Szenen einer Fast-Ehe

In „Die vorletzte Frau“ erzählt Katja Oskamp eine alte Geschichte ganz neu und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist ihr Professor, sie seine Studentin. Sie hängt an seinen Lippen, wenn er doziert. Er an den ihren auch – und das im wortwörtlichen Sinne – nach einem gemeinsamen Kneipenbesuch. Der dann so endet: „Als wir die Kneipe verließen, griff ich Tosch zwischen die Beine. Das war neu. Tosch legte mich vor dem Joseph Pub mit Krawumm auf die Motorhaube eines parkenden Autos.“

Das lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Freilich: Wer die bisherigen Bücher der 1970 in Leipzig geborenen Katja Oskamp kennt, weiß, dass die sich noch nie gescheut hat, auf den Punkt zu kommen, und ihren Fokus auch gern auf Dinge richtet, um die andere lieber scheu herumerzählen. Bei Oskamp hingegen heißt es: Hauptsache genau, Hauptsache ehrlich, Hauptsache ohne Weichzeichner. Dass bei dieser Methode auch ein gewisses Risiko besteht, weil sich Menschen, deren Intimstes auf diese Weise preisgegeben wird, vor Leserinnen und Lesern bloßgestellt sehen könnten, nimmt die Autorin dabei in Kauf – no risk, no book.

Tosch also, wie die Erzählerin ihren Partner nennt: 19 Jahre älter als die Dreißigjährige, Schweizer, Gastdozent am Leipziger Literaturinstitut, ein „nicht sonderlich große[r], aber kräftige[r] Kerl mit Bart, Bauchansatz und Bauarbeiterhänden.“ Und dem gewissen Etwas, das die gerade mit dem Schreiben beginnende Mutter einer kleinen Tochter magisch anzieht.

Noch ist er freilich verheiratet. In der Schweiz, mit einer Schauspielerin ohne Rollen, die ihm bei jeder Andeutung, dass er sie verlassen könnte, mit Suizid droht, und seiner neuen Leipziger Eroberung böse E-Mails schreibt.

Doch auch die namenlose Ich-Erzählerin plagt sich in einer wenig erfüllenden Ehe mit einem aus Holland stammenden Dirigenten, dem „GMD“, wie er im Buch genannt wird, herum, quält sich mit Selbstzweifeln und sieht sich die meiste Zeit als „totes, ein Reihenhaus putzendes Neutrum“. Deshalb kommt ihr Tosch genauso gelegen wie sie ihm. Und nachdem die Familienprobe aufs Exempel gemacht ist, der Schweizer sich mit der kleinen Tochter Paula seiner „vorletzten Frau“ auf’s Beste versteht und später, als aus dem Mädchen eine begabte junge Frau geworden ist, nicht selten sogar als sprudelnde Quelle für ihren von der Schule nicht hundertprozentig zu stillenden Wissensdurst dient, sind die beiden in den kommenden fast zwei Jahrzehnten ein Paar. Jeder scheint auf seine Weise gefunden zu haben, was man in den bisherigen Beziehungen vermisste – eine Erkenntnis, die in Oskamps Prosa ein wenig geerdeter klingt: „Tosch liebte meine Texte und meinen Hintern. Ich liebte Toschs Pranken und sein Lektorat.“ Offensichtlich eine Win-win-Beziehung.

Aber auch Win-win-Beziehungen halten nicht ewig. Zumal wenn einer der Partner schwerkrank wird und der andere unversehens in die Rolle des Pflegenden rutscht. Hier ist es Tosch, der nach einer unvermuteten ärztlichen Diagnose plötzlich um sein Leben fürchten muss. Fortan häufen sich – offenbar über Jahre hinweg – Krankenhausaufenthalte, Operationen und Genesungszeiten, die der Rekonvaleszent sich weigert, in Reha-Kliniken zu verbringen. Und während sie sich aufopfert, nach Zürich oder Basel fährt, wenn er von dort nach Berlin geholt werden will, und ihn wieder bei seinen Schweizer Ärzten abliefert, wenn auf Prostata- und Herzoperationen Strahlentherapie und Hormonentzugstherapie folgen, die, jede für sich, zahlreiche lästige Nebenwirkungen besitzen, merkt sie, wie sich auch ihr Leben rasant verändert und sie sich plötzlich in einer „Drei-Komponenten-Krise“ wiederfindet. Aus der Geliebten ist die Krankenschwester geworden, die als Mutter immer weniger von der schnell selbständig gewordenen Tochter gebraucht wird und zur selben Zeit erleben muss, dass der Literaturbetrieb ihr scheinbar den Rücken zugekehrt hat.

