Wahnsinn und Alltag bei E. T. A. Hoffmann

Lienhard Wawrzyn nimmt Automaten-Menschen auseinander

Von Katrin Viktoria MühlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Viktoria Mühl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie schien mich nicht zu bemerken und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möchte ich sagen, keine Sehkraft..." Die Automaten-Frau Olimpia aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" ist die vermeintliche Tochter eines Physikprofessors - und Objekt der unglücklichen Liebe des Studenten Nathanael.

Lienhard Wawrzyn nähert sich dem Thema Wahnsinn aus einer ganz ungewöhnlichen Richtung. "Der Sandmann" aus dem Jahr 1817 ist sein Ausgangspunkt, von dem aus die Geisteshaltung der Bürger in der Romantik beispielhaft aufgezeigt und bezüglich des Verhältnisses von Wahnsinn und Rationalität interpretiert werden sollen.

Im Mittelalter war Wahnsinn noch ein Zeichen der Unvernunft und somit des Bösen. Im 18. Jahrhundert hatte man dagegen primär Angst vor Ansteckung; Wahnsinnige wurden in geschlossenen Anstalten interniert und dem Anblick der Öffentlichkeit entzogen. Zeittypisch ist der Befund eines Irrenarztes, dem zufolge heftige moralische Eigenschaften wie unglückliche Liebe in enger Verbindung zu einer besonderen "Disposition zum Wahnsinn" stehen. So auch in Hoffmanns Erzählung: "Nun sah Nathanael, wie ein Paar blutige Augen auf dem Boden liegend ihn anstarrten... Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreißend."

Zur "Verhütung des Wahnsinns" gab es sicher bestens geeignete Empfehlungen: "Mäßigkeit im Essen, Trinken, Schlaf und im Beyschlaf. Leibesübung. Gehörige Beherrschung der Leidenschaften. Vernünftige Begriffe von Gott und Religion, die frey vom Aberglauben, Enthusiasmus und Verzweifelung sind." Weiterhin führt Wawrzyn Beispiele für Therapieformen des Wahnsinns an, die so anschauliche Namen tragen wie: "Die beliebte Ekelkur" und "Künstliche Geschwüre". Außerdem wurden bereits im 18. Jahrhundert Arbeitsdienst und "Bequeme Zwangsjacken" eingesetzt.

Leider führt der Verfasser die Anmerkungen und Erklärungen zur Erzählung nicht vergleichbar umfassend aus. Auch das Titelthema "Automaten-Menschen" wird nur auf wenigen Seiten abgehandelt. Wawrzyn, im Hauptberuf Drehbuchautor und Regisseur, hat verschiedenartige Quellen, Beiträge und Illustrationen zu diesem Buch zusammengestellt. Inwieweit gelingt es ihm, dieses Potpourri unter einen Hut zu bringen?

Die Bilder, unter anderem eine Federzeichnung des "Sandmanns" vom Universalkünstler E. T. A. Hoffmann, gehören jedenfalls zu den qualitativen Schmankerln des Buchs, hätten aber ein sorgfältigeres Layout verdient. Äußerlich besticht das Buch jedoch nicht durch optische Qualität. Die Coverfarben setzen sich zusammen aus einem Hintergrund in Mülltüten-Mittelblau, Titel und Unterzeile sind lachsfarben; ein Foto vom porzellanenen Gesicht der Olimpia sticht hervor. Dieser erste Eindruck schärft möglicherweise den Blick für weitere Schwächen. Man fragt sich etwa, warum der Verfasser, seines Zeichens Lehrbeauftragter für Literaturwissenschaft, Film und Video, eigentlich seiner Abhandlung eine "Gebrauchsanweisung" voranstellt...

In einem Abschnitt mit Allgemeinplätzen über die Neustrukturierung der Gesellschaft nennt Wawrzyn unter anderem Arbeitslosenzahlen der BRD, Stand 1975. Informationen wie diese sind 25 Jahre später nicht mehr brisant; spätestens vor der 1994er Neuauflage des 1978 erstmals erschienenen Bandes wäre eine gründliche Überarbeitung notwendig gewesen. Immer wieder werden Alltag und Wahnsinn um 1800 mit der Gegenwart kontrastiert. Als zentralen Aspekt, beispielsweise im Titel, stellt der Verfasser diesen Vergleich jedoch nicht heraus. Zugegeben, dort wäre dafür auch wirklich kein Platz mehr. Der rote Faden findet sich dennoch: Wawrzyn stellt zusammenfassend fest, dass schon in der Romantik die Therapieformen für Geisteskranke in ihrer Funktionsweise modern sind, nämlich technokratisch.

Aber schließlich steht im Mittelpunkt dieses Buches "die spannende Erzählung 'Der Sandmann', nicht die Sezierarbeit eines Literaturwissenschaftlers": Weltliteratur in Verbindung mit Informationen über E. T. A. Hoffmann und den Wahnsinn als Bettlektüre für Otto Normalverbraucher.

Kein Bild

Lienhard Wawrzyn: Der Automaten-Mensch. E. T. A. Hoffmanns Erzählung vom "Sandmann". Mit Bildern aus Alltag & Wahnsinn.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1994.
157 Seiten, 9,60 EUR.
ISBN-10: 3803122368

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