Des Dämons Zähmung
Mit „Rudolf Borchardt. Der verlorene Posten“ legt der Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz eine beeindruckende Biographie des umstrittenen Lyrikers vor – und zeigt auf, wie tief der Sturmlauf des Ausnahmepoeten gegen die Moderne in ihr selbst wurzelt
Von Thomas Jordan
Wir sind nicht, was wir sind. Der Himmel, kaum/
Vom Meer sich lösend, hängt mit Dunst beschwert/
Und bebt vor Nässe. Gieße mir noch Traum/
In meinen Becher, und mit Nordwind gährt/
Die wundervolle See, und wildem Schaum/
Durch den das heilige Schiff mit Helden fährt.
Eigenartig, die Begegnung mit Rudolf Borchardts Werk. Geradezu befremdlich, wie im lyrischen Ich vor mythischer Kulisse Heldenglaube und Selbstzweifel zueinander finden. Auch das Spektrum der Urteile über Borchardts Werk ist eigenartig. Es reicht von Fritz Briegels Verdikt „aristokratischer Faschismus“ bis zu Friedhelm Kemps Lobgesang auf den Dichter als „einer der wenigen, die zählen“. In seiner umfassenden neuen Biographie gelingt es dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz, den geistesgeschichtlichen Dämon Borchardt zu zähmen und ihn im Zentrum von Fragestellungen der Moderne zu verorten. Das gelingt gerade deswegen, weil er die Abgründe im Wirken des Dichters nicht verschweigt.
Und davon gibt es zahlreiche. Der Lyriker, Redner und Schriftsteller Rudolf Borchardt, geboren im Jahr 1877 als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie jüdischen Ursprungs, feiert den Ersten Weltkrieg als geistige, sittliche Reinigung der Nation. Nation definiert er dabei nicht über Herkunft oder die Bindung an das Kaiserreich, sondern ausschließlich über Sprache, Kultur und Geschichte. Borchardt polemisiert gegen die Weimarer Republik, ist 1933 stolz über eine Audienz beim faschistischen Duce Mussolini und bezieht zugleich klar Position gegen den Hitlerstaat in Deutschland.
Den Schlüssel zum Verständnis dieser Widersprüche sieht Wolfgang Matz in Borchardts Konzept der „schöpferischen Restauration“. In einem luziden Durchgang durch Lyrik, Prosa und tagesaktuelle Schriften rekonstruiert Matz den Erkenntniszusammenhang, den Borchardt in der Verbindung von Geschichte und Poesie sieht. Im Zentrum dieser „geschichtspoetischen Vision“ steht eine „imaginierte, poetisch entworfene Vergangenheit“ die „zum Maßstab des Protests gegen die Gegenwart“ wird. Schon bei seiner ersten Italienreise im Jahr 1903 dienen ihm die Mauern der alten Etruskerstadt Volterra als Ausgangspunkt für die Umkehrung der Blickrichtung. Die jahrtausendealte toskanische Kulturlandschaft wird ihm sein ganzes Leben lang ein selbstgewähltes Exil bleiben. „Wir rechtfertigen uns vor den Toten, nicht vor den Lebendigen!“ ruft Borchardt zornig-selbstbewusst aus und ergänzt: „daß nichts, was je war, für mich je tot sein könnte.“ Vorwärts, zurück in die Geschichte, meint das. Was es für den Dichter bedeutet, zeigt sich im Versepos „Der Durant“. In dem Langgedicht bringt der Autor im Konflikt um Liebe und Sexualität seines Protagonisten, des ungestümen Sohns eines fränkischen Ritters, das mittelalterliche Minneideal in Stellung.
- Ja, er soll sich bedenken/
Wie hoch er fahren wolle/
Und wie viel Last der Scholle/
Er sich traue zu tragen:/
Jenseits aller Klagen/
Mit denen das Gemeine/
Seinen Schaden beweine/
Hat die Minne ihr Los:
Bei Matz wird dieses Singen der Vergangenheit als Singen seiner selbst erkennbar – als Versuch des Dichters, unter den Bedingungen einer vielfach gebrochenen Gegenwart wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Das meint keineswegs nur die großen, geistesgeschichtlichen Umbrüche der Moderne. Es meint in zumindest gleichem Maße die biographischen Brüche des Dichters selbst. Hier liegt eine der großen Stärken von Matz’ Werk. Detaillierte Werkskenntnis und lebensgeschichtliche Analyse verdichten sich zum Bild des jungen Borchardt als „entgleiste[m] Bürgersohn“, dessen Wirken sich als permanenter Kampf gegen die „Talmikultur seiner durchökonomisierten Herkunft“ ausnimmt. Wie bitter der Bruch mit der als zutiefst verlogen empfundenen Bankiers- und Kaufmannstradition der Familie und die Feindschaft zum Vater war, zeigt sich am Ausmaß der Selbststilisierung des Sohnes in seinen Texten. 1901 schwingt er sich nach einem Nervenzusammenbruch als Kurgast in Bad Nassau zum mittelalterlichen Troubadour auf. Eine Zufallsbekanntschaft verklärt er dabei zur sagenhaften Verführerin Vivian aus der Artusepik und verkündet ihr im Stil des Minnesängers: „ich habe nun das Leben ganz,/All den gedehnten bunten Reihentanz/Der Freuden und der Traurigkeiten ganz/Verstanden.“ Und als die so Besungene abreist, spricht aus Borchardts Versen das Gefühl existentieller Verlassenheit:
Und, wie Ermordete im alten Stück/Noch schwatzen, vorwärts Du und ich zurück,/Im Griff das schwarze Eingeweide tragend,/Fortsteigen, gleichen Fußes und Gesichts;/Und erst wo keins mehr zusieht, in das Nichts/Quer treten, ohne Laut vornüberschlagend.
