Gedächtnistexte

Frauke Berndt über die Topik der Erinnerung in Romanen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauke Berndt hat in ihrer an der Goethe-Universität Frankfurt/Main eingereichten Dissertation die Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 untersucht und dabei Karl Philipp Moritz' "Anton Reiser", Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich" und Wilhelm Raabes "Die Akten des Vogelsangs" in den Blick genommen. Die Rede über Gedächtnis und Erinnerung, die im Mittelpunkt dieser drei Texte steht, wird von ihr als Rede über ästhetische Modelle verstanden, die, dem Wesen der memoria als passivem Speicherungs- und aktivem Reproduktionsvermögen entsprechend, sowohl Modelle kultureller Wissensorganisation als auch Modelle der Wissensabbildung sind. Die dabei erkennbare Verwandtschaft von Erinnerung und literarischer Produktivität findet sich nach Ansicht der Verfasserin bereits in der aristotelischen Gedächtnisschrift "De memoria et reminiscentia" theoretisch begründet und wird von Augustinus in den autobiographischen "Confessiones" erstmals poetisch reflektiert. Die Gemeinsamkeit der von ihr untersuchten Texte bestehe nun darin, dass sie "Erinnerungstexte" seien, dass sie "selbst- und formbewußt" zwischen Hermeneutik und Rhetorik, zwischen individueller Erinnerung und kulturellem Gedächtnis operierten. Mit dem Ich der "Confessiones" verbinde die Helden dieser (auto-)biographischen Texte der Wunsch, "sich in der Erinnerung ihres verschütteten Ursprungs selbst zu erkennen und [...] als autonome Persönlichkeiten zu konstituieren". Dieser Selbstwerdungsprozess sei in den "Akten des Vogelsangs" ebenso wie im "Anton Reiser" und im "Grünen Heinrich" an die Künstlerproblematik gebunden, weshalb eine lediglich an psychoanalytischen Theoremen orientierte Betrachtung dieser Texte zu kurz greife.

Berndts Textauswahl folgt dem Prinzip der exemplarischen Lektüre. Auf die Präsentation eines breiten Spektrums einschlägiger (auto-)biographischer Romane, das u. a. auch Brentanos "Godwi", Novalis' "Heinrich von Ofterdingen" oder Goethes "Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit" eingeschlossen hätte, verzichtet sie zugunsten der Rückbindung jedes einzelnen Textes an das theoretische Fundament ihrer Arbeit. Während die Zusammenstellung von Moritz' "Anton Reiser", dem wichtigsten deutschsprachigen Erinnerungstext des ausgehenden 18. Jahrhunderts, und Kellers "Grünem Heinrich" bereits durch die intertextuelle Verschränkung der beiden Bildungsromane legitimiert scheint, tritt mit Raabes "Akten des Vogelsangs" eine Erzählung hinzu, die nach Ansicht der Verfasserin von der Forschung bislang fälschlich dem literarischen Realismus zugeordnet wurde, da der in ihr geführte Erinnerungsdiskurs in einem Tableau inszeniert werde, das ausgewiesenen Texten des europäischen Symbolismus näher stünde. Darüber hinaus repräsentierten die ausgewählten Texte den Erinnerungsdiskurs "in drei den Epochenschwellen und ihrer Semiotik angelehnten Schritten: 1800, 1850 und 1900". In allen drei Texten werde die Schrift-Metaphorik aufs engste mit der mnemonischen Raum-Metaphorik verbunden, werde das für die Gattung verbindliche Modell des Lebenslaufs von den Erzählern bei der Niederschrift der Erinnerungen zu ordo-Modellen umfunktioniert. Mit den Wanderungen und Reisen der Helden trete jeweils auch die Topik von Stadtraum (Moritz), Landschaft (Keller) und Nachbarschaft (Raabe) in den Vordergrund der Komposition. Auf diese Weise entstünden Gedächtnisräume, in denen die autobiographischen Helden, der Technik einer praktischen memoria-Lehre folgend, ihre Erinnerungen auf den Stationen ihres Lebensweges gewissermaßen nachträglich an den dafür vorgesehenen Orten (loci) deponierten, und zwar als szenisch präsentierte, nicht chronologisch folgende, sondern assoziativ miteinander verknüpfte Bilder (imagines).

In methodischer Hinsicht lässt Frauke Berndt in ihrer Arbeit zwei Forschungsrichtungen konvergieren, die in den vergangenen Jahren verstärkt in den Mittelpunkt von Philologie und Kulturwissenschaft getreten sind: die Intertextualität und die Mnemonik. Fragt Erstere danach, inwieweit ein Text in seiner Struktur andere zitiere, so sucht Letztere nach Topoi der Erinnerung, die den Text als Textgedächtnis, d. h. zum einen als eine Form des individuellen Gedächtnisses im Sinne antiker Philosophie und Rhetorik und zum anderen als kollektives kulturelles Gedächtnis konstituieren. Der Begriff "Text" wird von der Verfasserin dabei im umfassendsten Sinne verwendet. Er meint nicht nur die literarischen Vorbilder, die im Zitat, in der Konstitution und Konstellation von Figuren oder in der Erzählstruktur aufscheinen, sondern ebenso die ikonographischen.

Die Souveränität, mit der Frauke Berndt einzelne intertextuelle Bezüge herausarbeitet und jeweils in eine sinnvolle Interpretation des Gesamttextes integriert, verdient schon allein aufgrund der Heterogenität des Materials Anerkennung, selbst wenn Einzelheiten mitunter verkürzt dargestellt werden. Dass sie ihre Ergebnisse auf einem hohen sprachlichen Niveau zu präsentieren weiß, dabei aber stets verständlich bleibt, ist ein weiterer Vorzug ihrer Arbeit. Berndt hat "Anton Reiser", "Der grüne Heinrich" und "Die Akten des Vogelsangs" als Texte vorgestellt, die nicht nur individuelle Erinnerung thematisieren, sondern zugleich kollektives Gedächtnis sind. Der künftigen Forschung ist damit eine mögliche Spur zum Verständnis (auto-)biographischer Erzählungen und Romane des 19. Jahrhunderts gewiesen.

Titelbild

Frauke Berndt: Anamnesis.
Deutscher Studienverlag, Tübingen 1999.
550 Seiten, 68,50 EUR.
ISBN-10: 3484150890

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch