„Charakter des Sammelns – ewig erneuerte Begierde“

Freuds Notizbücher waren nicht für Dritte gedacht – dank ihrer hervorragenden Edition sind sie jetzt aber zu einer Grube Messel der Psychoanalysegeschichte geworden

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum hatte Freud die Niederschrift des Falls „Dora“ beendet (Pseudonym für Ida Bauer, die als 18jährige „trotz ihres Sträubens“ von ihren Eltern gezwungen worden war, „daß sie in meine Behandlung treten solle“ – so Freud in der von ihm erst einige Jahre später (1905) veröffentlichten Krankengeschichte –, da schrieb er am 26. Januar1901 in eines seiner vierzehn in den Sigmund Freud Papers der Library of Congress (Washington, D.C.) aufbewahrten Notizbücher: „Die nächsten 50 Neurosen der Ordination für Publikation zur Ätiologie verwerthen.“ Seine Notizen sind jetzt in einer Druckfassung erschienen, die der Edition von Sigmund Freuds Tagebuch 1929-1939 (auch Kürzeste Chronik genannt), die Michael Molnar 1996 herausgegeben hat, in nichts nachsteht. Das gilt sowohl für die kenntnisreichen Kommentierungen wie auch für die Sorgfalt, mit der Albrecht Hirschmüller und Christfried Tögel die Bilder ausgewählt haben, die Freuds Notizen und die Anmerkungen der Herausgeber illustrieren. Im Anhang des Buches erhält man ein Schlagwort-, ein Abbildungs-, ein Orts- und ein Namenregister sowie ein Literaturverzeichnis und ein Verzeichnis der in den Kommentaren erwähnten Internet-Links, wodurch Recherchen zur Geschichte der Psychoanalyse erheblich erleichtert werden.

Um Freuds größtenteils in Kurrentschrift, teils aber auch in Gabelsberger Stenographie notierte Aufzeichnungen zu entschlüsseln, die zudem oftmals nur in Abkürzungen vorliegen (die von den Herausgebern in Kursivschrift ergänzt wurden, eine editorische Besonderheit, die in dieser Rezension in den nachfolgenden Zitaten übernommen wird), bedurfte es detektivischer Fähigkeiten. Es mussten allerlei Adressen, Telefonnummern, Fahrpläne, Einträge zu Einnahmen und Ausgaben, Autoren und Titel von Büchern sowie Namen von Antiquitätenhändlern aufgeklärt werden, bei denen Freud Stücke für seine Sammlung erwerben wollte. Außerdem mussten die Angaben zu Patienten, die Freud behandelte, sowie zu Schülern eruiert werden. In einem Eintrag aus dem Jahr 1925 sind die folgenden „Kandidaten“ aufgeführt, womit aber, wie die Herausgeber anmerken, nicht die „für eine psychoanalytische Ausbildung“ vorgesehenen, sondern die „Anwärter auf einen Analyseplatz“ gemeint sind. Die Fragezeichen bedeuten möglicherweise, dass die Termine noch offen sind:

Blumenthal
Redlich
Liebmann
Sterling ?
Weil ?
Schlesinger ?
Prinzessin Georg ?
Ruth ?
Dieterle?
Mark ?
Money Kyrle ?

Zu jedem der Genannten werden Geburts- und Sterbejahr und – wenn möglich – auch weiterführende Literatur angegeben. Sie kamen, um bei Freud die Kunst des Psychoanalysierens am eigenen Leib zu erfahren, oder besser gesagt: an der eigenen Seele zu erleben. 1904 hatte Freud öffentlich zur Kenntnis gegeben, dass er „eine Deutungskunst ausgebildet“ habe (Die Freudsche psychoanalytische Methode – Herv. i. Orig.). Zwei Jahrzehnte später hob er dann den „Triumph für die Deutungskunst der Psychoanalyse“ noch einmal hervor (in: „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“, 1923). Ein Eintrag aus dem Jahr 1901 lautet denn auch: „Die Nachahmung in Kunst ist eigentlich ein ganz ähnlicher Fall wie mein Vorhersagen in der Therapie.“

