Psychoanalyse als Praxis der Verdrängung

Die Randbriefe des "Geheimen Komitees"

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die "Verdrängung der Psychoanalyse", von welcher der amerikanische Psychoanalyse-Historiker und Sozialwissenschaftler Russell Jacoby 1983 in einem polemischen Großessay sprach, signalisierte eine beißende Ironie: Just jene einst revolutionäre neue Wissenschaft, der die Entdeckung der Verdrängung zu danken war, hatte sich in einem Prozess der Selbstverdingung so angepasst, dass wesentliche ihrer Impulse preisgegeben worden waren. Die Amerikanisierung, die Medizinalisierung der Psychoanalyse zu einer zwar immer noch hier und da umstrittenen, aber insgesamt bestens etablierten, gut verdienenden und kaum noch irritierenden Spezialdisziplin besiegelte ihren Aufstieg und ihren Fall. Ob sie sich je davon erholen wird, steht dahin.

Jacoby hatte seine Diagnose mit der Geschichte der "politischen Freudianer", besonders Otto Fenichels (1897-1946) belegt. Mehr noch und von einer ganz anderen Seite hätte er sie mit der komplementären "Geschichte von oben" belegen können: der des "Geheimen Komitees". Beide Fraktionen haben sich geheimer Rundbriefe bedient, die jetzt in zwei großen kommentierten Dokumentationen erschlossen wurden.

Beide tragen das Signum der Konspiration, freilich einer mit gegensätzlichen Zielen operierenden Konspiration. Beide sind spiegelbildlich zu lesen. In beiden hat die Verdrängung einen symptomatischen Bezug zur Struktur des psychischen Apparats: Das verdrängende Über-Ich, das den Charakter eines "Geheimen Komitees" annimmt, um Herr im eigenen Haus zu bleiben, findet sein Pendant in der verborgenen Kellerexistenz eines verdrängten subversiven Es.

Doch jede Rede von Verdrängung und Verdrängtem, am meisten die in Bezug auf die Psychoanalyse selber, macht Gebrauch von einer ihrer zentralen Kategorien, um sie notfalls kritisch gegen sie zu wenden. Keine andere humanwissenschaftliche Disziplin hat uns so wie die Psychoanalyse gelehrt, auf den "Gegensinn", den "Schatten" von Worten, von Texten, von Gesten, von Institutionen, eben auf deren "Leiche im Keller" zu achten. Dass das jetzt gleichzeitig bei zwei komplementären Beispielen möglich ist, und zwar ausgerechnet zum Ende des Jahrhunderts der Psychoanalyse, mag man als List der historisch-kritischen Vernunft würdigen.

Der erste Band der Korrespondenz des "Geheimen Komitees" von insgesamt drei geplanten Bänden, der die Zeit bis 1920 umfasst, führt in das Gründungsjahr des Komitees zurück. Die Mitglieder - Sigmund Freud selber, Karl Abraham, Max Eitington, Sándor Ferenczi, Ernest Jones, Otto Rank und Hanns Sachs - korrespondieren noch ohne feste Regeln miteinander, bis seit 1920 an festgelegten Wochentagen die eigentlichen "Rundbriefe" zirkulieren. Die privaten Korrespondenzen werden daneben fortgeführt. 1912 hatte Ernest Jones die Idee zu einem "Geheimen Komitee" gehabt: Nach dem Ausscheiden von Alfred Adler und wegen des sich abzeichnenden "Abfalls" von Carl Gustav Jung und drohender weiterer Sezessionen sollte sich der Zirkel der "besten und zuverlässigsten Männer" der Psychoanalyse, ursprünglich die Leiter ihrer "Ortsgruppen", später die Mitglieder des "Zentralleitungs-Komitees", sozusagen des psychoanalytischen "ZKs", wie eine verlässliche "Palastwache", wie die "Paladine Karls des Großen" um Freud und sein Werk scharen. Man sieht, die Konspirationsphantasie ließ kaum ein Organisationsmodell zwischen den Karolingern und dem braunen und roten Terror aus. Freud selber erkannte zwar das "knabenhafte", "vielleicht romantische Element" in dem Projekt - das dogmatisch-repressive und exklusive neben der Männerbündelei nicht. Gerade er insistierte auf "strenger" Geheimhaltung.

Sándor Ferenczis Brief vom 1. Dezember 1919 an Max Eitington spricht die Zielsetzung unverhohlen aus: "Es gilt, die großen Ideen und Erkenntnisse Freuds über alle Fährlichkeiten, die ihr von externer wie von interner Seite drohen, zu bewahren, und der folgenden Generation zu überliefern. Zwar sind die Statuten unserer Gemeinschaft niemals in Worte gefaßt worden, doch glaube ich, daß es sich in erster Linie darum handelt, die Idee, Freuds Werk möglichst unverändert zu erhalten. Wir haben es mit den Erzeugnissen eines in seiner Bedeutung noch gar nicht voll zu würdigenden Geistes zu tun. Alles, was er uns sagte und sagen wird, muß also mit einer Art Dogmatismus gehegt werden, auch Dinge, die man vielleicht geneigt wäre anders auszudrücken. Wie oft mußte ich nachträglich einsehen, daß die von ihm gegebene Erklärung doch die tiefste und zureichendste war. Die Fähigkeit, auf eine eigene Idee zu Gunsten der zentralen zu verzichten, ist also eine der Hauptbedingungen, an die die Mitgliedschaft des Komitees geknüpft ist."

Es ging also um die "unveränderte" Konservierung der freudianischen Orthodoxie gegen drohende Revisionen und Rebellionen. "Eine Art Dogmatismus" - das signalisierte zwar einen gelinden Vorbehalt. Ferenczi zögert aber nicht, die Wahrheitsbesitzermentalität der dogmatischen Religionen auf eine nach ihrem Verständnis kritische und selbstkritische Wissenschaft zu projizieren. Vom "Geheimen Komitee" zur "Geheimen Offenbarung" ist der Schritt nicht weit. Und wider alle Versuchungen wird das "sacrificium intellectus" des individuellen und möglicherweise dissidenten Eigenverstandes eingefordert. "Nachträglich" hat er sich stets belehren lassen müssen, dass er Unrecht hatte. "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes im Zweifelsfall nicht zu bedienen", lautet die Maxime des freiwilligen Selbstabdankungsaktes, den die Psychoanalyse hier in der Rolle der Gegenaufklärung vollzieht. Und das von Seiten Ferenczis, der in seinem persönlichen Briefwechsel mit Freud wie sonst keiner der "Paladine" das Pathos der Wahrheit, ein dezidiert freimütiges Pathos, artikuliert! Kein Wunder, dass Freud, der da für seine Jünger immer "ex cathedra" spricht, als "Papst", als "Papa" figuriert, auch wenn man gelegentlich dafür sorgen muss, dass er besser informiert wird, weil selbst Päpste nicht alles wissen.

"Fragen der psychoanalytischen Propaganda", die Redaktionspolitik der Zeitschriften, Buchbesprechungen, Ausbildungsfragen, personalpolitische Überlegungen, Ereignisse in den Ortsgruppen sind neben eher Organisatorischem wie Kongressterminen, Komiteesitzungen und Finanzfragen die Themen. Immer aber gilt das von Freud gerne bemühte Tell-Zitat, das die Einheit allemal der Freiheit überordnet: "Seid einig - einig - einig."

Gleichwohl wollte es mit dem "Volk von Brüdern" nicht so ohne weiteres klappen. Selbst, gerade in der psychoanalytischen Kirche ließen sich weitere Dissidenzen nicht verhindern. Zumal es schon unter den Mitgliedern des "Geheimen Komitees" aus persönlichen Motiven heftig rumorte. Denn die Frage von Freuds Nachfolge war zu regeln. Erst war Jung der Kronprinz gewesen. Dann durften sich Abraham und Ferenczi Hoffnungen machen. Hierauf sollte das Komiteekollektiv die Nachfolger- und Verwalterrolle wahrnehmen: die Utopie einer kollegialen Lösung als Fortsetzung einer einpersönlichen Herrschaft unter lauter wenig kollegialen Seelen. Schließlich wurde mit Freuds Tochter, der getreuen "Anna Antigone", die Lösung gefunden: Wenn die Söhne einander umbringen wollen, ist nur auf die Töchter Verlass.

Nach der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung mit Anna Freud als Generalsekretärin fungiert das Komitee öffentlich als IPV-Vorstand. Und nun können auch die zu einer reinen Geschäftskorrespondenz "geläuterten", ehemals geheimen Rundbriefe öffentlich werden, wie die beiden Herausgeber mit nachvollziehbarer Süffisanz konstatieren.

Die Geschichte und Bedeutung der 119 Rundbriefe Otto Fenichels und der politischen Freudianer ist hier nicht noch einmal zu rekapitulieren. Dieser Gruppe ging es darum, mit der Geheimhaltung ihrer Korrespondenz die Idee und Realität einer "linken", gesellschaftskritischen, dem Marxismus zuneigenden Psychoanalyse zu erhalten.

Freilich kam es auch hier, bei der organisierten Häresie nicht anders als bei der organisierten Orthodoxie, zu einer symptomatischen Spaltung zwischen öffentlicher und geheimer Existenz. Beide waren eingeschworen auf die Riten einer Arkangesellschaft, Fenichels "Fünfte Kolonne" ebenso wie Freuds "Opus Dei". Es ist kein Zufall, dass der radikalere Wilhelm Reich gegen Otto Fenichels Geheimhaltungswünsche protestiert hat. Ein Widerstand, der geheim bleibe, sei wertlos und verdiene seinen Namen nicht, erklärte er. Die Gegensätze zwischen den beiden ehemaligen Freunden resultierten auch aus einer grundsätzlichen Kontroverse über die unterschiedlichen Wege der Opposition. 1934, das Jahr, in dem Reich auf dem Luzerner Kongress aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen wurde, war die Geburtsstunde der Geheimen Rundbriefe. Der eine wurde exkommuniziert - der andere entschied sich für den Raum, in dem die Psychoanalyse als angestammte Kellerwissenschaft eigentlich seit je heimisch ist: Er ging in den psychoanalytischen Untergrund.

Titelbild

Gerhard Wittenberger / Christfried Tögel: Die Rundbriefe des "Geheimen Komitees". Band I: 1913-1920.
Edition Diskord, Tübingen 1999.
319 Seiten, 28,60 EUR.
ISBN-10: 389295660X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch