Mit Zeitreisen Zeit verschwenden

Jörg Helbig und Andreas Rauscher möchten in ihrem Sammelband „Zeitreisen in Zelluloid“ dem Motiv des Zeitreisens begegnen, können allerdings lediglich ein Konvolut zusammentragen, das größtenteils aus unfertigen oder das Thema verfehlenden Texten besteht

Von Martin JandaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Janda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Filme, in denen Zeitreisen thematisiert werden, bieten zumindest Möglichkeiten der medialen Selbstreflexion, der narrativen Erweiterung der Diegese und Kontrastierung gesellschaftlicher Standards. So demonstriert beispielsweise Christopher Nolans Tenet, dass eine Fiktion in die Zukunft als auch in die Vergangenheit schreitend gleichzeitig präsentiert werden kann – während in der afilmischen Welt ein gleichzeitiges Nebeneinander von zeitlichem Fort- und Rückschritt nicht möglich ist, was durch das medientechnische Vorwärts des Abspielens des Films untermauert wird. In Zurück in die Zukunft II wird die Reise in die Vergangenheit als folgenreiche Tat offenbart, die zur Verästelung der diegetischen Historie, damit zu multiplen Zeitlinien und  Parallel-Universen führt. Zugleich kontrastiert Star Trek IV – Zurück in die Gegenwart mit der Reise der ehemaligen Enterprise-Crew aus ihrem vertrauten 23. Jahrhundert in die damals afilmisch zeitgenössischen 1980er Jahre durchaus humorgeladen die medialen Konstrukte des ‚Idealmenschen der Zukunft‘ und des bisweilen rüpelhaften Menschen der Filmproduktionsgegenwart.

Damit sei gesagt, dass Zeitreisefilme ein großes Potential zur wissenschaftlichen Betrachtung haben, sodass der von Jörg Helbig und Andreas Rauscher herausgegebene Sammelband Zeitreisen in Zelluloid, dem 18. Band der Schriftenreihe Focal Point, hoch willkommen ist. In 16 auf acht thematisch unterschiedlich geprägten Kapiteln wie „Zeitschleifen“ oder „Zeitumkehr und Palindrome“ verteilten Aufsätzen versucht der Band, dem auf dem Rückdeckel gemachten Versprechen nachzukommen, „einen differenzierten und aktuellen Blick auf die vielen Spielarten von Zeitreisen im Film“ zu werfen. Der Sammelband versichert sich seiner eigenen Relevanz dabei, indem der Rückdeckel zudem noch eine Konjunktur von Filmen mit dem Zeitreisemotiv konstatiert.

Matthias Hurst steigt ins Thema ein, indem er vom Jahre 1895 sowohl als Jahr des Kinogründungsmythos als auch als Jahr der Veröffentlichung des H.G. Wells‘schen Romans Die Zeitmaschine das Medium Film als Zeitmaschine zu fassen versucht. Dabei verrennt er sich in eine ermüdende Aneinanderreihung von Vignetten, die auf den tönernen Füßen der Psychoanalyse steht. Als nächstes zieht Hans J. Wulff allerlei Topoi des Zeitreisefilms heran, um das ‚motivische Feld‘ abzustecken, wobei nicht nur die bloße Oberflächlichkeit das Ganze zu einer nicht weniger ermüdenden Aufzählung verkommen lässt, sondern der Text auch von fragwürdigen Aussagen wie „Die meisten Zeitreisen zielen in die Zukunft und die meisten Reisenden landen in dystopischen Gesellschaften“ (S.44) durchzogen ist – eine These, die zum einen ob der von Wulff selbst herangezogenen Beispiele widerlegt wird, zum anderen auch ohne ausgiebige filmhistorische Analyse des Zeitreisefilm-Diskurses intuitiv eher als falsch zu erachten ist. Zudem ist sich Wulff nicht zu schade, in einem Anfall deplatzierter Tugendbezeugung sich nicht zu entblöden, von einem möglichst frühen erfolgreichen Attentat auf Adolf Hitler zu schwärmen: „je früher, desto besser!“ (S.47). An dieser Stelle möchte ich fragen, ob es Wulff ausreichend früh wäre, wenn das Attentat im Säuglingsalter erfolgte oder er es bevorzugen würde, wenn bereits die schwangere Mutter eliminiert würde? In zweitem Fall dürfte Wulff die Skynet‘sche Methode aus Terminator zusagen, da hier ebenfalls bereits die Geburt eines ideologischen Widersachers verhindert werden soll. Dass das Computersystem Skynet Anführer der Antagonisten, der mordenden Roboter, ist, sollte Wulff jedoch zu denken geben.

Doch selbst nach diesem Ärgernis wird es nicht besser, denn mit Marcus Stigleggers Text zu Steampunk-Motiven in Filmen erreicht der Sammelband einen weiteren Tiefpunkt. Denn das eigentliche Zeitreisemotiv wird hier mittels der fadenscheinigen Begründung, dass „[e]rzählende Werke des Steampunk in Literatur, Film und Game […] per se als Zeitreise betrachtet werden [könnten]“, ignoriert, um einen thematisch falschen Text im Buch platzieren zu dürfen. Eine ähnlich irrige und damit das Zeitreisemotiv bis zur Bedeutungslosigkeit verzerrende Aussage lässt sich auch bei Susanne Bach finden, die jede Form der Erinnerung als Zeitreise versteht. Dass Stigleggers Beitrag auch noch die Verwurstung eines Kapitels einer acht Jahre zuvor erschienen Monografie ist, lässt das Qualitätsmanagement der Herausgeber in einem noch schlechteren Licht dastehen.

Immerhin ist es mit Jörg Helbig einer der beiden Herausgeber, der die nach 73 inhaltlich sehr schwachen Seiten strapazierten Leser mit seiner Auseinandersetzung mit Zeitschleifeplots kurzzeitig zurückgewinnen kann. Denn Helbig gelingt es, die naiv als erfreulich zu betrachtende Fähigkeit von Protagonist Phil Connors in Täglich grüßt das Murmeltier – nämlich nicht nur immer wieder denselben Tag zu erleben, sondern diese tägliche Wiederholung auch wahrzunehmen und zu erinnern – als Erkenntnisfähigkeit der begrenzten Einflussmöglichkeiten auf die persönliche Umwelt und damit den sich wiederholenden Tag als Höllenmotiv zu deuten, so dass die Zeitschleife zur desillusionierenden Perspektive auf das menschliche Leben und damit zu einer zur Resignation einladenden Analogie zum menschlichen Alltag gerinnt.

Der zweite gelungene Beitrag folgt knapp hundert Seiten später mit Sabrina Gärtners Betrachtung palindromischen Erzählens. Palindromisches Erzählen als rückwärtiges Erzählen ohne eigentliche Zeitreise wie in Christopher Nolans Memento betrifft jedoch zunächst nicht die diegetische Ebene der Erzählung beziehungsweise die histoire/story, sondern die Ebene von discours/plot, also die Ebene des Erzählens und somit der Erzähltechnik. Gärtner spannt das Thema über zwei weitere Filme auf, in denen die erst Jahre später innovativ erscheinende Aufnahmen von Nolans Tenet gar nicht mehr so innovativ erscheinen, da diese – Richtung Zukunft durch die Nacht und Symmetry – A Palindromic Film – diegetische Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen in der Zeit in derselben Sequenz festhalten und damit die strenge Trennung der Ebenen von histoire/story und discours/plot, also des Erzählten und des Erzählens, destabilisieren.

Auch wenn Jörg Helbigs und Sabrina Gärtners Texte die inhaltlichen und argumentativen Höhepunkte des Sammelbands markieren, so leiden auch diese Highlights wie der Großteil der Texte daran, jäh abzubrechen und unfertig zu wirken. Zusätzlich ist der Sammelband auffällig, ein Sammelsurium von Texten aufzufahren, die entweder durch Unkenntnis des Themas, Missverständnisse in der Rezeption des Analyseobjekts, zu oberflächlichen und/oder zu unfokussierten Betrachtungen des Themas glänzen. Tobias Helbig und Andreas Rauscher verweigern sich mit ihren Betrachtungen von Zeitreisen in Videospielen und Fernseh- beziehungsweise Streaming-Franchises sogar dem titelgebenden Medium (Kino-)Film, welches durch den Verweis auf „Zelluloid“ im Titel des Buchs eigentlich bedient werden sollte. Dass Rauscher sich ausgerechnet an Star Trek im falschen Medium Fernsehen oder Streaming austobt, ist ob des gerade in den Kinofilmen des Franchises zu bergenden Reichtums an Erkenntnissen nicht nur irritierend, sondern schlicht fahrlässig: So ruft Star Trek IV – neben dem oben bereits erwähnten sozialen Kontrast – mit seinem überspitzten Katastrophenszenario zum Nachdenken über realen Tierschutz und folglich zum Schutz der menschlichen Zivilisation auf; Star Trek 8 hingegen fokussiert als Präsentation einer (noch) nicht so utopischen Zukunft der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts auf die Bewahrung der narrativen Konsistenz des Franchises, wenn das diegetische Ereignis des ersten Flugs mit Warpgeschwindigkeit und dem daraus resultierenden Erstkontakt mit Außerirdischen gesichert werden muss, welcher für die Gründung der den Weltraum bereisenden Planetenföderation fundamental ist. Das Star Trek-Reboot von 2009 geht dabei genau in die gegenläufige Richtung von Star Trek 8, indem die Reise des Bösewichts in die Vergangenheit den Verlauf des Franchises dauerhaft verändert und die dafür verantwortlichen Drehbuchautoren Alex Kurtzman und Roberto Orci sich ungewollt metaleptisch mit eben jenem Bösewicht assoziieren.

So lässt sich in aller Kürze zusammenfassen, dass es sich bei diesem Sammelband bedauerlicherweise um eine vertane Chance handelt, ein eigentlich interessantes Thema und reichhaltiges Forschungsfeld sinnvoll zu erkunden. Vielmehr wirken die meisten Texte gezwungen und lustlos wie Auftragsarbeiten, die nicht dem Anspruch an ernsthafter thematischer 
Auseinandersetzung gerecht werden und daraus folgend lehrreiche Erkenntnisse vermitteln möchten, sondern zuvorderst dem Auffüllen der Veröffentlichungslisten der Autoren dienen sollen.

Titelbild

Jörg Helbig / Andreas Rauscher (Hg.): Zeitreisen in Zelluloid. Das Motiv der Zeitreise im Film.
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2022.
278 Seiten, 37,50 EUR.
ISBN-13: 9783868219678

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