System von der traurigen Gestalt
Annett Gröschner beschreibt die DDR als Lebensraum der Enge
Von Ron Winkler
Man wird die DDR wohl nicht als Staat der Veränderung bezeichnen wollen. Was Utopie war, in großen Lettern auf rotes Tuch geschrieben, weste in der Regel bald vor sich hin und ging unter im undurchschaubaren Räderwerk eines Systemversuchs, der sich sozial nannte, die Humanität aber leicht auszuklammern verstand. Der zu einem Staat führte, der starr war. Zu einem System von der traurigen Gestalt.
Der Mensch, ungefragt von der Diktatur mitgenommen, fand sich im Wendekreis der Paralyse wieder. Tiefgekühlt in der Unmöglichkeit, sich zu bewegen, Gedanken zirkulieren zu lassen. Von ferne betrachtet, wirkte die DDR wie eine in die Zeit gedehnte Kältevorrichtung. Wie harscher Schnee überzogen Tristesse und moralische Blässe das Land. Um den Winter aufrecht zu erhalten, war von Seiten des Regimes die dauerhafte Zufuhr von kalter Reglementierung nötig. Sei es durch die rhetorische Zurechtbiegung der Verhältnisse, sei es durch das Instrumentarium doktrinärer Zwänge. Apparate dieser Art funktionieren gemeinhin unter Kaltstellung ihrer Völker.
Insofern ist "Moskauer Eis" eine gewichtige Metapher. Moskauer Eis. Das klingt nach Langzeitsibirien, nach tiefgekühlter Stimmung, nach fest aufeinander gepressten Lippen. Man hatte sich mit frostigen Zumutungen zu arrangieren, mit geistiger Verfrorenheit.
Mit einem "Prolog im eiskalten Arbeitszimmer" beginnt Annett Gröschner ihre erzählerische Annäherung an das Leben Ost. Ein Prolog, der die Enge besser kennt als das Ende des Himmels. "Wir waren im Wartestand. Wir warteten seit unserer Geburt. Auf den Bus, auf ein Auto, auf ein Kind. Wir warteten auf eine Wohnung, einen Brief, auf eine Aufforderung, uns um sieben im Polizeipräsidium einzufinden. Einige warteten auf einen Zettel, der sie berechtigte, das Land auf Dauer zu verlassen. Andere warteten auf eine winzige Veränderung, auf einen Bombenanschlag, auf den Tod eines Generalsekretärs. Auf ein Westpaket. Auf ein Substantiv, das Liebe hieß, oder ein anderes Surrogat, das sie für Momente den Wartestand vergessen ließ."
Da ist deutlich Rauhreif auf der Zunge, Verhärtung, die bittere Lethargie einer früh um Perspektiven beschnittenen Existenz. Der Prolog, ein durchaus eigenständiger, ausgefeilter Traktat, fungiert dabei als Überbau zur Deutung der Verfassung jener, die hier schreibt. Der Gang in diese Geschichte, so muss bewusst werden, ist ohne den Ton der Enttäuschung nicht zu haben. Gröschner gelingt es jedoch, jene Larmoyanz zu vermeiden, die sich bei einer Klage ohne Gegner leicht einstellt. Die Sprache befindet sich im Schwebezustand zwischen lapidarer Analyse und einem ungefilterten Ausdruck des Staunens. Die Autorin lässt eine Zeit Revue passieren, in der man zunächst tragisch festgefroren war in Mangel und Demütigung, bis sich dann die Mauer öffnete und das Neue über das Alte gespült wurde, stimulierend und irritierend zugleich. "Der gerade Weg von der Geburt zum Tod verzweigte sich. Es war, als hätte jemand einen Filmprojektor auf Schnelldurchlauf gestellt ... In einem Jahr lebten wir zehn, vielleicht dreißig Jahre, die Spuren hinterließen auf unseren Gesichtern."
Dennoch folgt mit der eigentlichen Erzählung kein Abrechnungsroman. Annett Gröschner nimmt zwar die Misanthropie und Sturheit sozialistischer Lebensleitung auf, ihr ist aber auch daran gelegen, die darin möglichen Oasen von Wärme zu erfassen, selbst wenn das Glück immer mit Illusion zu tun hat. Das Leben konnte nicht schön sein wegen, sondern trotz der Umstände. Als hemmend erwies sich vor allem und permanent das großbrüderliche Einmischen in jeden Versuch, Eigenständigkeit zu erlangen.
Gröschners prinzipiell sehr ernsthafte Darstellung der Lebenswirklichkeit in einem graugesichtigen Staat funktioniert durch einen ausgefallenen Rahmen. Annja Kobe, die in ihrer Biographie der Autorin sehr nahe Protagonistin, findet ihren Vater bei einem Besuch nur mehr tot auf - perfekt gefrostet in seiner Kühltruhe. Jenes zunächst nicht ganz durchschaubare Ableben bildet zusammen mit dem abzusehenden Tod der von ihr betreuten Großmutter eine Situation, die es ermöglicht, sich in verschiedenste Vergangenheiten zu begeben: Welches Leben endete mit dem Vater, und warum auf diese Weise? Was lag vor der Senilität der Großmutter? Wie hießen die Konflikte und worin war Poesie? Über die Erinnerungen der Annja Kobe wird episodisch die Geschichte ihrer und der Generation vor ihr erzählt - mit all ihren Fragen, Phantasien und Utopieverlusten. Der Zeitrahmen ist weit, reicht von der Gegenwart zurück bis in den Nationalsozialismus.
"Moskauer Eis" erzählt von einer Familie, die - auf eine besondere Art - der Kälte verfallen war. Gerade der männlichen Linie ging es um die Tiefkühlung, die Erforschung der Gefriermöglichkeiten von Lebensmitteln - gewissermaßen darum, Lebendiges qualifiziert in einen Minusbereich zu versetzen. Zumeist waren die Pläne von Rückschlägen begleitet: von Konzessionen an die Unerreichbarkeit notwendiger Dinge, vom Scheitern der Theorie an der Praxis.
Die Möglichkeit, das Ganze als Analogie zum Charakter des Staates zu lesen, besteht. Die Erfolge sind selten und ephemer, progressive Ansätze erweisen sich als fehlgeschlagene Experimente. Aber der Roman steht für etwas anderes (wie auch "Moskauer Eis" tendenziell nur der Name einer exklusiveren Eissorte ist). Die Autorin weiß, dass dem Land, von dem sie schreibt, mit Eindimensionalität nicht beizukommen ist. Und so schichtet sie ihr Bild aus einer Vielzahl von Beobachtungen, und trotz des spürbaren fundamentalen Angegriffenseins wirken diese eigentlich nicht verzerrt. "Moskauer Eis" ist detailliert und anschaulich und in seiner Darstellung vor allem plausibel. Was der Roman erzählt, scheint objektivierbar.
Angereichert mit spöttischem Zungenschlag und der Fähigkeit, Dinge unkommentiert zu lassen, weil sie ihre Absurdität selbst preisgeben, ist hier eine äußerst intelligente Sprache zu Literatur geworden. Jenseits von Verbitterung, und nicht zuletzt fesselnd. So wird der Staat, der ins Off direkter Wahrnehmung zu rutschen droht, nahbar gehalten. In ausgewogener Temperatur. Und ohne die Penetranz nostalgischer Verzärtelung.
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