Wo stehe ich, was will ich, was habe ich für Möglichkeiten?

Peter Weiss beobachtet Stockholmer Künstler zwischen Flucht und Engagement

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende 1956 entstand dieser nach fast einem halben Jahrhundert im Jubiläumsprogramm des Suhrkamp-Verlags erstveröffentlichte Roman, den Peter Weiss (1916-1982) damals in schwedischer Sprache schrieb und den Wiebke Ankersen - übrigens vorzüglich - ins Deutsche übersetzte. Weiss, seit 1934 als so genannter Halbjude ins Exil gezwungen, lebte damals seit 17 Jahren in Schweden. In der Zeit kultureller Öffnung in den vierziger Jahren konnte er als Künstler in der jungen Avantgardeszene Stockholms Fuß fassen, Mitte der fünfziger Jahre arbeitete er vor allem als Filmemacher. Doch das Klima in Schweden hatte sich nach dem Krieg rapide verändert. Aus dem weltoffenen Land war ein engstirniges Spießerparadies geworden: "äußere Geborgenheit, und drinnen Angst und Einsamkeit; es herrscht ein tödliches Klima in diesem Land, eine Enge, die alles Schaffen erstickt", reflektiert die Schriftstellerin Fanny im Roman. Dazu spitzte sich 1956 die internationale Lage bedrohlich zu. Seit zwei Jahren schon wurde der Friedensnobelpreis nicht mehr verliehen, Indochinakonflikt, Algerienkrieg, Militärputsch in Argentinien, Ungarnaufstand und die Suezkrise schienen plötzlich die Gefahr real werden zu lassen, dass der Kalte Krieg sich zu einem Dritten Weltkrieg entzündete: "dieses Chaos von Invasionen und Völkermorden, das jetzt wieder beginnt [...] Es passiert in unserer Welt, und wir müssen dazu Stellung nehmen [...] ich habe in letzter Zeit nicht arbeiten können, jede künstlerische Arbeit erschien mir sinnlos in dieser Atmosphäre der Kriegsbedrohung", so der Theaterleiter Paul.

Paul ist - wie die meisten anderen Personen des Romans - eine Maske des Autors und zugleich eine von ihm unabhängige Figur. Die meisten Protagonisten in dem Roman sind Künstler oder haben auf andere Weise mit Kunst zu tun. Viktor ist ehemaliger Chefredakteur einer linken deutschen Zeitung, der vor den Nazis fliehen musste und im Stockholmer Exil strandete, wo er den großen Debatten und künstlerischen Experimenten der 1920er Jahre nachtrauert. Sein Bekannter Leo ist ein aus Prag nach Stockholm emigrierter Maler, der sich in einer Phase künstlerischer Neuorientierung befindet und dabei ist, seine Frau Agate und die Tochter Christin zu verlassen. Anlass dafür ist Viktors Tochter Fanny, die sonst als Schriftstellerin in Paris lebt, aber gerade zu Besuch in Stockholm weilt. Sie lässt sich auf eine masochistische Affäre mit dem animalischen Leo ein, bevor sie wieder zu ihrem intellektuellen Mann nach Paris zurückkehrt. Ansonsten bewegt sie sich in einem Kreis jüngerer schwedischer Theaterleute, von denen sich der Erzähler besonders um Paul und Thel kümmert: Sie ist Schauspielerin und mit ihm, dem künstlerischen Leiter einer experimentellen Studiobühne, liiert. Auch ihre Beziehung befindet sich in einer Krise: Thel ist von dem Kosmopolitismus des Filmkritikers Jean fasziniert, entscheidet sich aber letztlich gegen ihn; Paul wird in jeder Hinsicht, persönlich wie künstlerisch, von einem "Gefühl des Bankrotts, der Niederlage" beherrscht, vor dem er flieht. Paul träumt von einem Ausgang aus der "Verwirrung und Unsicherheit", die sie alle befallen habe, befindet sich am Schluss aber wieder "auf dem Weg zu ihr", zu Thel. In 35 Abschnitten (zu denen noch ein Epilog kommt) erzählt Weiss, personal gebunden und zwischen Ich- und Er-Erzählung wechselnd, vom Schicksal dieser Menschen. Die Handlung umfasst rund 30 Stunden, vom Abend eines Tages "spät im November" 1956 bis zum Abend des folgenden. Alle treibt eine Frage um, die Paul in dem Roman so formuliert: "Wo stehe ich, was will ich, was habe ich für Möglichkeiten?"

Die besondere Leistung von Peter Weiss in diesem Roman war es, seine autobiografischen Erfahrungen zu objektivieren, indem er sie zerlegte und verschiedenen Figuren mitteilte, die nicht Emanationen eines einzigen Ichs sind, sondern die Züge vieler anderer in sich aufnehmen und so ein eigenes Profil zeigen, das mit dem des Autors nur mehr wenig zu tun hat. Sie wurden zu Figuren mit einem "merkwürdigen Anspruch auf ein eigenes Dasein", reflektierte Weiss sein Erlebnis mit einer ihm ursprünglich fremden Schreibweise: "Gestalten in ihrem jeweiligen Raum, nicht Literatur; lebende Kräfte". Mit ihrer Hilfe schuf Weiss eine multiperspektivische Erzählung, die in seinem Werk vor 1960 ihresgleichen sucht.

In dem 1962 publizierten Roman "Fluchtpunkt" berichtete Weiss von einem Gespräch mit einer Schriftstellerin, die ganz anders als er arbeitete: Für sie war das Schreiben "wie ein Schachspiel, das nach bestimmten Regeln geführt werden mußte. Sie stellte Figuren auf, die den berechneten Weg auf ihr Ziel zurückzulegen hatten, und dabei von anderen Figuren angegriffen und behindert wurden. [...] Sie schrieb nicht, um sich diese Erfahrungen zu deuten, um innere Zusammenhänge herzustellen und sich selbst besser zu verstehen, sondern nur um die Spannung und Freude zu verspüren, die bei dem langsamen Lebendigwerden ihrer Figuren entstand". Er selbst hingegen könne "sich keine Regeln für meine Arbeit denken. Das Spiel mit frei erfundenen Figuren erschien mir wie eine Konstruktion, eine Notlösung. Ich wollte mich nicht aufteilen in fingierte Personen und meine Angelegenheiten von Fürsprechern austragen lassen, sondern nach dem Dieb, dem Krämer, dem Gewalttäter, dem Scheinheiligen, dem Weltverbesserer, dem Gleichgültigen und tausend anderen Kostümierungen in mir selbst suchen. Wir wollen genau dasselbe, sagte Fanny, nur sitze ich beim Schreiben an einem sicheren Brett, während du dir den Boden unter den Füßen wegreißt".

Nicht zufällig heißt die Schriftstellerin in "Fluchtpunkt" genauso wie die in der "Situation". Viele der Figuren in der "Situation" kennen Weiss-Leser aus "Fluchtpunkt" (was ein interessantes Licht sowohl auf den autobiografischen Gehalt des fiktionalen Romans von 1956 wirft wie umgekehrt auf die Fiktionalität des autobiografischen Romans von 1962). Fanny vertritt ihre These von einem Schreiben jenseits aller Selbsterfahrung oder Bekenntnisse auch schon in der "Situation". Paul dagegen träumt vom unmittelbaren Ausdruck seines inneren Erlebens. "Du mußt einen Plan machen, sagte Fanny. Du mußt wissen, worüber du schreiben willst. Aber genau davon will ich wegkommen, sagte Paul. Das Durchdachte und Berechnete. Die äußere Handlung, die Zeichnung der Personen, die Intrige. Ein Satz wie 'sie trat in den Raum' erscheint mir so äußerst lächerlich. Ich will nicht in Kunstgriffe verfallen, in Dramatisierungen, ich will es nur hervorwallen lassen, das chaotische innere Material, Gefühle, Träume, Visionen". Aber, so gibt Fanny zu bedenken: "Wenn man nur von seiner Ich-Welt ausgeht, passiert das Seltsame, daß man sich selbst aus der Sicht verliert. Man verliert sich in all dem Gerümpel, das auf den ersten Blick so verlockend wirkte. Du arbeitest in einem Sumpf ohne Boden, du sinkst immer tiefer und ertrinkst. Wenn du in dir selbst sitzt, verstehst du nichts. Du mußt dich von außen sehen können. Es ist viel besser, wenn du von dir selbst sagen kannst, Er trat in den Raum. Dann hast du dich dort, dann stehst du dort und kannst etwas sagen". Paul beharrt darauf, dass alle Figuren, die er sich ausdenken könne, doch nur Teile seiner selbst seien, so dass es "richtiger" sei, "vom Ich auszugehen".

Der Trick der "Situation" nun ist, dass Weiss sich versuchshalber das Programm Fannys zu Eigen machte und sein Ich auf mehr oder weniger fingierte Personen aufteilte und seine Angelegenheiten von Fürsprechern austragen ließ. Dies merken die Leser spätestens, wenn sie Sätze wie: "Sie trat in den Raum" lesen - damit es auch wirklich jeder mitkriegt, wiederholte Weiss den Satz gleich noch einmal in Versalien: "SIE TRAT IN DEN RAUM". Und in der Tat fühlen sich Erzähler und Leser der "Situation" sicherer als bei Weiss sonst. Doch hat der Roman noch einen besonderen Clou: Fanny kommt nämlich zunehmend ihre Gewissheit, schreiben zu können, abhanden, während Paul am Ende seiner Irrläufe durch Stockholm und seinen "Seelenkummer" bereit zu sein scheint, seine "Trägheit" und "Mutlosigkeit" zu überwinden und "aus der Isolation auszubrechen". Er wird mit der "Vagheit" in seiner Arbeit ebenso brechen wie mit der in seinen "menschlichen Beziehungen" und sich "neu erschaffen". Dazu gehört auch, "Stellung" zu beziehen gegenüber den Konflikten in der Welt.

In einem langen Abschnitt wird eine Diskussion innerhalb von Pauls Theatergruppe geschildert, in der es um Sinn und Unsinn von engagierter Kunst geht. Paul lehnt seine bisherigen künstlerischen Versuche als "hohl" ab; "ich verstehe jetzt, daß all dieses Magische und Dunkle nur Unklarheit und Ungewißheit war; vor allem, was unausgereift war, floh ich in das Magische; im Grunde schilderte ich nur meine eigene Verwirrtheit". Stattdessen träumt er von Aufführungen im Stile Antonin Artauds, der neben Brecht in der "Situation" als Gewährsmann für modernes Theater genannt wird, mit dem man die "Sattheit und Zufriedenheit des Publikums" erschüttern und die "abgestumpften Langweiler" und "Sicherheitsgurtschwimmer" aufschrecken könnte. Paul kennt die Sehnsucht nach dem "Dokumentarischen" ebenso wie die nach der in sich gerundeten ästhetizistischen Form; er kennt die Sehnsucht nach Protest ebenso wie den angeekelten Rückzug aus einer krank oder wahnsinnig erscheinenden Welt. "Die Mischung aus Schreckenslähmung und Revolte war noch immer aktuell", doch immer mehr schiebt sich die aus traumatischen Kindheitserfahrungen geborene "spontane Solidarität mit den Unterdrückten und Terrorisierten der Erde" in den Vordergrund. "Diese Solidarität vermag nichts gegen Rassenverfolgungen, Deportierungen und Bürgerkriege, aber sie hilft mir selbst. Sie macht, daß ich hinter meiner eigenen Schürfarbeit größere Perspektiven spüre", überlegt sich Paul und mit ihm sein Autor. Vorderhand lief dies für beide darauf hinaus, sich von dem alten solipsistischen Standpunkt zu verabschieden und in durchaus realistischer Manier die eigene "Verwirrung und Unsicherheit", das "Schwanken zwischen Flucht und Engagement" selbst zum Thema zu machen.

Anders als in den experimentellen Erzählungen von Weiss aus den 1940er bis 50er Jahren bediente sich Weiss dabei einer relativ konventionellen Erzählsprache, die das Buch zu einem Solitär unter seinen gleichzeitigen Werken macht. Es bietet für jeden Kenner des Œuvres von Weiss den Reiz, dass viele Abschnitte aus der "Situation" später in abgewandelter Form wieder auftauchen, besonders in "Abschied von den Eltern", "Fluchtpunkt" und im "Gespräch der drei Gehenden" (1961-1963); zusätzlich - und auch den nicht mit Weiss' Werken Vertrauten - bietet dieses am leichtesten zugängliche literarische "Frühwerk" des Autors ein Lesevergnügen, eine spannende Innenansicht der existenzialistisch durchtränkten 1950er Jahre und zugleich eine hervorragende Einführung in die Gedankenwelt des nachmals international berühmt gewordenen Autors, die von diesem Wendepunkt einer solipsistischen zu einer politisch engagierten Schreibpraxis bis zu dem späteren Jahrhundertroman der "Ästhetik des Widerstands" (1975-1981) trägt.

Titelbild

Peter Weiss: Die Situation. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Wiebke Ankersen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
260 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3518411543

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