Was wussten die Griechen?

Eine "Enzyklopädie" von Jacques Brunschwig und Geoffrey Lloyd

Von Beate CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beate Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Le savoir grec. Dictionnaire critique" war das Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus Paris und Cambridge. "Das Wissen der Griechen. Eine Enzyklopädie" ist die deutsche Übersetzung des Originals. Nun bedeutet das französische 'dictionnaire' auf deutsch 'Lexikon', d. h. ein alphabetisch geordnetes Wörterbuch, und auch unter einer Enzyklopädie wird seit der Neuzeit vorwiegend ein alphabetisch nach Stichwörtern geordnetes Lexikon verstanden, welches das Wissen der jeweiligen Zeit präsentiert. Angesichts der schnell wachsenden Informationsmenge, besonders auf naturwissenschaftlichem Gebiet besteht für die moderne Enzyklopädie überdies der Zwang zu möglichst knapper Darstellung der einzelnen Lemmata. Wer erwartet, auf den etwas mehr als 900 Seiten der "Enzyklopädie" von Brunschwig und Lloyd etwas Entsprechendes zu finden, wird enttäuscht werden. Sie entspricht vielmehr der in Antike und Mittelalter vorherrschenden systematisch nach Themenkreisen angelegten Enzyklopädie und soll so die enkyklios paideia, die im Kreis herumgehende oder universale Bildung der Griechen, die Summe ihrer Künste und Wissenschaften spiegeln. Die Universalität dieses Wissens charakterisiert Michel Serres in einem Vorwort (Diagonalen) durch das unverbundene Nebeneinander von diametralen Gegensätzen wie z. B. zwischen dem abstrakten Wissen, das an keinen stofflichen Träger gebunden ist, sich ohne Sprache vermittelt und am reinsten durch die Geometrie repräsentiert wird, und empirischem Wissen, das an einen personalen (Mensch) oder stofflichen Träger (Stein, Papyrus, Pergament) gebunden ist und durch Sprache vermittelt wird, während im modernen Wissen die Spannung dieses Nebeneinander durch widerspruchsfreie Integration aufgehoben werde.

Allerdings geht es Brunswik und Lloyd weder um das eine noch das andere, sondern um reflektiertes, theoretisches Wissen. Das System dieses Wissens finden sie in den drei Gebieten Philosophie, Politik sowie Forschung und Wissenschaft, wobei die Trennung von Philosophie und Wissenschaft nicht dem antiken, sondern dem modernem Verständnis von Philosophie folgt. Das Kapitel über die Philosophie gliedert sich in einen Abschnitt über "Die Gestalt des Philosophen", der seinen Ausgang nimmt vom Ursprung der Philosophie, d. h. von den Fragen, auf die die Tradition nicht mehr antworten konnte, sowie fünf Abschnitte über Teilgebiete der Philosophie, die solche Fragen (z. B. Was ist der Ursprung der Welt? Was ist gut und Böse? usw.) wiedergeben: Weltbilder und Weltmodelle; Mythos und Wissen; Das Sein und die Regionen des Seins; Die Erkenntnis; Die Ethik. In gleicher Weise geht das Kapitel über die Politik von der "Gestalt des Polikers" und dem "Ursprung der Politik" aus. Überdies werden "Utopie und Kritik der Politik" behandelt sowie unter dem Titel "Der Weise und die Politik im hellenistischen Zeitalter" die Diskussion, ob der Weise sich im Staat engagieren oder aus der Politik zurückziehen solle. Das 3. Kapitel bietet nach drei systematischen Abschnitten (Orte und Schulen des Wissens, Beobachtung und Forschung, Der Beweis und die Idee der Wissenschaft) in alphabetischer Anordnung Darstellungen einzelner Wissenschaften: Astronomie, Geographie, Geschichte, Harmonik, Kosmologie, Logik, Mathematik, Medizin, Physik, Poetik, Rhetorik, Technologie, Theologie und Divination, Theorien der Religion, Theorien der Sprache. Diese sind je nach Arbeitsweise ihres Autors ganz verschieden angelegt. So wird beispielsweise das Wesen der griechischen Rhetorik aus dem Konflikt zwischen der sophistischen, insbesondere von Gorgias von Leontinoi vertretenen amoralischen und gewalttätigen Persuasionskunst und der von Platon vertretenen philosophischen, zur Wahrheit führenden Dialektik entwickelt. Hierzu werden über weite Strecken Gorgias' "Lob der Helena" und Platons Dialog "Gorgias" interpretiert. Dies führt natürlich dazu, dass bedeutende Rhetoren wie Anaximander, Hermogenes, Menander usw. keine Erwähnung finden. Hingegen folgt der Abschnitt über die Poetik dem Prinzip der Chronologie und beginnt mit zwei Homerstellen, welche die selbstreflexive Sicht der archaischen Poesie auf ihre Funktion, nämlich die Erregung von Affekten, demonstrieren sollen. Es folgen Theognis und Phokylides als Beispiele für gewolltes Künstlertum und "Signierung" des Kunstwerkes sowie Platon für die Auffassung der Dichtung als Ergebnis göttlicher Inspiration mit dem Kontrast des Orgiastisch-Dionysischen und des Harmonisch-Apollinischen. Die Poetik des Aristoteles figuriert als erste Manifestation theoretischer Reflexion über die noch nicht als solche benannte Poetik als Beschäftigung mit allen Kunstwerken in gebundener und ungebundener Sprache im Gegensatz zu der bis dahin geübten Betrachtung nach Versmaßen. Der Inhalt der Schrift wird ausführlich nachgezeichnet. Von der alexandrinischen Homerphilologie und den stiltheoretischen Schriften des Demetrios (ca. 1. Jh. v. Chr.), des anonymen Autors "Über das Erhabene" (1./2. Jh. n. Chr.) sowie des Proklos (ca. 2. Jh. n. Chr.) wird dann ein Sprung gemacht zur "Bibliothek" des Photios (9. Jh. n. Chr.) und abschließend zur Homerphilogie des Eustathios und Tzetzes im 11./12. Jahrhundert. Diese punktuelle Sammlung könnte z. B. um Pindars Anspruch auf eine Dichtung als Ergebnis angeborener Begabung erweitert werden.

