und gieriges Finanzgebaren samt einer halluzinierten feindlichen Übernahme der deutschen Gesellschaft durch eine Schwemme von ‚Ostjuden‘. Hinzu kommt im Film die gendertheoretisch analysierbare Betonung einer latenten Bedrohung der Gesellschaft durch lesende Frauen und die insgeheime Affinität des Weiblichen mit dem Vampir Nosferatu: Murnaus Protagonistin Ellen Hutter (Greta Schröder) liest trotz eindringlicher Warnungen ihres Mannes in einem Buch über Vampire und gibt sich danach in einer ambivalenten Selbstopferung dem Vampir hin, den sie in der filmischen Inszenierung fast noch mehr sehnsüchtig zu erwarten scheint als ihren Mann Thomas Hutter (Gustav von Wangenheim).
Letzterer reist im Auftrag eines Immobilienmaklers in die Karpaten, um Orlock seinen Immobilienvertrag zu präsentieren, und kann den blutsaugenden Bissen des obskuren Grafen nur mit knapper Not entkommen. Hutter muss vor seiner Rückkehr das Krankenbett hüten und kehrt erst nach dem Vampir geschwächt nach Wisborg zurück. In einer berühmten morbiden Einstellung sieht Ellen inmitten von Dünengräbern sehnend auf das Meer hinaus, obwohl sie weiß, dass ihr Mann auf dem Landwege nach Hause kommen muss: Es ist der Vampir, der, in einem Sarg mit rattenverseuchter Erde versteckt, als blinder Passagier auf einem Schiff anreist, dessen Besatzung er unterwegs Schritt für Schritt umbringt. Handfester wird die Andeutung sexueller Hörigkeit Ellens gegenüber Nosferatu schließlich in der Inszenierung ihres orgiastischen Aufbäumens beim Eintreffen des Blutsaugers.
Das hochgradig emotionalisierende Amalgam der hier im Stummfilm auch durch die Zwischentitel unterstrichenen Gegensätze wie Gesundheit und Krankheit, Männlichkeit und Weiblichkeit, Osten und Westen, Eigenem und Fremdem oder auch Mensch und Tier/Ungeziefer erzeugt in Nosferatu einen kraftvoll wirkenden ästhetischen Algorithmus, der alle diese bekannten Dichotomien in einem rezeptionsästhetischen Brennpunkt zusammenfallen lässt – der Angst vor den Juden. Sie seien „unser Unglück“, formulierte der Historiker Heinrich von Treitschke 1879 und löste damit den sogenannten Antisemitismusstreit im deutschen Kaiserreich aus.
Überwältigungsästhetik zwecks Steigerung des Grauens: Robert Eggers’ aktuelle Adaption von „Nosferatu“ (Dezember 2024)
Robert Eggers’ international mit großem filmkritischem Tamtam begrüßtes Nosferatu-Remake musste irgendwie mit dieser schweren Hypothek umgehen. Der Film konsterniert jedoch damit, die skizzierte Problematik komplett zu ignorieren und sogar nur noch weiter auf die Spitze zu treiben. Man kann es so zusammenfassen: Die aktuelle Version von Nosferatu folgt Murnaus Film-Klassiker in weiten Teilen und fügt einige Figuren und Plot-Elemente hinzu, die dazu dienen, den Horror und die Angsterzeugungsstrategien des Vorgängers nach heutigen Kino-Maßstäben zu multiplizieren. Der Film schafft dabei berückende neue Angst-Bilder und eine beklemmende Überwältigungsästhetik des Grauens.
Erwartbarer Weise spielte das Thema des vorliegenden Beitrags im Feuilleton keine Rolle. In der Süddeutschen Zeitung wurde nach einer Filmbesprechung eine ganze illustrierte Seite zu Murnaus Klassiker nachgeschoben, auf der das Wort Antisemitismus fehlte. In seiner wie immer lustig zu lesenden Besprechung für Neues Deutschland ignoriert auch Thomas Blum die Thematik völlig und versucht stattdessen, die durch die Nosferatu-Figur erzeugten Ängste und Ressentiments ironisch auf den aktuellen politischen Gegner der deutschen Linken zu lenken:
Der Schauspieler Max Schreck, der seinerzeit den bedrohlichen Vampir spielte, den hochgewachsenen »Graf Orlok« – physiognomisch frappierend an den gegenwärtigen CDU-Vorsitzenden gemahnend und derart gewissermaßen 100 Jahre in die Zukunft weisend –, hatte dabei jedenfalls seinen Anteil an der Gruselwirkung. So wie Friedrich Merz seinen in unserer Zeit hat.
