Januskopf, Bezauberer und Epigone

Der Essayist Gerhard Nebel in einer Auswahl seiner Essays

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Carl Schmitt soll einmal bemerkt haben, Gerhard Nebel gehöre zu jenen Leuten, "die Poseidon anrufen, wenn sie einen Hering gegessen haben." Dieser Enthusiasmus hat ihm nicht viel genutzt, denn wer kennt heutzutage noch Gerhard Nebel? Vielleicht irgendein Schwarmgeist, der in heiliger Selbstfeier die Uckermark durchpflügt, einen jener Essays memorierend, die sich an Stefan George und der "entgötterten Welt", an Ernst Jünger und der "Wildheit des Rausches", an Heideggers Daseinsanalytik und Hamanns "Dunkelheit" orientieren.

Eine kleine Auswahl aus hunderten von Essays macht Gerhard Nebel (1903 - 1974) jetzt wieder zugänglich. Schon sein Hamann-Portrait beginnt fulminant. Dargestellt wird ein Unbegreiflicher, ein "kahlköpfiger Tölpel", ein "ungeschickter Blödling", eine "Pantoffel- und Schlafrock-Existenz", ein "geduckter Biedermann", ein "der Klugkeit, wenn auch nicht der Weisheit ermangelnder Verwirrter". Einer, der es im Leben zu nichts gebracht hat, doch der zugleich ein "Bezauberer" gewesen ist, eine "authentische Existenz", ein "Prophet", dessen "Dunkelheit" auf den ungefilterten Ausdruck dessen, was ihn bewegt habe, zurückzuführen sei. Einer, der völlig "in der Bibel" gelebt habe.

Ein Unzeitgemäßer also. Von Johann Georg Hamanns Texturen schließt Gerhard Nebel auf den Zustand des Verfassers im Augenblick seiner Niederkunft: "Hamann schrieb in Hitze und Leidenschaft, und wenn diese erkalteten, so schwanden auch die Verstehensgründe des Textes dahin." Nebels Literaturbegriff erweist sich hier als zugleich altmodisch und modern, denn zugleich altmodisch und modern ist die umstandslose Identifizierung von erlebendem Autor und schöpferischem Augenblick, die Vorstellung also, dass ein Werk unmittelbare Erfahrung und dokumentierte Erkenntnis im Augenblick seiner Entstehung sei. Als Gebildeter wusste Nebel natürlich, dass Hamann sehr wohl eine Wahlmöglichkeit unter verschiedenen Sprechweisen hatte, dass er sich, indem er sich an Kant maß und orientierte, des Registers bewusst war, in dem er seine Theologie der Aufklärung entwickelte. Aber für den Essayisten Nebel war die These entscheidend, dass die Darbietungsform eine Erkenntnisform zu sein habe, die nicht bloß den Gegenstand einer Rede transportiere oder nur Produkt eines Ereignisses sei, sondern ihrerseits als Auslöser von Erkenntnis fungiert und das Ereignis selber produziert und performiert. Dieses Wissen, dass der Essay nicht entweder Form oder Inhalt ist, sondern beides zugleich unter je verschiedenen Blickwinkeln (so, wie es Piaget formulierte: "jedes Element ist ein Inhalt für das, das ihm auf der nächst höheren Ebene entspricht, und eine Form für das, das ihm auf der nächst tieferen entspricht"), dieses Wissen lebte und praktizierte der Essayist Nebel, und diese Praxis zeichnet ihn vor anderen aus.

Gerhard Nebel ist eine durchaus janusköpfige Gestalt gewesen und ein politisch unsicherer Kantonist. Den Freunden war er ein Judas, und seine Überzeugungen wechselte er wie andere das Hemd: Erst Sozialdemokrat, später, nach Papens Preußenschlag, Marxist, Nihilist, Atheist, "ein wüster Hasser und Schläger" der Kölner SAP; in der Nazizeit aus dem Schuldienst entlassen; Mitte der dreißiger Jahre plötzlich Gottsucher; Anfang der vierziger Jahre Reaktionär und Paladin und Apologet Ernst Jüngers; nach dem Zweiten Weltkrieg rege essayistische Tätigkeit in über dreißig Büchern und zahllosen Zeitungen und Zeitschriften, darunter Antaios, Frankfurter Allgemeine, Merian, Neue Deutsche Hefte und Scheidewege. Schließlich, in den sechziger Jahren, verlor er mehr und mehr an Bedeutung, wie überhaupt der Essay in Deutschland nie so recht Fuß fassen konnte.

Manches ist womöglich zu Recht vergessen. In seinen schwächeren Momenten ist Nebel durchaus konventionell, ist er Existenzialist und Metaphysiker zweiter Ordnung, ein Epigone, zu dessen obstinaten Gesten es gehört, den emphatischen Augenblick als den produktiven Impuls der Genialität zu feiern. Die Alternative dieser Haltung ist in seinem System politisch-ideologisch ausgeleuchtet als die Impotenz und Rationalität der "Zivilisation". Nebels Epigonalität hat viele Väter. Wenn er über "Jetzt und Augenblick" philosophiert, so klingt Heidegger nach ("im Modus der Verstandenheit", "das Da des Jetzt"), der verehrte Lehrer, den Nebel noch selber gehört hat und dessen Gefolgschaft Hitlers als - horribile dictu - "ehrenwerte[r] Irrtum" eingestuft wird. Aber auch Fichte, Hegel und die dialektische Theologie Karl Barths und Rudolf Bultmanns gehören zu Nebels übermächtigen Vätern. Erdrückend war schließlich der Einfluss Ernst Jüngers, und wie ein versuchter Vatermord wirken die polemischen Auslassungen, die von dritter Seite, etwa im Briefwechsel Jüngers mit Carl Schmitt, nach und nach zu Tage treten. Nebel war offenbar ein Autor, der die wechselvolle Wertschätzung seiner Arbeit überaus empfindsam und verletzlich wahrgenommen hat, der versuchte, seine Überväter loszuwerden, denn in ihrer Progenitur war der Essayist kein originärer Selbstdenker, sondern ein mehr oder weniger geschickter Synkretist, der sich in zahllosen, bisweilen unfunktional erscheinenden Digressionen erging.

