Keine Heimat, nirgends

Der neue Roman von Milan Kundera erzählt vom Exil

Von Oliver SeppelfrickeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Seppelfricke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Roman des in Paris lebenden Tschechen Milan Kundera ist aus drei Gründen bemerkenswert. Denn dieser Roman, den Kundera auf Französisch geschrieben hat, ist zuerst in Spanien erschienen, in einer Übersetzung. Nachdem einige französische Kritiker Kundera bei seinen letzten Büchern einen "armseligen Stil" vorgeworfen hatten, eine ungenügende Kenntnis des Französischen und seiner Möglichkeiten, wollte Kundera seine Kritiker wohl dupieren. Zweitens spricht Milan Kundera in seinem neuen Werk "Die Unwissenheit" zum ersten Mal mehr oder weniger deutlich von seinem eigenen Exil in Paris. Von den eigenen Gefühlen der Heimatlosigkeit, von den Schwierigkeiten der Emigration. Und der dritte und wichtigste Punkt: Wir haben es hier nach so vielen Jahren wieder mit einem großen Kundera-Roman zu tun, mit einem wirklich bedeutenden Werk.

In Milan Kunderas Roman kreuzen sich die Lebenswege von fünf Personen aus vier verschiedenen Ländern. Irena ist Tschechin, um die 50 und 1968 mit ihrem Mann Martin nach Paris geflohen. Martin, der bald stirbt, wird durch Gustav ersetzt, einen Schweden, den es ebenfalls nach Paris gezogen hat, und der wie Irena zwei Kinder aus erster Ehe mitbringt. Josef wiederum ist Tierarzt und ebenfalls nach der Niederschlagung des "Prages Frühlings" nach Dänemark emigriert. Die fünfte Person in diesem Reigen ist Milada, eine Tschechin, die im Land geblieben ist und die alle Höhen und Tiefen der Zeit nach 1968 erlebt hat. Sie sind in Kunderas Roman die Quellen für unterschiedlichste Erfahrungen und Erlebnisse.

Milan Kundera verfolgt die Schicksale seiner fünf Protagonisten über Zeiten und Länder hinweg. In geschickt gesetzten Rückblenden trägt er uns die Begegnungen der Figuren als Kinder und Jugendliche vor, lässt uns an Träumen und Alpträumen der idealistischen oder resignierten jungen Menschen teilhaben. Resignation entsteht dabei vor allem in Liebesfragen, denn bei Kundera kommen die Liebenden selten zueinander: weil sie unterschiedliche Gefühle haben, weil das Leben sie auseinandertreibt, weil Mann und Frau durch Welten getrennt sind. Es verbindet sie nur das gemeinsame Schicksal des Exils. Ihre unterschiedlichen Biografien berühren alle Fragen der Emigration: die Frage der Sprache beispielsweise, der Fremdheit in einem neuen, ungewohnten Idiom; die Frage der Ortlosigkeit und Heimatlosigkeit; die Frage nach verpassten persönlichen und politischen Chancen, das Problem der Freundschaft in der neuen wie der alten Heimat, in die man zurückkehrt und deren Geschichte, deren Entwicklung man versäumt hat. Oder die Frage, wohin man eigentlich gehört. Kundera erschließt in seinem großartigen, leichthändigen, unmerklich tiefgreifenden Roman den ganzen Kosmos der Emigration. Fremd in einem fremden Land zu sein, fremd zur eigenen Geschichte zu stehen, die man irgendwo hinter sich abgebrochen hat, fremd gegenüber den Menschen, die man zurücklassen musste, und fremd auch gegenüber denen, die das neue Leben begleiten. Fremd zuletzt auch sich selbst gegenüber. Und Kundera berührt auch die Frage des sich daraus ergebenden Schuldgefühls. Die Schuld der Menschen, der Umstände, der Zeit, einer Epoche - hier dem erzwungenen Exil zu Zeiten des Kommunismus. Bei Kundera sind alle Figuren Opfer des Schicksals, Getriebene der Umstände, gefangen im Netz der Zeitläufte, hilflose Akteure im Leben. Die individuelle Geschichte einer Person spiegelt sich in der Weltgeschichte, und alle Figuren sind Spiegel und Brennpunkt dessen, was sie umgreift und übersteigt.

Insofern ist "Die Unwissenheit" ein großer, ja großartiger Roman. Ein Werk über Erinnern, Gedächtnis und Vergessen, das an Intensität und Tiefe, an Leichtigkeit und Eleganz nahtlos an den Erfolg der "Unerträglichen Leichtigkeit" anschließen könnte. In Josef portraitiert sich Kundera wohl zum Teil selbst: Ob dieser Autor wohl immer da am stärksten ist, wo er ­ verborgen in einer anderen Figur, einer anderen Haut ­ vom Eigenen spricht? "Die Unwissenheit" liefert für diese Vermutung den allerschönsten Beleg.

Titelbild

Milan Kundera: Die Unwissenheit. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Aumüller.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
178 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446199772

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