In Freuds Notizbüchern tauchen erstmals Begriffe auf, die später in den psychoanalytischen Sprachgebrauch eingehen sollten (zum Beispiel 1901: „erogene Zonen“). Aber auch Beobachtungen, die er im Verlauf von Behandlungen machte, oder Geschehnisse, die ihm im Alltag begegneten, fügte er umformuliert in seine Schriften wieder ein. So heißt es 1901 zum Beispiel: „Kein Geld in Trafik mitgenommen.“ Und noch im selben Jahr wird dieser Vorfall in der Psychopathologie des Alltagslebens als Exempel für ein „kleines Versäumnis“ angeführt. Es gibt aber auch stichpunktartige Notizen zu psychischen und somatischen Beschwerden, an denen Freud litt. So notierte er im September 1903, als er sich mit Minna Bernays in München aufhielt, „arge Angst und Herzschmerzen“ und einen „Magenanfall“. Kurz darauf reiste er mit seiner Schwägerin nach Meran weiter – wobei es in Kufstein zu einem Zwischenaufenthalt kam. Dort fand Freud an einer Hauswand eine Inschrift, die er notierte. Dank der Recherchen der Herausgeber seiner Notizbücher kann man sie noch heute im Internet lesen (http://baeckereitechnik-beyer.de/rustikale-backoefen.html – Aufruf: 01.03.2025), wenngleich in einer Schreibweise, die von der folgenden Freuds geringfügig abweicht:

Früh
Eh der Tag noch graut
Morgens wenn die Erde thaut
Müßen Bäcker wachen
Brot und Semmel machen
Dies wär eine schöne Kunst
Hätten sie das Mehl
umsunst

Warum interessierte sich Freud für diesen unsinnig-sinnigen Vers? Das wissen wir nicht. Um den Titel eines Theaterstücks von Christian Dietrich Grabbe zu variieren: Scherze, Satire, Ironie und tiefere Bedeutungen wechseln sich in Freuds Notizbüchern in rascher Folge ab – und ergänzen einander oft in verblüffender Art und Weise. So notierte er 1909 beispielsweise: „Character des Sammelns – ewig erneuerte Begierde“. Und dann fügte der passionierte Antiquitätensammler Sigmund Freud trocken hinzu: „Gegensatz zur Ehephantasie“.

Mit seiner Schwägerin war er mehrfach auf Reisen. 1907 will er mit ihr nach Rom, doch Minna Bernays kehrt „mit Rücksicht auf ihre Gesundheit“ – wie es in einer Anmerkung der Herausgeber heißt – in Florenz um und fährt zurück nach Wien. Freud muss die „Reise als ungekrönter König“ fortsetzen (dieser und die folgenden Einträge stehen im Notizbuch von 1907). In Rom lässt er seinen Gedanken dann freien Lauf: „[…] in Phantasie Geschäft [die ärztliche Praxis – B.N.] aufgeben, Archäologie widmen, frei von Familie mit Erleben des 51 J.“ So alt ist Freud jetzt – doch „Ruhe und Behagen kenne ich nicht. Ich muß immer etwas thun, wenigstens rauchen“. Freud notiert „Bedürfnislosigkeit mit Einsamkeit“. Am 18. September 1907 steht er dann in der Kirche St. Pietro in Vincoli al Colle Oppio vor einer fast zweieinhalb Meter hohen Monomentalskulptur und bewundert diesen Moses des Michelangelo. Vier Tage später fasst er seine (Miss-)Empfingen so zusammen: „Hauptergebniß des Römischen Aufenthalts, daß ich mir winzig klein vorkomme und alles meinige wertlos.“ Zwei Tage später weiß sich Freud aber schon wieder zu trösten. Jetzt heißt es: „Ich glaube mein Ahnherr Hannibal wär hier [in Rom – B.N.] auch nicht glücklicher gewesen.“ Mit dem „Ahnherrn“ ist der „Lieblingsheld meiner Gymnasialjahre“ gemeint, dessen Mut und Kampfeswille Freud bewunderte. In der Traumdeutung heißt es dazu: „Als dann […] die antisemitischen Regungen unter den Kameraden mahnten, Stellung zu nehmen, da hob sich die Gestalt des semitischen Feldherrn [Hannibal – B.N.] noch höher in meinen Augen.“

In Freuds Notizbüchern finden sich immer wieder geschliffene Formulierungen. Sie könnten als Aphorismen durchgehen. Zum Beispiel: „Metaphysik Wunschdelir der auf Religion verzichtenden Menschheit“ (1908). Oder: „Intrauterinleben auf Weg der Phantasie Wurzel des Glaubens an die Unsterblichkeit – Verlegung in die Zukunft anstatt Vergangenheit […]“ (1908). Die Übereinstimmung individueller Erinnerungen und kollektiver Erfahrungen drückt Freud in folgendem Sprach-Bild aus: „Wie man an den schwim[m]enden Korkstücken das ganze Netz herauszieht so an den KinderErinnerungen die ganze Geschichte der Menschheit“ (1903). Ja, man kann Freuds Notizen als „Korkstücke“ auffassen, mit denen zwar nicht sein „ganzes“ Gedankennetz, wohl aber Teile seines Gemütslebens ans Tageslicht zu bringen sind.

So heißt es 1909: „Wie Zug abwechselnd durch Tunnels und über offenes Geleise fährt, dabei derselbe bleibt, nur nicht gesehen wird, so geht Gedankengang durch Bw und Ubw“. Im März 1910 notiert Freud das Wort „Fackelangriff“. Kurz darauf kommt es tatsächlich zu einem Angriff. In der von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel kann man jetzt lesen: „Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäftigung geiler Rationalisten, die alles in der Welt auf sexuelle Ursachen zurückführen, mit Ausnahme ihrer Beschäftigung.“ Anlass für diese Polemik ist ein Vortrag, den Fritz Wittels im Januar 1910 unter dem Titel Die „Fackel“-Neurose in der Mittwoch-Gesellschaft gehalten hat. Dieser Vortrag wird in den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ausführlich referiert (Band II: 1908-1910, S. 346ff.). Die Herausgeber der Notizbücher weisen nicht darauf hin, wohl aber auf zwei Briefstellen aus der Korrespondenz Freuds mit Ferenczi. Dort ereifert er sich über die „begabe Bestie“ Karl Kraus (Freud am 13. Februar 1910), „ein toller Schwachsinniger mit großer schauspielerischer Begabung“ (Freud am 12. April 1910). Hätte Kraus Freuds Notizbücher gekannt, er hätte dort noch reichlich Stoff für Polemik gefunden – etwa: „Cravatte – Penissymbol – hängend – Unzufriedenheit mit Penis“ (1910); oder: „Liebe zum Penis – Wurzel der Homosexualität“ (1905); oder: „[…] steigen für Erection“; oder: „Claustrophobie = Virginitäts-Deflorationsangst“ (1907); oder: „Der Fuß coitirt die Erde“ (1910). Ist am Ende nicht alles „Glück – erfüllte Perversion“ (1901)? Ja, „Wünsche ausführen heisst sie begraben“ (1907).

Anlässlich seiner Silberhochzeit am 14. September 1911 notiert Freud: „Nach 25 J. Ehe gehalten [–] Arbeit gethan [–] Vorbereit[un]gen erledigt. Was jetzt bis zum vielleicht nahen Ende kommt, ist Tag für Tag das Definitive.“ Dank ihrer Akribie können die Herausgeber der Notizbücher viele der kurzen Halbsätze aufklären, darunter auch solche Einträge, die auf den ersten Blick unverständlich erscheinen. Das gelingt ihnen bisweilen nicht nur buchstäblich, sondern auch bildlich. Zum Beispiel bei dieser Notiz Freuds aus dem Jahr 1901: „Alfred Russo, der Artikel zu Kaninchenzucht schreibt“. Im Kommentar heißt es dazu: „Möglicherweise ein Patient“ (Freuds). Es folgt ein Hinweis auf Russos Anleitung zur praktischen Kaninchenzucht aus dem Jahr 1903, versehen mit der Abbildung des Buchcovers.

1935 notiert Freud: „Konrad Schmidt“ [–] „Pastor in Gleiwitz“ [–] „oh[ne] J[ahr]“ [–] „Im Anfang war das Wort“. Den Herausgebern gelingt auch die Entschlüsselung dieser kryptischen Wortfolge. Sie stellen fest: „Konradt Schmidt (1863-1941) war ein Theologe“. Von ihm erschien 1919 „in einem kleinen Verlag in Gleiwitz“ – „Oberschlesien; heute Gliwice, Polen“ – „ein Büchlein von 32 Seiten“, in dem er zeigen wollte, „daß im Hebräischen Wortspiele durch gleichlautende Worte mit unterschiedlicher Bedeutung existieren“. Die Herausgeber merken dazu an: Schmidts „Idee hat Bezug zu Freuds Gedanken der Wichtigkeit von ‚Wortbrücken‘“. Abgebildet ist das Faksimile einer 1919 in der Theologischen Literaturzeitung erschienenen Rezension zu Konrad Schmidts Buch Am Anfang war das Wort. Doch: „Wer Freud auf diese Schrift aufmerksam gemacht haben könnte, ist unklar.“ Bei so viel Liebe zum Detail ist es verwunderlich, dass an wenigen, wenngleich bedeutsamen Stellen missverständliche oder gar keine Kommentare zu finden sind.

So ergänzen die Herausgeber Freuds Eintrag „Kassowitz 14 Aug Wien Geroldgasse 7“ zwar mit einer Portraitphotographie des Genannten und fügen die Mitteilung „14.8.1912: Max Kassowitz 70. Geburtstag“ hinzu, doch anders als im Fall von Alfred Russo oder Konrad Schmidt geben sie keine weiteren Informationen an. Das Versäumte sei hier nachgetragen: Von 1886 bis 1897 war Freud dreimal in der Woche an dem von Professor Dr. Max Kassowitz geleiteten Kinderkrankeninstitut als Neurologe tätig. 1891 publizierte er gemeinsam mit Oscar Rie eine Klinische Studie über die halbseitige Cerebrallähmung der Kinder, die in den von Max Kassowitz herausgegeben Beiträgen zur Kinderheilkunde aus dem I. öffentlichen Kinderkranken-Institute in Wien erschienen ist.

Auch eine Notiz Freuds über „Typische Träume“ aus dem Jahr 1914 wird von den Herausgebern nicht weiter beachtet. Sie bezieht sich auf die 4. Auflage der Traumdeutung, in der Kapitel V und VI neu strukturiert wurden: „V. Das Traummaterial und die Traumquellen – d) Typische Träume“. „VI. Die Traumarbeit e) Die Darstellung durch Symbole. – Weitere typische Träume“ (Herv.: B.N.).

Ein weiteres Beispiel zeigt, welche Kärrnerarbeit bei der Entschlüsselung der Notizen Freuds zu leisten war. So gibt es zur Notiz Freuds „Martins Streifschuß 7. Juli 7h früh“ aus dem Jahr 1915 zwar einen Kommentar, doch der ist missverständlich. Die Herausgeber merken an, die Worte seien „dick unterstrichen“. Außerdem fügen sie eine Photographie von Freuds Sohn Martin in Uniform hinzu. In dessen Erinnerungsbuch (Mein Vater Sigmund Freud, 1999) ist nachzulesen, dass er im Ersten Weltkrieg „als berittene Patrouille in Polen“ unterwegs war. Die Herausgeber verweisen nicht auf diese Quelle, aber auf einen Brief, in dem Freud seiner Tochter Anna schreibt, Martin habe ihm „am 11/7“ mitgeteilt, „daß er sich beim Zusammentreffen mit einer feindlichen Patrouille einen Streifschuß am Arm am rechten Arm geholt, der aber schon heilt“. Wieso hätte Freud das schon am „7. Juli 7h früh“ („dick unterstrichen“) wissen können, wen er es doch erst am „11/7“ erfahren hat? Bezieht man die Zeitangabe „7. Juli 7h früh“ nicht auf den „Streifschuss“, sondern auf den „Fahrplan“, den Freud zur Vorbereitung seines Besuchs „in Ischl […] zum 80. Geburtstag seiner Mutter“ benutzte, worauf die Herausgeber ja auch hingewiesen haben, kann man die Zeile neu ordnen. Sie ist dann so zu lesen: „7. Juli 7h früh nach Ischl [–] 7h40-10.21 Salzburg [–] v. Ischl nach Salzburg 11.25-2h“.

Am 21. Mai 1910 schreibt Freud in sein Notizbuch stakkatoartig: „Ich und die Phobien – Autoerotismus – Narcissmus [–] Symbol des Hutes – Idiosyncrasien“. Die Herausgeber unterlassen auch hier jede Erklärung, obgleich man im Symbolregister der Gesammelten Werke Freuds für das Stichwort „Hut“ doch gleich sieben Stellen finden kann. Ich zitiere nur eine dieser Stellen: „Der Hut als Symbol des Genitales, vorwiegend des männlichen, ist durch die Erfahrung der Traumanalysen hinreichend sichergestellt“ (Freud, Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom, 1916). Noch ergiebiger ist ein Blick in Martin Freuds Erinnerungsbuch, in dem er den Gebrauch des Hutes durch seinen Vater beim Sammeln von Pilzen schildert: „Im Spätsommer waren wir auf der Suche nach eßbaren Pilzen. […] Vater hatte vorher einen Erkundungsgang unternommen, um ein ergiebiges Gebiet zu finden […]. War das Gebiet erst einmal gefunden, führte Vater seine kleine Truppe [seine Kinder – B.N.] dorthin. Alle kleinen Soldaten nahmen ihren Platz ein und begannen das Gefecht in genau abgemessenen Abständen, wie ein gut ausgebildeter Infanteriezug, der zum Angriff durch die Wälder zieht. Wir spielten, dass wir schwer zu fangendem Wild auf der Spur waren, und es gab einen Wettkampf darum, wer der beste Jäger sei.“ Keine Frage: „Vater gewann immer“ … schließlich hatte er das Gebiet ja schon vorher ausgekundschaftet.

Die Gejagten – das waren die Pilze. „Wenn Vater einen wirklich vollkommenen Pilz entdeckt hatte, lief er auf ihn zu, warf seinen Hut darüber und stieß auf seiner kleinen Silberpfeife ein schrilles Signal aus […]. Erst wenn wir versammelt waren, entfernte Vater den Hut, und wir durften die Beute sehen und bewundern.“ Schlagen wir nach bei Freud, dann erfahren wir noch etwas mehr: Nicht nur der Hut, auch „der Pilz ist ein unzweideutiges Penissymbol“. Es gebe Pilze, schreibt Freud in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17) weiter, „die ihrer unverkennbaren Ähnlichkeit mit dem männlichen Glied ihren systematischen Namen verdanken (Phallus impudicus)“. Und in einer aus Anlass der zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark University gehalten Vorlesung Über Psychoanalyse (1910) stellte er bereits früher fest, dass „die gebräuchliche Bezeichnung der Geschlechtstätigkeit des Mannes im Deutschen ‚vögeln‘ lautet [und] das Glied des Mannes bei den Italienern direkt l’uccello (Vogel) heißt“. Das seien „nur kleine Bruchstücke aus einem großen Zusammenhange, der uns lehrt, dass der Wunsch fliegen zu können, im Traume nichts anderes bedeutet als die Sehnsucht, geschlechtlicher Leistungen fähig zu sein“.

Fragt sich nur, welche „Leistung“ das Abenteuer im Wald symbolisiert. Wenn (laut Freud) sowohl der „Hut“ wie der „Pilz“ das männliche Genitale symbolisieren, dann ging es um die unbewusst-spielerische Darstellung eines homosexuellen Akts. Wer sich so über heterosexuelle Konventionen hinwegzusetzen versteht, der mag das mit einem „schrillen Signal“ aus einer „Silberpfeife“ feiern, wie es Martin Freud überliefert hat; oder das Abenteuer im Wald mit einem „Schrei des Triumphes“ beenden, wie es Ernest Jones in seiner Freud-Biographie dargestellt hat. Dort heißt es weiter, Freud habe den Pilz „mit seinem Hut“ gefangen genommen, „als sei es ein Vogel oder ein Schmetterling“. Und so sei noch einmal daran erinnert, dass „das Glied des Mannes bei den Italienern direkt l’uccello (Vogel) heißt“ (Freud).

Ist die Bewältigung der Kastrationsangst ein Anlass für Triumph? Und welche kulturellen Voraussetzungen könnte die Kastrationsangst haben? In einer Notiz Freuds aus dem Jahr 1912 heißt es: „Erklärung Scham aus 1) Kastrationsangst 2) in Eiszeit direkt weil Libido gefährlich ist.“ Danach geht es so weiter: „Beziehung von histor. Zeiten (Eis-) und Libidoentwicklung und Gesellschaftsentwicklung noch nicht festgestellt“. Die Herausgeber verzichten auf jeden Kommentar, obgleich es für das Wort „Eiszeit“ und den Zusammenhang, in dem es steht, mehrere Belege gibt. So schreibt Freud etwa am 12.7.1915 an Ferenczi: „Mit dem Einbruch der Entbehrungen der Eiszeit wurden die Menschen ängstlich [unterstrichen i. Orig.], sie hatten allen Grund, Libido in Angst zu verwandeln. […] Nachdem sie in der harten Schule der Eiszeiten Sprache und Intelligenz entwickelt – wesentlich die Männer –, bildete sich die Urhorde mit den zwei Verboten des Urvaters, während das Liebesleben egoistisch‑aggressiv verbleiben mußte.“ In einem Bericht, den Géza Szilágyi 1921 im Beiheft der Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse veröffentlicht hat, wird ein Artikel Ferenczis referiert, der 1915 in der Zeitschrift Nyugat (Westen) erschienen ist: A veszedelmek jégkorszaka (Die Eiszeit der Gefahren). In Szilágyis Bericht wird Ferenczis These so wiedergegeben: Der „Krieg hat uns seelisch in die Eiszeit zurückgeworfen […], die tiefen Spuren aufgedeckt, die jenes Zeitalter im Seelenleben der Menschheit zurückgelassen hat“ (https://archive.org/details/BerichtberDieFortschritteDerPsychoanalyseInDenJahren1914-1919/page/n393/mode/2up – Aufruf: 07.03.2025).

Ergänzend sei hier noch auf eine Stelle aus Freuds Schrift Das Ich und das Es (1923) hingewiesen, an der vom „Erbteil der durch die Eiszeit erzwungenen Entwicklung zur Kultur“ die Rede ist. Apropos „Es“! Am 4. März 1901 schreibt Freud in sein Notizbuch: „Als ob Kindheitserinnerungen- bildung typisch wäre für Herstellung des Es überhaupt.“ Da die Herausgeber die Bedeutung dieses Eintrags nicht erkennen konnten, unterließen sie jede Anmerkung. Bei genauerem Hinsehen erweist sich der Eintrag jedoch als sensationeller Fund. Freud spricht bereits hier von einem „Es“. Danach vergehen mehr als zwei Jahrzehnte, bevor er 1923 in Das Ich und das Es diesen Begriff erstmals öffentlich verwendet. Vorausgegangen war eine längere Diskussion mit Georg Groddeck, an den Freud mit dem unbestimmten Datum „Weihnachten 1922“ geschrieben hatte: „Erinnern Sie sich übrigens, wie frühzeitig ich das Es von Ihnen übernommen habe? Es war lange, ehe ich Sie kennengelernt hatte, in einem meiner ersten Briefe an Sie [17. April 1921 – B.N.]. Dort hatte ich eine Zeichnung eingeschaltet, die demnächst wenig verändert vor die Öffentlichkeit treten soll.“ Freud hat diese Zeichnung in Das Ich und das Es schließlich als „Versuch, das so schwer erfaßbare Psychische anschaulich zu machen“, in dieser Gestaltung wiedergegeben:

Im Brief von „Weihnachten 1922“ hatte Freud bei Groddeck nachgehakt: „Ich denke, Sie haben das Es (literarisch, nicht assoziativ) von Nietzsche hergenommen. Darf ich das auch so in meiner Schrift sagen?“ Nein, das durfte Freud nicht so sagen, denn Nietzsche hatte ausdrücklich davor gewarnt, an die Stelle einer grammatikalischen Notwendigkeit („es denkt“) ein Subjekt („Es“) zu setzen, während Groddeck und nach ihm dann auch Freud das klein geschriebene „es“ zu einem handlungsmächtigen großen „Es“ erhoben, dem sie dann allerlei Eigenschaften und Absichten zuschreiben konnten. Bereits in einem Brief aus dem Jahr 1917 hatte sich Groddeck diesbezüglich so „über das Ubw (des Es)“ geäußert: „Ich bin der Meinung, daß das Bewußtsein lediglich eine Äußerungsform des Ubw ist; daß alles, was im Menschenleben geschieht […] letzten Endes vom Ubw geschaffen wird.“ Und Freud attestierte dem Es 1933 in der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse „das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu verschaffen“. Wenn Freud das groß geschriebene „Es“ auch nicht von Nietzsche übernommen haben konnte, wo konnte er es denn dann kennengelernt haben?

Nun, auch im 19. Jahrhundert gab es einen philosophischen Hansdampf in allen Gassen. Er hieß damals zwar nicht Richard David Precht, sondern Eduard von Hartmann, doch auch dessen Bücher wurden Bestseller. So Die Philosophie des Unbewußten, die in immer neuen (und erweiterten) Auflagen erschienen ist, obwohl es damals noch keine philosophischen Fernsehshows oder Podcasts gab. In diesem Buch ist vom kleinen „es“ die Rede – und davon, wie „dieses ‚Es’ […] im Unbewußten“ uns und die Welt regiert (1876, 7. Auflage, Bd. 1, S. 34f.). Sollte Freud dieses Buch nicht in der Hand gehabt haben, so kannte er als Mitglied des Lesevereins deutscher Studenten Wiens doch die Philosophie des Unbewussten und die in diesem Zusammenhang geführte Diskussion um das „es denkt“ (s. B. Nitzschke: Ich denke, also bin ich: Es. Kurze Beschreibung des langen Weges von Descartes zu Freud, 2007 – Aufruf: 08.03.2025).

Und was heißt das alles im Hinblick auf die hier besprochene großartige Edition der Notizbücher Freuds? Es lohnt die Mühe, sich in dieser Grube Messel der Geschichte der Psychoanalyse noch etwas genauer umzusehen. Die dort zu betrachtenden Bruchstücke ergänzen das Bild von Freud und dessen Werk. Und wer weiß, ob hier nicht noch einige Schätze verborgen sind? Mögen sich also noch viele Leser und Leserinnen auf die weitere Schatzsuche begeben.

Titelbild

Sigmund Freud: Notizbücher. 1901–1936.
Hg. von Albrecht Hirschmüller, Christfried Tögel, Gerhard Fichtner, Marina D’Angelo.
Verlag Turia + Kant, Wien 2024.
267 Seiten , 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783985141043

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