In der jetzt ins Kino kommenden Neuinterpretation von Murnaus Filmklassiker, inszeniert von dem für seinen hyperrealistischen Stil bekannten Horrorfilmregisseur Robert Eggers, ist der Vampir Orlok angelegt als selbstsüchtiger Tyrann und autoritäres, arrogantes Ekelpaket. (Schon wieder denkt man an Personen aus der Bundespolitik!)
Diese Blödelei mag ein netter Versuch sein, den Leser*innen eine aktuelle kritische politische Lesart nahezulegen, übersieht aber das zentrale Problem auch an Eggers’ Film, das sich aus dem hier skizzierten historischen Rezeptionsgefahren ergibt, die nach 1945 keineswegs unmöglich geworden sind: Es gibt bei Eggers sogar noch viel mehr Ratten, mehr erregte Frauen, die sich explizit nach Sex mit großen, verrottenden Dämonen sehnen. Wenn sie diese Vergewaltigung erleben und dabei offenbar kosmische Orgasmen haben (Lilly-Rose Depp als Ellen Hutter und Emma Corrin als Anna Harding), arbeitet der Film mit postmodernen Gewalt-Porno- oder Snuff-Video-Anleihen, wie sie im Netz seit Langem zur Alltagsästhetik geworden sind.
Es gibt also nur noch mehr Ekel, mehr pittoresk kotzende Pestopfer und einen stoßweise ganze Blutschwälle herauswürgenden Nosferatu (Bill Skarsgård), dessen von einem langgezogenen Schrei begleiteter Tod am Ende einem letzten schmerzvollen sexuellen Höhepunkt gleicht. Ellen sagt in einer der pornoartigen Szenen des Films provozierend zu ihrem Mann, er habe sie nie so sehr befriedigen können wie „er“, Nosferatu. Die Folge ist ein gewaltsamer Sexualakt, bei dem Ellen ihren Mann Thomas leidenschaftlich anfeuert, so weiterzumachen und ihr Herz zu küssen, um die schlürfende Blutsauge-Praxis Graf Orloks zu imitieren, der seine Opfer in Eggers’ Film meist nicht an der Halsschlagader, sondern mitten in die Brust beißt.
Im Zeichen einer Ästhetik sexualisierter Gewalt
Lilly-Rose Depp, die das Zentrum des Films bildet und mit ihrer schauspielerischen Leistung gewiss zum Superstar avancieren wird, sieht in Nosferatu aus wie eine erwachsene, sexualisierte Doppelgängerin von Wednesday Addams (Christina Ricci) in The Addams Family (1991) und bleibt mit ihrem introvertierten, melancholischen Spiel im Gedächtnis. Um alle nur erdenklichen Tropen des Body Genres extremer Horrorfilme mitzunehmen, hat Eggers allerdings auch noch William Friedkins The Exorcist (1973) gecovert und lässt Depp eine von einem Dämonen besessene Frau spielen, die gegen ihre konvulsivischen Anfälle mit Äther betäubt, festgebunden und an ihrer Hand mit einem spitzen Gegenstand durchstochen wird. Das ändert jedoch alles nichts daran, dass ihre Rolle kaum der ästhetischen Emanzipation unterdrückten und verschwiegenen weiblichen Begehrens zuarbeitet, wie es die Schauspielerin selbst im Interview gedeutet hat, sondern vielmehr einen gewaltsamen, misogynen Male Gaze adressiert. Viel expliziter als Murnaus Werk bedient sich die Erotik von Eggers’ Film großzügig aus dem Bilderarsenal sexualisierter Gewalt gegen Frauen.