Borchardt ist fassunglos – und entwickelt aus dieser Verlusterfahrung seine strenge lyrische Form. So eng sind Leben und Werk bei Borchardt verknüpft, dass der poetische Form- zum Überlebenswillen wird.
Natürlich hat dieses Schreiben Borchardt den Vorwurf des Epigonentums, des archaisierenden Nachahmers eingetragen. Matz sucht ihn zu entkräften, indem er die Einbrüche der modernen Wirklichkeit in Borchardts Werk aufzeigt. Etwa, wenn sich in seinem Versepos „Der Durant“ das lyrische Ich selbst ins Wort fällt und den mittelalterlichen Gesang mit dem Bezug auf Borchardts toskanischen Aufenthaltsort Volterra unterbricht: „- Und daß ich dies nicht lüge/Und auch keinem nachschwätze,/Der ich die Worte setze/Einsam und Menschen satt/In der elenden Stadt/Volterra.“ Das Minneideal des Durant zerschellt im weiteren Verlauf des Textes an den Herausforderungen moderner Erotik und Sexualität. Matz verschweigt dabei nicht, welche Ausmaße das extreme Bedürfnis zur Selbststilisierung bei Borchardt annimmt. Etwa die frühe Widmung Hugo von Hofmannsthals an Borchardt, „als zeichen des innigsten dankes für treue that und schöne worte“, die sich als Fälschung von Borchardt selbst entpuppt – und doch den fiktiven, imaginierten Vorgriff auf eine Freundschaft darstellt, die sich nur wenige Jahre später tatsächlich entfalten wird.
Er zeigt allerdings auch auf, wie eng der „verlorene Posten“, den Borchardt bezieht, mit dessen geschichtspoetischer Vision verknüpft ist. Von seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Altphilologie und dem antiken Griechentum kommend, das er seit seinen Studienjahren gegen die moderne Ökonomie ins Feld führt, meint Vergangenheit für ihn ein Versprechen auf die ewige Gegenwart aller Formen, aller Gestalten der Poesie. Borchardt versteht sie
als Möglichkeit und Notwendigkeit, sich des einmal für bestimmte Stoffkreise großartig ausgebildeten Tones als eines ewig statthaften wenn auch selten verstatteten, als eines außergewöhnlichen, aber darum nicht minder lebendigen, nachdrücklichst zu bedienen.
Dahinter wird ein Narrativ erkennbar, wonach Geschichte immer Katastrophengeschichte ist, das historisch Siegreiche immer die falsche Sache, die besiegte immer die richtige. Und gerade deswegen eine uneingelöste Potenzialität. Matz macht auf diese Weise deutlich, dass Borchardts verlorener Posten eine strategisch gewählte Sprecherposition ist, eine produktionsästhetische Haltung, um „aus der uneingelösten Vergangenheit das Kriterium zu finden, mit dem man die Gegenwart kritisiert und die Zukunft befruchtet.“
So radikal andersartig ist Borchardts Moderne-Kritik, dass selbst die Herausgeber seiner Werksausgabe im Jahr 1960 noch korrigierend in seinen großen Villa-Essay über die Geschichte des toskanischen Landgutes eingreifen, weil sie es für einen Verschreiber halten, wenn es dort heißt: „Das Italien unserer Ahnen ist, wie man weiß, seit die Eisenbahnen es für den Verkehr verschlossen haben, eines der unbekanntesten Länder Europas geworden.“ Borchardt schrieb tatsächlich „verschlossen“ und nicht „erschlossen“, wie die Herausgeber meinten. Matz begründet das schlüssig mit Borchardts Vision, der beschleunigten und punktuellen Fortbewegung mit der Eisenbahn eine andere, historisch gesättigte Art der Erschließung von Landschaft und Stadtbild entgegenzuhalten. Der verlorene Posten, Borchardt nimmt ihn bis in die Wahl der Vorsilbe ernst. Und glorifiziert aus dieser Position heraus zunächst den Kaiser, um dann die Weimarer Republik als „ruchlosen Mehrheitenstaat“ und „Verhängnis“ im Fahrwasser der Konservativen Revolution verächtlich zu machen.
Es wäre interessant zu untersuchen, ob sich Verbindungen von Borchardts Geschichtsbild zu der Tradition jüdischer Mystik, wie sie etwa in der Kabbala entwickelt wurde, aufzeigen lassen – und wie sie Borchardts Zeitgenossen Walter Benjamin und Gershom Sholem in ihrem Werk aufgegriffen haben. Doch hierzu findet sich nichts bei Matz. Mit Borchardts jüdischer Herkunft geht der Biograph ähnlich um wie der Dichter selbst, der seinem Schüler Werner Kraft kurz und bündig beschied: „Gestatte ich Ihnen nicht, mich als Christen und Deutschen zu diskutieren, wofür Ihnen mir gegenüber jede Autorität und Convenienz abgeht.“ Auch bei Matz ist eine mögliche jüdische Traditionslinie nicht Gegenstand vertiefter Betrachtung. Der Autor führt seine Untersuchung vielmehr auf eine andere Frage eng: Wie geht ein radikaler Antimodernist wie Borchardt mit dem Herrschaftsantritt der Nazis in Deutschland um?
Noch kurz vor der Machtergreifung hatte sich Borchardt der Illusion hingegeben, dass die Aktivitäten von Freikorps und Nationalsozialisten parallel zu seiner „grundsätzlich theoretischen und pract. Gegnerschaft gegen den modernen Zeitgeist in allen seinen geistigen, politischen und kulturellen Äußerungen“ laufen würde. Matz ordnet ihn auch darin den Strömungen der Konservativen Revolution in der Weimarer Republik zu. Auch den Antisemitismus der NS-Bewegung hatte Borchardt in seinem immer wieder auch menschenverachtenden Elitismus für vernachlässigbare, dem politischen Meinungskampf geschuldete Stimmungsmache gehalten. Matz zeigt das eindrucksvoll anhand eines Briefauszugs an Kafkas Freund Max Brod, in der Borchardt sich zu dieser oberflächlich-elitären Fehleinschätzung hinreißen lässt. Das ändert sich laut Matz bis 1935 grundlegend.
In seinen nun entstehenden „Jamben“ vollziehe er den „definitiven Abschied von Deutschland, von seiner Geschichte und zuletzt auch von den Opfern der Weltkriegsjahre“ und findet dafür die Formel: „Sag den Gefallenen, daß es mit uns aus ist/Und Abel tot: Deutschland ist Kain.“ Matz deutet an, welch’ ungeheurer Bruch darin für Borchardts Poetik, ja für sein gesamtes Weltverständnis gelegen haben muss.
Es ist deshalb umso verwunderlicher – und auch vom Biographen nicht ganz erklärbar – warum der umfangreiche Roman, den Borchardt nur wenige Jahre danach veröffentlicht, dann doch wieder auf die geschichtspoetische Vision zurückgreift. Vereinigung durch den Feind hindurch zeigt im Jahr 1937 noch einmal auf, wie Borchardt schöpferisch restaurieren will, was längst verloren ist. Im Mittelpunkt steht ein adeliges Milieu, das spätestens seit der Abschaffung von Patrimonialgerichtsbarkeit und adeliger Polizeigewalt 1848 und 1872 in Preußen keine gesellschaftsbestimmende Rolle mehr spielt. Den „Boden“, Landbesitz und Herrenhaus, den es bräuchte, damit die verarmte Gräfin Ysi von Meyenwörth ihren Verlobten, den ehemaligen Stabsoffizier Georg von Harbricht heiraten könnte, bekommen die beiden nurmehr als Verwalter auf dem Gut eines entfernten Verwandten.
Und trotzdem stellt die Protagonistin im Vergleich mit einer „Proletarierin“ fest: „wo sie Hoffnungen hat, habe ich Überlieferungen.“ Wenn dann die verarmte Generalstochter als Sekretärin in den Dienst des Großindustriellen Nienhus eintritt und das mit „dem einzigen auf […] [das] es mir anzukommen scheint – dem Mute zu sich selber“ begründet, bringt sich hier noch einmal ein für Borchardt so charakteristisches, hypertrophes poetisches Ego zu Gehör. Es ist aber, nach allem, was Borchardt seit 1933 geschrieben hat, wenig wahrscheinlich, dass dieser „Mut zu sich selber“, den die verarmte Gräfin dem Großkapitalisten heldenhaft entgegenhält, sich ungebrochen auf Geschichte, Nation und Tradition bezieht. Ihr Selbstermächtigungsanspruch erscheint stattdessen aller äußerlicher Begründung enthoben, er ist gänzlich nach innen verlagert, gewissermaßen als Folge einer reflexiven Wendung von Borchardts Geschichtsverständnis. Und darin ganz und gar modern. Es wäre eine letzte Volte in Borchardts geschichtspoetischer Vision. Soweit geht Wolfgang Matz’ Zähmung des Dämons allerdings nicht.
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