Ewoks in Manila
Jessica Zafra erzählt in ihrem Debütroman „Ein ziemlich böses Mädchen“ eine lesenswerte Coming-of-Age-Story vor philippinischer Kulisse
Von Thomas Merklinger
Die philippinische Kulturjournalistin Jessica Zafra hat sich in ihrer Heimat durch Kolumnen und eigene Shows im TV und Radio einen Namen gemacht, ist darüber hinaus aber auch literarisch tätig. Sie hat eine Reihe von Erzählungen geschrieben, bevor sie 2020 dann mit The Age of Umbrage ihren ersten Roman veröffentlichte, der nun in der Übersetzung von Niko Fröba unter dem Titel Ein ziemlich böses Mädchen vorliegt. Die Coming-of-Age-Thematik ist im Originaltitel in dem facettenreichen Wort ‚umbrage‘ (etwa ‚Empörung‘) gefasst, wobei das klug erzählte Drama des Heranwachsens unaufdringlich mit der sich entwickelnden Perspektive der Hauptfigur verbunden wird. Es vollzieht sich in den 1980er und 90er Jahren in Manila und bietet damit zugleich einen anregenden Ausflug in den Inselstaat, dem diesjährigen Ehrengast der Frankfurter Buchmesse.
Im Zentrum der Entwicklungsgeschichte steht Guadalupe de Leon, genannt Guada. Sie ist ein sehr kluges Kind, das schon bei seiner Geburt einen ungewöhnlich großen Kopf aufweist. Noch bevor sie laufen gelernt hat, kann sie mit neun Monaten dank der Märchen der Gebrüder Grimm und Hans Christian Andersens bereits Englisch sprechen. Allerdings imitiert Guada auch die auf Tagalog geführten Streitereien ihrer Eltern und erwirbt dadurch einen ganz unkindlichen Wortschatz. Andererseits führt ihr seltsames Äußeres dazu, dass sich die hochreligiöse ältere Verwandtschaft beim Babysitten veranlasst sieht, einen Exorzismusversuch zu starten.
In einem geistreichen, witzigen Erzählton, der den englischen Bildungsroman mit dem Sound amerikanischer Popliteratur verbindet, verwebt Zafra mit dem Erwachsenwerden Guadas Eigenheiten der philippinischen Gesellschaft und Geschichte. Der Katholizismus etwa verdankt sich dem spanischen Erbe und ist so gegenwärtig wie die Seifenoper in Radio und Fernsehen. Beide formen die Liebesbeziehungen der Elterngeneration mit einer Zwangsläufigkeit, dass die in den Romantext eingestreuten, gleichartig wiederholten Dialogfetzen der Telenovelas den ironischen commentary track zur elterlichen Ehe bilden: „Aber Mutter, ich liebe ihn und will den Rest meines Lebens mit ihm verbringen.“ –„Dieser nutzlose Penner! Er ist es nicht wert, zur Familie zu gehören.“
Guadas Mutter Siony ist die erste College-Absolventin der Familie und arbeitet als Lehrerin. Dennoch gerät sie an den nichtsnutzigen Matrosen Hernani (Nani) de Leon, von dem sie ihr Kind und jede Menge Enttäuschungen empfängt. Es bleiben der Glaube und die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, die beide auf die Tochter verschoben werden. Deren Taufname leitet sich vom Gnadenbild der Virgen de Guadalupe ab, womit schon einmal der Religion Genüge getan ist, so dass Siony sich ganz auf die Ausbildung der Tochter konzentrieren kann.
Die Lehranstellung wirft nicht genug Geld zum Leben ab, weshalb die Mutter ein weiteres Einkommen erschließt und in der Schulkantine mit Essen aushilft, das sie zu Hause zubereitet. Ihre Kochkünste führen schließlich zu einer Position als Köchin bei den Almagros, einer der bedeutendsten Familien des Landes. Das Anwesen in einem vornehmen Stadtteil Manilas wird zu Guadas neuem Zuhause. Der Aufstieg scheint gesichert. Guada liest weiterhin alles, was ihr über den Weg läuft, und kann durch die hauseigene Bibliothek aus dem Vollen schöpfen. Mit Emilia, der Tochter der Almagros, besucht sie nun zudem eine katholische Privatschule. Das Schulgeld wird von den neuen Arbeitgebern übernommen. Beide Mädchen schreiben gute Noten, weil Emilia bei Klausuren ganz offiziell von Guada abschreiben darf und dennoch, bei identischen Antworten, höhere Punktzahlen erzielt.