Doch seine Essays behaupten sich besser als ihr Verfasser, denn alle Digressionen haben einen Bezug zu ihrem Urheber, als wollten sie von seiner inneren Zerrissenheit erzählen, mit der er die "Aufgerissenheit" seiner Zeit zu dokumentieren suchte. Ist Gerhard Nebel also ein - wenn vielleicht auch kleiner - ästhetischer und ideologischer Spiegel des 20. Jahrhunderts? Die zahlreichen Volten und Wendungen seiner Vita sprechen dafür. Hinzu kommt, dass Nebel, wie jeder Konvertit oder Renegat, seinen jeweils neuen Kurs besonders vehement zu vertreten wusste. Er liebte entschieden und hasste entschieden - oft bis zur Borniertheit oder Selbstpreisgabe. So war es bestenfalls unangemessen, was der ehemalige Anarchist Nebel über anarchische Tendenzen der Studentenbewegung zu sagen hatte (1970 in "Weinrausch und Unendlichkeit"). Denn von seinem Werdegang her hätte er mit dem Bürgerschreckgestus der Achtundsechziger sympathisieren müssen. Er tat es nicht, weil diese Bewegung für ihn kein Ereignis transzendierte, weder politisch noch ästhetisch. Er glaubte hier ähnlich wie Baudelaire zu fühlen, der als Spätfolge der Französischen Revolution nur eines empfand: Langeweile.

Dergleichen kennt man und weiß man und hat es tausendmal gelesen. Es wäre selbst langweilig und ereignislos, wäre Nebel nicht so ein fluider Geist, der sich mit statischen und lähmenden ideologischen Rumpfpositionen nicht weiter abgab, sondern sich ständig neu orientierte. Sein Realitätsbegriff sieht in der "Reduktion auf die Realität" einen Zustand "ontologische[r] Armut", und deshalb musste er in seinen Essays immer neue Suchbewegungen starten, die ihn aus der Ödnis der Faktizität herausführten. In seinem Essay "Langeweile und Zivilisation" führt er seinen Leser zum Numinosen Gottes, das Tremendum und Faszinosum zugleich ist. Ohne Erschrecken, ohne Gottesfurcht, ohne "heilige Angst", so Nebel, gäbe es "kein Ethos, keine Personalität, kein[en] Kult, kein menschenwürdiges Dasein". Das klingt, um 1970 gesprochen, provokativ und weltfremd, aber es dokumentiert eine reale Angst, die mit der Langeweile gemeinsam hat, dass sie sich "auf ein Undefiniertes und Grenzenloses" bezieht.

Nebels Essays kreisen mithin um dieselben, letztlich chilistischen Fragen. Spätestens im dritten oder vierten Essay erschließt sich, dass Gerald Zschorsch seine Auswahl klug angelegt hat, denn von jedem Essay führen in die je anderen geheime oder offenbare Filiationen, so dass sich dieser vergleichsweise schmale Band wie von selbst zu einem Mosaik gruppiert und weite Aspekte von Nebels Essayistik erschließt. So wird Stefan Georges Dichtung genau jener "frechen Rationalität" entgegen gestellt, die zur "Entgötterung" und damit zur zivilisatorischen Ödnis der Welt geführt habe. Ganz ähnlich wird im Drogenessay ("Weinrausch und Unendlichkeit") genau jener Wechsel von "drogischer Lust", "Qualen der Süchtigkeit" und gelangweiltem Konsum beschrieben, der zur "Agonie der Existenz" führen müsse. Der George-Essay, nebenbei eine flammende Verteidigung der Homosexualität, formuliert vielleicht am deutlichsten, woran Nebel sich orientierte, nämlich an Georges Kunst, ein "Jenseits" der Realität wahrzunehmen und in Form eines "rauh gefügten Gedichtes" zur Sprache zu bringen. Die poetische (oder kultische) Rede soll dabei die inneren Disharmonien des Sprechers abbilden und zu einer "Fügung höheren Ranges" kommen. Die Produktionsästhetik, die Nebel hier entwickelt, sieht er bei so unterschiedlichen Autoren wie George, Hamann, Heidegger, Jünger und Max Weber umgesetzt. Sein Essay über Stefan George ist zugleich eine Würdigung Max Webers, dessen Charisma und Rationalität ihm höchsten Respekt abnötigt. Erneut zeigt sich hier, dass es Nebel nur indirekt, über den Spiegel charismatischer Persönlichkeiten, gelungen ist, sich und die Welt zum Sprechen zu bringen, so wie er sie erfuhr. Hier aber erweist er sich als Katalysator, als schöpferischer Kopf, dessen Erscheinen selten ist in einer Kultur, in der Essays kaum gedeihen.

Titelbild

Gerhard Nebel: Schmerz des Vermissens. Essays. Auswahl von Gerald Zschorsch, Nachwort von Sebastian Kleinschmidt.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000.
287 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3608934588

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