Was folgt, ist jene Zeit, die Katja Oskamp bereits in ihrem bis heute erfolgreichsten Buch – Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin (2019) – beschrieben hat. Aus der Autorin, die sich für gescheitert hält, nachdem ein Verlag nach dem anderen ihr aktuelles Manuskript abgelehnt hat, wird mit Hilfe einer ein Marzahner Kosmetikstudio betreibenden Bekannten und natürlich auch mit dem Zuspruch „Mach es!“ des von der Idee begeisterten Tosch – „allein das Wort Fußpflege und die Bilder, die es erzeugte, Tosch fielen sofort Fußgeschichten aller Art ein“ – eine Fußpflegerin. Die findet sich plötzlich „zwischen Hochkultur und Niedriglohnsektor“ wieder, kommt mit der Situation aber auch deshalb gut zurecht, weil sie sich ohnehin im Spannungsfeld zwischen „oben“ und „unten“ immer als jemand gesehen hatte, der lieber unten war. Und weil sie bei der zurückliegenden Pflege des Geliebten nur allzu häufig zu seinen Füßen gekniet hatte, ist ihr neuer Job einer, der ihr alles andere als Überwindung abfordert.

Katja Oskamps Roman zerfällt wie jedes klassische Bühnenstück in fünf Teile (Akte). Und diese wiederum enthalten zahlreiche kleine Szenen mit treffenden, meist kurzen Überschriften. Nur wenige davon erstrecken sich über mehr als eineinhalb Buchseiten. Das verleiht dem Ganzen einerseits den Anmut einer Anekdotensammlung. Andererseits reizt die Fünfteilung aber auch dazu, das aristotelische Dramenmodell an den Text anzulegen. Und das funktioniert ganz gut, mit ansteigender Handlung, Höhepunkt, Peripetie, retardierendem Moment und allem anderen, was dazugehört. Doch steht am Ende wirklich, wie es die Theorie verlangt, eine Katastrophe? Ein bisschen Unmut klingt durch, wenn Tosch sie schließlich, indem er plötzlich eine neue Frau an seiner Seite hat, zu seiner „vorletzten Frau“ macht. Aber die Frage, „ob alles so gekommen wäre, wie es gekommen war, wenn Tosch während der neunzehn Jahre nicht krank und ich während der neunzehn Jahre nicht alt geworden wäre“, ist wohl eher müßig.

Es ist eine alte Geschichte. Doch Katja Oskamp erzählt sie ganz neu. Und so, dass Leserinnen und Leser, die sich ein bisschen auskennen in der literarischen Welt, nicht lange brauchen, bis sie erkennen, nach welchen Vorbildern die beiden im Zentrum des kleinen Romans stehenden Figuren gearbeitet sind. Doch ist es wirklich wichtig, wenn man weiß, dass sich hinter Tosch der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann (Jahrgang 1950) verbirgt? Und hinter der Ich-Erzählerin die Autorin selbst? Hürlimann lehrte von 2000 bis 2001 drei Semester am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Oskamp schloss ihre Ausbildung daselbst 2002 mit einem Diplom ab. Ein Jahr später erschien bei Ammann in Zürich ihr Erzählungsband Halbschwimmer mit neun noch in der DDR, wo die Autorin aufwuchs, angesiedelten Texten, ein respektables Debüt. Hürlimann selbst hat in seinen 2018er Roman Heimkehr eine fantasievolle Episode eingeflochten, in der eine nackt wie Aphrodite dem Meer entsteigende dreifache Aktivistin aus dem VEB Funkwerke Berlin-Köpenick seinem Helden Heinrich Übel neuen Lebensmut einpflanzt. Ein Schelm, wer dabei an die Verfasserin von Die vorletzte Frau denkt.

Titelbild

Katja Oskamp: Die vorletzte Frau. Roman.
park x ullstein, Berlin 2024.
207 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783988160201

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch