Die gewaltige Unschärfe des Familienrechts

Jayrôme C. Robinet zeigt in „Sonne in Scherben“ die Tragödie einer Familie, der die Gesellschaft ihre Normalität abspricht

Von Senka Gorbunov(a)RSS-Newsfeed neuer Artikel von Senka Gorbunov(a)

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angèle und Enzo sind ein normales Paar – das muss Enzo stets betonen, wenn er Gynäkolog:innen erklären muss, warum sie eine Samenspende brauchen und dass Enzo das Kind austragen wird. Doch was ist ein normales Paar? In den juristischen und medizinischen Systemen ist ein schwangerer Mann nicht vorgesehen, auch wenn dieser als trans Person einen Uterus hat und schwanger werden kann. Abgesehen davon erfüllen Angèle und Enzo jedoch etliche bürgerliche Normvorstellungen von einem für Kinder bereiten Ehepaar: Sie haben ein Haus in der Kleinstadt Senlis, gute Jobs und einen Hund. Ihr Kinderwunsch ist der Beginn einer dicht erzählten Geschichte über Reproduktionsrechte, komplexe Familienverhältnisse und die Absurdität moralischer Grundsätze.

Die Handlung des Romans springt zu Beginn in kurzen Kapiteln zwischen Enzos Kindheit, dem Kennenlernen mit Angèle 1997 und den Momenten hin und her, die Enzo bei seiner Transition besonders wichtig sind. Mal werden sie aus den Perspektiven von Enzo und von Angèle geschildert, mal wechselt die Darstellung in die dritte Person. Mögen diese Sprünge anfangs irritieren, ihre Wirkung kommt zum Schluss zur vollen Geltung – es ist die Einladung, sich im Nachvollziehen verschiedener Lebensrealitäten und Normvorstellungen zu üben. Eine zentrale Erzählinstanz gibt es innerhalb des Romans nicht, das Bündeln der Stränge ist den Lesenden überlassen – auch beim größten und gewagtesten Handlungssprung aus dem Jahr der Schwangerschaft 2004 in das Jahr 2024, in dem Angèle wegen Kindesentführung vor Gericht steht.

So nah und emotional Enzo und Angèle von Robinet geschildert werden – im Romanverlauf rücken sie immer mehr in die Ferne, während die Schwangerschaft Enzos von den Medien auf jegliche Grenzen überschreitende und gewaltvolle Art objektifiziert wird. Rechtliches Vorgehen dagegen sei aus juristischer Sicht völlig nutzlos, der Anwalt rät dazu, die mediale Aufmerksamkeit für eigene Zwecke zu nutzen und der transphoben Skandalisierung mit der eigenen Stimme entgegenzuwirken. Doch als Enzo versucht, sich der medialen Darstellung seiner Schwangerschaft zu bemächtigen, wird er immer tiefer in einen Sturm aus moralischer Panik rund um trans Personen und deren politischer Instrumentalisierung gesogen. Angèle und Enzo halten zusammen, während ihre Leben bröckeln, und als das Kind endlich auf der Welt ist, wird deutlich, welche tiefen psychischen Wunden ihnen zugefügt wurden. Es sind schleichende Prozesse, die Robinet meisterhaft zeigt, Prozesse des „Unwerderns“, „Verwerdens“ und „Entwerdens“, um es in den Worten des Romans auszudrücken.

Als roter Faden zieht sich das Thema des Verlusts durch – der Verlust der Eltern bei einem Kontaktabbruch und bei einem tödlichen Unfall, der Verlust von Kindern, der Verlust der Privatsphäre, der Selbstbestimmung und der Verlust des Rechts, die eigene Geschichte erzählen zu können – unabhängig von gesellschaftlichen einengenden Mustern. Letztlich stellt sich die Frage, wie viel Verlust die Charaktere ertragen, ehe sie im Affekt zu Handlungen fähig werden, die sie selbst verurteilen würden, und somit sich von sich selbst entfernen. Die großen Bögen des Romans sind schwer an Bedeutung und drohen, die sanfteren, leiseren Passagen zu erdrücken. Darum empfiehlt es sich, langsam zu lesen, auch wenn die Zeitsprünge ein schnelles Tempo  vorgeben – denn nur beim langsamen und aufmerksamen Lesen wird man die Präzision der Details wertschätzen können. Beispiele hierfür wären die feinen Beobachtungen zu den verschiedenen Kulturen gesellschaftlicher Kreise – sei es bei den unterschiedlichen Klassen und Sprachräumen, in denen Enzo und Angèle aufwachsen, oder der Solidarität und ihren Grenzen in der queeren Community, von der sich Enzo nach seiner Transition entfremdet. Selbst die Schwangerschaft wird fast zur Leerstelle, um die der Text kreist, zumindest wird den medialen Zuschreibungen, mit denen Enzo sich während der Schwangerschaft auseinandersetzen muss, mehr Aufmerksamkeit verliehen, als Enzos unmittelbaren physischen Erfahrung der Schwangerschaft und des Gebärens.

Sprachlich arbeitet Robinet mit interessanten Verknappungen: Verschiedene Zeitebenen werden in einem Satz auf poetische Weise ineinander verschoben. Die klangliche und bildliche Kraft einer früheren Textfassung konnte man bereits vor dem Erscheinen des Romans während Robinets Lesung auf der Bühne des Bachmannpreises 2023 erfahren. Dieser frühere Auszug endete allerdings auf einer versöhnlicheren Note als der Roman. Es mag der Eindruck entstehen, die Geschichte verhandle auf knappem Raum zu viele Themen. Die dichte Erzählweise entfaltet allerdings erst nach der Lektüre ihre Wirkung, wenn man bereit ist, sich auf die aufgeworfenen moralischen Fragen einzulassen. Eine definitive Stärke ist es, dass das Buch keine leichten Antworten gibt. Zum Schluss werden die Lesenden mit den angerissenen Diskussionen alleine gelassen und so gewissermaßen zu einer urteilenden Reaktion herausgefordert.

Titelbild

Jayrôme Robinet: Sonne in Scherben. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2024.
252 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446279544

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