In einem 4. Kapitel mit dem Titel "Denker und geistige Strömungen" werden wiederum jeweils in alphabetischer Anordnung einzelne Vertreter der Philosophie und der Wissenschaften (Anaxagoras, Antisthenes, Archimedes, Aristoteles, Demokrit, Empedokles, Epikur, Euklid von Alexandria, Galen, Heraklit, Herodot, Hippokrates, Parmenides, Platon, Plotin, Plutarch, Polybios, Protagoras, Ptolemaios, Pyrrhon, Sokrates, Thukydides, Xenophon, Zenon von Elea) sowie diejenigen philosophischen, wissenschaftlichen, religiösen Gruppierungen und Schulen, die eine besondere Rolle gespielt haben, vorgestellt (Akademie, Aristotelismus, Griechentum und Christentum, Griechentum und Judentum, Kynismus, Milesier, Platonismus, Pythagoreismus, Skeptizismus, Sophistik, Stoizismus). Ein Namen- und ein Sachregister schließen den Band ab.

Hatten nun schon die Herausgeber selbst die Angreifbarkeit ihrer Auswahl der behandelten Denker und Strömungen zugestanden und auf das Namensregister verwiesen, wo der Leser auch diejenigen finden könne, denen kein eigener Artikel gewidmet sei, bleibt immer noch die Frage bestehen, weshalb sich unter den behandelten Strömungen, den ganzen "Ismen", der Name einer einzigen Philosophenschule, der Akademie, findet, die sich mit dem Platonismus zumindest weitgehend überschneidet. Auch wenn sich bei näherem Betrachten herausstellt, dass im Artikel "Akademie" der Akzent vorwiegend auf der Geschichte der Schule bis zu Antiochos von Askalon (2./1. Jh. v. Chr.) liegt, im Artikel "Platonismus" aber auf der Entwicklung der platonischen Lehre bis hin zum von Plotin angestoßenen Neuplatonismus, vermisst man neben dem historisch und systematisch behandelten Aristotelismus den Peripatos nicht nur als Artikel, sondern auch im Namen- und Sachverzeichnis. Unklar bleibt aber vor allem, an welches Publikum sich diese Enzyklopädie wendet und welche Funktion sie erfüllen soll. Da auf Fußnoten verzichtet wird und griechische Begriffe grundsätzlich in Umschrift gegeben werden, richtet sie sich wohl nicht an Fachgelehrte. Auch wird, wie gezeigt, der Konzeption als Enzyklopädie zum Trotz vielerorts kein vollständiger Überblick in der Darstellung angestrebt, so dass die einzelnen Abschnitte nur als erster Zugang zu einem Thema dienen können, das allerdings auch jeweils in weiterführender Literatur präsentiert wird. Die behagliche Breite der Darstellung, die einem Lexikon eigentlich unangemessen ist, lässt vermuten, dass dieses Buch weniger zur raschen Information als zu erbaulicher und bildender Lektüre dienen soll, die allerdings ein nicht unbeträchtliches Vorwissen voraussetzt.

Titelbild

Jacques Brunschwig / Geoffrey Lloyd: Das Wissen der Griechen. Eine Enzyklopädie.
Wilhelm Fink Verlag, München 2000.
916 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 377053512X

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