Es sind diese Ungleichheiten, die den Roman unterschwellig durchziehen und mit dem Leben in der herrschaftlichen Villa zusammengeführt werden. Während Guada sich schnell einlebt, verkörpert die Mutter auf tragikomische Weise den Gegenpol. Mit Sionys Vorstellungen und Werten zeigt sich nicht nur die elterliche Sphäre, von der sich die pubertierende Guada langsam absetzt; in Sionys Wünschen und Sehnsüchten nach Aufstieg repräsentiert sie auch eine gesellschaftliche Schicht. Draußen ziehen die politischen Ereignisse der Inselrepublik an Guada vorbei: Die Ermordung Benigno (Ninoy) Aquinos wird beiläufig in ihrer Kindheit diskutiert, die EDSA-Revolution und der Sturz Ferdinand Marcos vollziehen sich außerhalb des geschützten Villenkomplexes. Die politischen Erschütterungen werden ebenso gleichmütig zur Kenntnis genommen wie Naturkatastrophen, an die sich die Menschen schon gewöhnt hätten. Es werden die historischen Einschnitte in der Gegenwartsgeschichte der Philippinen zwar genannt, sie stehen für die Heranwachsende aber nicht im Zentrum. Guadas Welt dreht sich um Bücher, Filme und Popmusik.
Unaufdringlich weben sich die Eigenarten des Landes in die Entwicklungsgeschichte der Heldin, die im Durchlaufen der topischen Stationen des Aufwachsens zugleich eine breit angelegte Affinität zu Literatur und Popkultur ausbildet. Guada ist nicht nur eine Leserin, die schon in jungen Jahren mit den Klassikern der englischsprachigen Literatur vertraut ist; sie kann sich gleichermaßen für Unterhaltungsfilme und Musik begeistern. Im einen Moment noch diskutiert die Zehnjährige wie eine Erwachsene über Charles Dickens, um im nächsten Augenblick zum Fernseher zu eilen, weil Transformers anfängt. Kein Wunder, dass der Anhang des Romans ‚Ewoks‘ und ‚Vulkanier‘ gleichberechtigt neben ‚Adelantado Legazpi‘ (dem ersten Gouverneur, einem spanischen Konquistador) und dem ‚Pilipino‘ (der philippinischen Amtssprache) glossiert. Star Wars, Star Trek, Dune und Herr der Ringe besitzen die gleiche Bedeutung wie die äußeren Gegebenheiten, die sich immer stärker in das Leben der Heranwachsenden drängen.
Dass Guada keine ganz einfache Jugend hat, schlägt sich auch in ihrem Tagebuch von 1994 nieder. Neben Teenager-Problemen in der Schule wird deutlich, dass sie stärker an den Filmen David Lynchs interessiert ist als an einem Studium der Naturwissenschaften, auf das sie durch die Schulwahl der Mutter vorbereitet wird. Zugleich zeigen ihre Einträge ein literarisches Talent. Die Tagebuchaufzeichnungen offenbaren eine gute Beobachtungsgabe und einen ähnlichen (wenngleich dunkleren) Ton, der auch dem Roman zu eigen ist. Wenn der Roman die Hauptfigur im Alter von fünfzehn Jahren dann verlässt, scheint daher der Gedanke auf, dass die Zukunft Guadas eine ähnliche künstlerische Richtung einschlagen könnte, wie sie Jessica Zafra vorgemacht hat. Noch ist die Wut der Pubertät zu stark, die gefühlten wie realen Härten der Realität zu lebendig. Zuletzt aber bietet eine streunende Glückskatze die Ahnung, dass das nicht so bleiben wird, und so kann man Guada am Endes dieses schnellen, schön erzählten Romans getrost allein lassen.
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