Annäherung an die „future daughter“
Ulrike Draesner erzählt in „Zu lieben“ von der Adoption ihrer Tochter
Von Liliane Studer
Daran hatte die Ich-Erzählerin kaum mehr geglaubt, nämlich dass sie mit über vierzig doch noch Mutter würde. Lange schon dauerte das Verfahren, ein Kind aus einem nicht europäischen Land zu adoptieren – eine andere Adoptionsmöglichkeit gab es für das bereits ältere Paar nicht mehr. Das Kind, Mary, lebt seit ihrer Geburt in einem Kinderheim in Colombo. Ihre Mutter Thilini ist dreizehn, als sie schwanger wird, und lebt ebenfalls im Kinderheim. Marys Großmutter hat die Vormundschaft ihrer Tochter übernommen, beide Frauen würden sich der Adoption nicht widersetzen. An besagtem Tag nun sitzt die Ich-Erzählerin in München zufällig im Omacafé, dem Kaffeehaus, in dem ihre Oma die geliebten Katzenzungen kaufte. Sie hat sich mit einer Germanistin getroffen, die einen Lexikonartikel schreiben will. „Die Nachricht kam über das Telefon. Nachdem ich aufgelegt hatte, umarmte ich die mir nicht weiter vertraute Frau. Die nun ebenfalls gerührt war.“ Überrumpelt und aufgewühlt ruft sie Hunter an, ihren Mann, am Telefon bleibt es „sehr ruhig“. Wieder zu Hause in Berlin beginnt die große Hektik. Alles muss innerhalb kürzester Zeit vorbereitet werden. Doch was bringt man einem dreijährigen Mädchen mit, von dem man bisher nicht einmal gewusst hat? Was braucht man in den drei Wochen in einer völlig anderen Kultur, in einem anderen Land, dessen Bräuche man nicht kennt, dessen Sprache man nicht spricht?
Im Roman zu lieben erzählt Ulrike Draesner zum einen von den drei Wochen der Annäherung an die „future daughter“ im Kinderheim in Colombo, wo sich das Elternpaar jeden Morgen und jeden Nachmittag einfindet, um Zeit mit der Dreijährigen zu verbringen, zum anderen vom jahrelangen Prozess, der dieser Reise vorangegangen ist. Eingefügt sind auch Ausblicke auf Jahre später, als Mutter und Tochter längst zu zweit leben und eine große Nähe zwischen ihnen spürbar ist. Ein Adoptionsverfahren ist mit großem Stress verbunden, zahlreiche, auch belastende körperliche Untersuchungen sind nötig, um allenfalls doch noch schwanger zu werden oder aber nachzuweisen, dass eine Schwangerschaft nicht möglich ist, es gibt psychologische Prüfungen, die bei Auslandsadoptionen noch umfassender sind – ganz abgesehen davon, dass Auslandsadoptionen zunehmend in Kritik geraten (so sollen sie in der Schweiz gänzlich verboten werden). Ulrike Draesner geht diesen wunden Punkten insofern nach, indem sie zum einen aufzeigt, welche behördlichen Verfahren zu durchschreiten sind, zum anderen aber – und das auf eindrückliche Weise – sehr genau von den Annäherungen zwischen Mary und ihren zukünftigen Eltern erzählt und dabei auch das Scheitern und die Unmöglichkeit eines solchen Prozesses deutlich macht. Denn wie ist es möglich, eine Beziehung zu einer Dreijährigen aufzubauen, die so gar nicht den westdeutschen Vorstellungen einer Dreijährigen entspricht.
Wie geht man mit einem lebhaften dreijährigen Kind um, das alles macht, was Dreijährige so tun: rennt, klettert, agiert, hat einen eigenen Kopf, nur kennt es, anders als durchschnittliche Dreijährige, seine Welt so wenig wie ein Baby. Es langt auf Herdplatten, kalt oder glühend, nicht einmal der Unterschied ist vertraut. Es hat nie ein Messer gesehen, geschweige denn in der Hand gehalten. Mary ist null Jahre und möchte-gern-vier Jahre alt zugleich und alles dazwischen ebenfalls, und man kann nicht mit ihr sprechen wie mit anderen ihres Alters, weil man sich wechselseitig nicht versteht.
Die Sprache – für Ulrike Draesner das Instrumentarium, das sie beherrscht als Autorin, die wunderbare Romane geschrieben hat, in deren Universum Leser:innen begeistert eintauchen, denken wir nur etwa an ihr letztes Werk Die Verwandelten – versagt. Es gibt keine gemeinsame Sprache zwischen Mutter und Tochter. Und noch etwas kommt erschwerend hinzu, eine für die Erwachsene schmerzhafte Erfahrung: Mary will nicht berührt werden, und schon gar nicht von ihr, der zukünftigen Mutter. Abgesehen davon, dass Mutter an sich für sie ebenfalls etwas völlig Abstraktes ist, denn obwohl Thilini die ganzen Jahre in ihrer Nähe gelebt hat, sind Marys Bezugspersonen andere (oder keine?). Das wissen die Ich-Erzählerin und Hunter lange nicht so genau.
Jahre sind verstrichen seit dieser Reise nach Colombo. Lange habe sie den Plan gehabt, gemeinsam mit ihrer Tochter, mit der sie seither in Berlin lebt, „über die Adoption zu schreiben, ihre Erinnerungen und meine im Wechselspiel“. Doch die Tochter wollte nicht. Als sie im August 2022 am Computer gesessen und an den Verwandelten geschrieben habe, sei der zu-lieben-Text gekommen, erzählt sie in einem Interview.
Sozusagen als Pause von den Verwandelten. Als ein Buch vom Glück. Ich fing an, ihn [den Text] ins Handy zu sprechen. In mehreren langen Schüben, die sich über den Tag verteilten. Am Ende waren das, später abgetippt, etwa 60 Druckseiten. Ich habe dann weitergeschrieben, das hat nicht lange gedauert, drei Wochen vielleicht. […] Und nun ist das Buch da. Ich empfinde es als Geschenk.
Am letzten Samstagabend in Colombo findet die Ich-Erzählerin das Glück, als sie zu dritt (Vater, Mutter, Tochter) gemeinsam mit der Verantwortlichen des zuständigen Vermittlungsvereins in einem Restaurant essen und sie mit Mary einem hin und her rennenden Hund zuschaut.
Mary machte es Freude, und damit auch mir. Mary fing an, oben auf der Brüstung die Strecke des Hundes unten mitzulaufen, ich lief natürlich ebenso mit, schon um mein Kind zu sichern. Außerdem schauten wir uns dieses Spiel gemeinsam an. Alles war einfach und unmittelbar, wir liefen und Marys Hand schob sich in meine.
Und blieb dort.
Auch, als wir standen.
Und atmeten.
Blieb.
Und umdrehten und wieder liefen.
Und blieb.
Ulrike Draesners Roman zu lieben liest sich so leicht, wie er angeblich geschrieben wurde. Gleichzeitig zeugt er durch seinen Reichtum und die Komplexität, in der die Autorin die Thematik Auslandsadoption auch immer miterzählt, von einem langen Prozess, der dem Schreiben vorangegangen sein muss. Sie erzählt ihre persönliche Geschichte – die Annäherung an die Adoptivtochter, die einhergeht mit der Entfremdung des Paares –, sie lässt teilhaben an einem Leben, für das sie sich entschieden hat. Sie verzichtet jedoch wohltuend darauf, Ratschläge in welcher Form auch immer zu erteilen.
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