Bruder wird immer da sein
Jente Posthumas Roman „Woran ich lieber nicht denke“ ist ein tiefgehendes Buch über den schmerzhaften Verlust eines geliebten Menschen
Von Peter Mohr
Die niederländische Autorin Jente Posthuma war hierzulande bisher ein unbeschriebenes Blatt. Das dürfte sich nun ändern, denn mit Woran ich lieber nicht denke, der im letzten Jahr auf der Shortlist des International Booker Prize stand, ist nun in deutscher Übersetzung ein außerordentlich beklemmender Roman erschienen, der sich um Suizid, Trauer und eine übergroße Geschwisterliebe dreht.
„Waterboarding, sagte ich zu meiner Mutter. Jemand legt einem ein Tuch aufs Gesicht und schüttet ständig Wasser drauf. Das fühlt sich an wie Ertrinken. Das ist Ertrinken.“ Mit diesen nüchternen, aber unter die Haut gehenden Sätzen wird der Roman über zwei Zwillingskinder eröffnet. Eine Atmosphäre aus Angst, Mobbing und Verzweiflung wird zum Begleiter bei der Lektüre.
Die 51-jährige, in Amsterdam lebende Jente Posthuma lässt darin eine Schwester auf ihre gemeinsame Zeit mit dem geliebten Bruder zurückblicken, der Suizid beging. Er fuhr mit dem Fahrrad in einen Fluss, als die Zwillinge 35 Jahre alt waren.
Die Schwester berichtet von einer Kindheit, die von gleichgültigen Eltern und Mobbing in der Schule geprägt war. Der Bruder war nur 45 Minuten älter, nannte sich „Eins“ und die Schwester (wie selbstverständlich) „Zwei“. Auch im emotionalen Ranking bei den Eltern hatte der Bruder die Nase vorn. Die Mutter konnte Nähe weder ertragen noch schenken. Der Vater hatte die Familie früh verlassen. Bruder und Schwester standen ständig in einer Art Wettstreit miteinander: wer am meisten kann, wer am meisten weiß – Versuche auf sich aufmerksam zu machen. Zumeist hatte der Bruder die Nase vorn und zementierte damit die „Eins“.
Im Alter von achtzehn Jahren zogen die Geschwister zusammen zum Studium in die Stadt, wo sie jeweils ein eigenes Stockwerk bezogen – sie auf der Westseite eines Parks, ihr Bruder auf der Ostseite. Zwischen ihnen lagen nur dreihundert Meter und doch fühlte sich für die Schwester die räumliche Trennung „gewaltig“ an.
Nach einer Kindheit als Außenseiter scheint der Bruder sein Leben als junger Erwachsener mit Elan anzugehen. Wie seine Schwester studiert er Englisch, wird Manager in einer Schwulenbar, bekommt einen neuen Freundeskreis und beginnt, ein eigenes Leben zu führen. Der Park zwischen ihnen verwandelt sich bald in einen Ozean, als sie nach New York und er dann nach Brasilien geht und sie sich zum Leidwesen der Schwester ein Jahr lang nicht sehen.
Nach dem Tod ihres Bruders schläft die Schwester vermehrt auf der anderen Seite des Parks – in dem Haus, das er bewohnt hatte, wo sie seine Kleider trägt und an seinem Küchentisch sitzt. Man spürt ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit – aber auch die ihres Mannes Leo, der hilflos zusehen muss, wie er seine Frau an ihren toten Bruder verliert.
Trauer, kaum zu beschreibender Schmerz und ein Höchstmaß an Ausweglosigkeit dominieren ihr Denken und Fühlen. Sie klammert sich an den Strohhalm der Erinnerung: „Wenn ich niemanden mehr habe, wird mein Bruder immer da sein.“
Dieses Leid steht bei Autorin Jente Posthuma das ganze Buch überim Mittelpunkt. Zugleich geht es auch immer wieder darum, wie Zwei immer wieder und oftmals auch vergeblich um die Gunst ihres Bruders kämpft. Das Buch zeichnet durchaus humorvoll auch die ausgeprägten Marotten der Schwester nach: ihre farbenfrohe Pullover-Sammlung und ihr beinahe obsessives Googlen über das World Trade Center und den Nazi-Arzt Josef Mengele. 142 Pullover umfasste ihre Sammlung, als sie konstatiert: „Es wurde Zeit, in Therapie zu gehen.“
Woran ich lieber nicht denke ist ein trauriges und tiefgehendes Buch über den schmerzhaften Verlust eines geliebten Menschen, bei dessen Lektüre man dennoch oft schmunzeln muss. Jente Posthuma hat es glänzend geschafft, eine ungekünstelte Atmosphäre der Tragikomik zu evozieren. Ihren Namen sollten wir uns für die Zukunft merken.
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