Auch Ellens Freundin Anna wird bei Eggers von dem Vampir mehrfach heimgesucht und beginnt bei der Beschreibung des Traumas, unter seinem Körper bei der ersten Begegnung fast erstickt zu sein, wild zu kichern an, als habe es ihr in Wahrheit gefallen. Die Darstellerin Emma Corrin musste sich für die dem vorausgehende Szene von inkontinenten Ratten bekrabbeln lassen. Nicht weniger 5.000 davon wurden im Film eingesetzt, und Corrin erinnert den bizarren Dreh wie folgt:
In that scene, Corrin had to lie, half-naked, covered in rats. “Thirty of them were on my bare chest,” Corrin says. “Honestly, I was being very brave about it. I was very much stoic, being very British about it, really. And then we were in the scene, and I had no top on, and it was just horrible. The smell is something that you can’t imagine. And the incontinence was a thing that I really didn’t expect, but was terrible… It was grim. And yeah, they loved my hair, so they would go and sit in the wig and get all up in my face. Do you watch I’m a Celebrity…Get Me Out of Here!? You know when they had to put their hand in the box with the tarantulas? It was a bit like that, I won’t lie.”
Die Botschaft all dessen soll wohl sein: Man kann machen, was man will, am Ende wünschen es sich Frauen eben doch insgeheim, vom Tod selbst vergewaltigt und ausgelutscht zu werden, bis sie unter dem verfaulenden Monster lustvoll ihren Geist aushauchen. Das hätte Thilo Mischke wohl kaum besser vermitteln können.
Adolf Hitlers „Mein Kampf“ lässt erneut schön grüßen
Mit diesem ganzen misogynen Unsinn nicht genug: Wie in unzähligen NS-Propaganda-Darstellungen feindlicher Bedrohungen oder eines die Welt zerstörenden Judentums wird Nosferatus Knochenhand bei Eggers als riesiger Schatten dargestellt, der am Ende dräuend über Wisborg schwebt. In seinem modernen Horrorfilm finden wir zudem das Siegel Salomons auf Schritt und Tritt, in einer Szene kommentiert mit dem Hinweis, das Symbol stehe für den Wunsch Nosferatus, alles Leben auf der Erde auszulöschen: „Its desire is to consume all life on earth.“
Das hätte Adolf Hitler über das „Weltjudentum“ tatsächlich kaum anders ausgedrückt. Am Ende des judenfeindlichen Hauptkapitels von Mein Kampf schrieb er bekanntlich folgende Sätze, deren Erlösungsantisemitismus (Saul Friedländer) gezielt auf ein uraltes christliches Sendungsbewusstsein rekurrieren, das auch im „purgative sacrificial nationalism“ (Hogan) und in jedem herkömmlichen Dracula-Film zur Abwehr des Vampirs durch Kruzifixe etc. symbolisch eine Rolle spielen kann:
Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herren.
Bei dem „Key of Salomon“, wie es u.a. auch in verschiedenen Variationen in Fritz Langs und Thea von Harbous Metropolis (1927) prominent Eingang ins Kino der Weimarer Republik fand, handelt sich um ein Zeichen mit ambivalenter Geschichte, das in der Moderne zu einem Ikon des Horrors avancierte und bei Eggers nicht von ungefähr wahlweise an das Pentagramm oder auch den Davidstern erinnert.
Das aus babylonischer Zeit (3500 v.u.Z.) stammende Pentagramm stand im antiken Griechenland zunächst für Hygeia, die Göttin der Gesundheit. 150-300 Jahre vor unserer Zeitrechnung wurde es als Wappen Jerusalems und als Zeichen für Reinheit, Gerechtigkeit, Gnade und Wissen verwendet. Im frühen Christentum galt es als Symbol für die fünf Wunden Christi am Kreuz. Im Mittelalter wurde das Pentagramm mit der Wahrheit und dem Werk Gottes assoziiert. Man sah in ihm deshalb auch den Mann als angebliche Krone der Schöpfung, als inkarnierten Gott Jesus Christus, wobei das männliche Geschlechtsteil bei abgespreizten Armen und Beinen innerhalb der geometrischen Figur genau den Mittelpunkt des Symbols markierte. Später, zu Zeiten der Inquisition, wertete man das Pentagramm jedoch zum Symbol okkulter, teuflischer (Hexen-)Praktiken um. Damit bot es sich um 1900 auch als Symbol für eine angebliche jüdische Weltverschwörung an und fand sich folgerichtig auch auf einer der ersten Ausgaben der Protokolle der Weisen von Zion.
In Murnaus’ Nosferatu kommt das Pentagramm jedoch noch gar nicht vor, wenn man einmal von den obskuren Hieroglyphen auf Orlocks Brief absieht, auf dem man wie gesagt (ganz klein und in der kurzen Einstellung kaum wahrnehmbar) einen dem Pentagramm entfernt gleichenden Davidstern sehen kann. In Eggers’ Remake jedoch ist es dagegen allgegenwärtig: Auf Nosferatus Sarg, auf einem obskuren Okkultismus-Buch, das Prof. Albin Eberhart Von Franz (Willem Dafoe) bei seinen Recherchen zu Rate zieht, als Kreidekritzelei in der Gefängniszelle von Nosferatus wahnsinnigem Diener Herr Knock (Simon McBurney), und noch in weiteren Sequenzen. Damit es ja keiner übersieht, zeigt es der Film in regelmäßigen Rhythmen und schreibt sich damit auf unnötige Weise in eine verhängnisvolle Semiotik-Tradition ein, die nun schon seit Jahrhunderten durch die antisemitische Aneignung und Umdeutung des betreffenden Symbols kontaminiert ist.
Abschließend kann diese konsternierende Beobachtung mit einem anderen prominenten Fall vergleichen, der wie Murnaus Nosferatu ursprünglich zu jenem Genre einer filmischen Bearbeitung der deutschen Niederlage von 1918 zählt, die der amerikanische Filmwissenschaftler Anton Kaes 2009 in seiner lesenswerten Studie Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War behandelt hat. Auch wenn es sich bei Lewis Milestones erster Verfilmung von Erich Maria Remarques Weltbestseller Im Westen nichts Neues (1930) um eine Hollywood-Produktion und nicht um Weimarer Kino handelt und das Werk daher in Kaes’ Studie nur am Ende kurz behandelt wird, ist auffällig, dass eine viel beachtete aktuelle Neuverfilmung von Milestones Anti-Kriegsfilmklassiker ähnliche Fehler macht wie Eggers’ Remake von Nosferatu.
Zunächst einmal ist es sicher kein Zufall, dass Nosferatu bei Murnau und Eggers Orlok heißt, was im Niederländischen (Oorlog) und als Lehnwort im Norwegischen (Orlog) Krieg bzw. Kriegsschiff bedeutet: Als Untoter funktionierte Nosferatu in der frühen Weimarer Republik laut Kaes als Metapher für das in der Weimarer Republik nachhallende deutsche Kriegstrauma. Abermals wird damit aber auch die Problematik paralleler antisemitischer Andeutungen oder Rezeptionsphänomene greifbar, wenn das Monster Orlok implizit mit Stereotypen ‚des Juden‘ flankiert wird, was diese Chimäre als Ursprung von Krieg und Massenmord erscheinen lässt. Ähnlich wie im Fall von Edward Bergers Remake von All Quiet on the Western Front (2022) jedenfalls, in dem am Ende mit der judenfeindlichen NS-Propagandasymbolik der Dolchstoßlegende hantiert wird, die sich in der weltberühmten ersten Verfilmung durch Lewis Milestone noch gar nicht so fand, lässt einen die aktuelle Version von Nosferatu ratlos zurück: Ohne jede Not verschlimmbessern diese Oscar-trächtigen Filme des Hollywood-Gegenwartskinos ihre historischen Vorlagen und erwecken damit den Eindruck vollkommener Ahnungslosigkeit ihrer Regisseure und Produktionsteams. Sowohl Bergers als auch Eggers’ Film tradieren und aktualisieren (ungewollt) antisemitische Narrative mittels einer Überwältigungsästhetik, die anders als Murnaus Stummfilm-Klassiker ein heutiges Millionenpublikum beeindruckt. Letztlich wird es damit immer deutlicher, wie relevant und wichtig kritische Forschungen zum Kino der Weimarer Republik sind, deren Ergebnisse sich nach wie vor kaum herumgesprochen haben, geschweige denn unter den Starregisseuren unserer Zeit.