Bachmanns Erzählungen

Frank Pilipp, Imke Meyer und Veronica O'Regan untersuchen die Texte Ingeborg Bachmanns

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Erscheinen der vierbändigen Werk-Ausgabe (1978) und mehr noch seit der Edition des "Todesarten"-Projekts (1995) steht Bachmanns erster Erzählband "Das dreißigste Jahr" im Schatten des übermächtigen Interesses an ihrem Spätwerk. Der amerikanische Germanist Frank Pilipp hat sich den Erzählungen nun mit einem im Untertitel als "kritischer Kommentar und Deutung" ausgewiesenen Buch angenommen. Nachdem er zunächst kurz "Bachmanns poetisches Programm" erörtert und die Bezüge der Erzählungen zu Kafka, Nietzsche und Wittgenstein als zentral hervorhebt, wendet er sich den sieben Erzählungen im einzelnen zu. Dabei strebt er nicht weniger als eine "interpretatorische Gesamtdarstellung" an, in deren Rahmen er die Erzählungen sowohl im "thematischen und formalen Kontext der Sammlung" als auch im "intertextuellen Kontext von Bachmanns reflektierenden Schriften" deuten will, um so eine "grundlegende Textexplikation" zu leisten, mit der er die "Bedeutungsfülle" der Erzählungen "von innen heraus aufzuschlüsseln" versucht. Damit hofft er "in die Tiefendimension der Bachmannschen Prosa" vorzudringen und das "subversive Potential" der Erzählungen "in seiner ganzen Radikalität" entfalten zu können, um so eine "neue, eigenständige Lesart von Bachmanns Erzählungen" vorzulegen, die "deutlich über die bisherigen Forschungsergebnisse hinausgeht". Über dieses zusammengenommen schon nicht gerade bescheidene Vorhaben hinaus kündigt er noch eine "kritische Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur" an. Pilipp verspricht also viel - allzuviel, wie sich bald herausstellt.

Zu den kleineren Mängel der Arbeit gehört, dass Pilipp wichtige Schriften der Sekundärliteratur außer acht lässt, wie etwa Kurt Bartschs Aufsatz "'Das dreißigste Jahr' und das 'Todesarten'-Projekt", der insbesondere zu den intertextuellen Bezüge innerhalb Bachmanns Œuvre wichtiges zu sagen hat. Schwerer wiegt, dass Pilipps Buch den Ansprüchen, die man an einem "Kritischen Kommentar" stellen darf, kaum ansatzweise genügt. So sollte man erwarten dürfen, dass sich die Hinweise auf intertextuelle Bezüge nicht nahezu ausschließlich auf das Dreigestirn Kafka - Nietzsche - Wittgenstein beschränken. Über einen "typischen Bachmann-Satz, der verschiedene Lesarten zuläßt", erfährt man zwar etwa nur, dass es eine "Parallele zu Kafka" gibt. Das mag zwar richtig sein, doch hätte man gerne etwas über die verschiedene Lesarten und eventuelle weitere intertextuelle Bezüge erfahren. An anderer Stelle heißt es, wie Bachmann habe auch schon Nietzsche den "'ungeheuren Irrtum' angeprangert, [...] der den Glauben an die Sprache propagiert". Sicher, doch ließe sich ebenso auf den ironischen Rat verweisen, den Goethe Mephisto in den Mund legt: "Im ganzen - haltet Euch an Worte!"

Zudem darf man wohl annehmen, dass sich in den Erzählungen der promovierten Philosophin auch Spuren anderer Philosophen als nur diejenigen Nietzsches und Wittgensteins finden lassen. Nicht, dass Pilipp gar nicht auf sie gestoßen wäre. Doch kommen etwa Kant und Descartes nicht über je eine beiläufige Erwähnungen hinaus. Dabei hätte von besonderem Interesse sein können, über Nietzsche und Wittgenstein hinausgehenden philosophischen Einflüssen nachzuspüren, statt den ausgetretenen Pfaden gängiger Bachmann-Interpretationen zu folgen. Wenn Pilipp etwa zu recht darauf hinweist, dass Bachmann unter einer Utopie etwas verstand, "an dem wir uns nur orientieren können", das also "weniger 'als Ziel, sondern als Richtung'" zu verstehen sei, so mag ja zutreffend sein, dass dies "ganz im Sinne Musils und Kafkas" ist, doch erinnert es auch - und zwar nicht nur von Ferne - an die regulative Idee Kants, der ja vielleicht von Kafka und Musil, in jedem Fall aber von Bachmann gelesen wurde.

Philosophische Einflüsse jenseits von Nietzsche und Wittgenstein werden von Pilipp jedoch weitgehend vernachlässigt. Aufgrund der Lektüre von Pilipps Buch könnte man zudem beinahe den Eindruck bekommen, Bachmann habe sich nie mit Sigmund Freud oder der Psychoanalyse befasst. Stellt Pilipp aber doch einmal intertextuelle Bezüge her, die nicht auf Kafka, Nietzsche, Wittgenstein und vielleicht noch Musil verweisen, haftet ihnen oft etwas Zufälliges an. So nennt er in dem Kapitel "Das Titelmotiv" eine Reihe von poetischen Werken, in denen sich eine "Figur um die dreißig mit der Welt auseinanderzusetzen hat", darunter Nietzsches "Zarathustra", Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", Brochs "Schlafwandler" und Sartres "Ekel", Balzacs "Frau von dreißig Jahren" fehlt jedoch.

Was nun die Deutungen der einzelnen Erzählungen betrifft, so bleibt bei manch passabler Interpretation, wie der von "Ein Wildermuth", insgesamt vieles nicht nachvollziehbar. Dass etwa der Autofahrer, der den ihm unbekannten Protagonisten am Ende der Titelerzählung beim Autostop mitnimmt, hiermit gegen seine Gewohnheit handelt, weil er, wie Pilipp meint, im "Anhalter einen Geistesverwandten erkennt", ist nicht überzeugend. Wie soll dem Fahrer das bei einem ihm völlig Fremden, den er nur kurz am Straßenrand stehen sieht, wohl möglich sein? Und wenn Pilipp Undine bescheinigt, sie mache auf das "beschränkte, weil logozentrierte, menschliche Wahrnehmungsvermögen aufmerksam", kann das schon alleine deshalb nicht zutreffen, weil das Wahrnehmungsvermögen unmöglich logozentriert sein kann.

Weniger vollmundig als Pilipp beschreibt Imke Meyer die Zielsetzung ihrer Untersuchung zu "Ich-Fiktionen in Texten von Franz Kafka und Ingeborg Bachmann" - und leistet in mancher Hinsicht mehr. Im Vergleich zu Pilipps prätentiösem Gebaren nimmt es sich geradezu erfrischend bescheiden aus, wenn die Autorin feststellt, dass eine detaillierte Untersuchung der Frage nach Identitätskonstruktionen in Kafkas und Bachmanns Texten noch ausstehe und bekundet, einen "Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten" zu wollen. Ihr Unternehmen - man darf es vorwegnehmen - kann als geglückt bezeichnet werden. Als Ausgangsthese nimmt sie an, dass Kafkas und Bachmanns literarische Texte als eine "radikale Kritik der Moderne an sich selbst" zu lesen sind. Insbesondere von Kafkas Texten aus lasse sich eine Brücke zur postmodernen Frage nach der "Möglichkeit von Identitätskonstitution" schlagen, da sie den "Glauben an die Möglichkeit einer 'erfolgreichen' Identitätskonstruktion empfindlich" unterminiere. Meyer hält fest, dass eine Forschung, die annimmt, in Bachmanns Texten gehe es darum, eine "genuine, unfragmentierte Identität" freizulegen, nicht nur dem Feminismus, sondern jeder "progressiv gesellschaftskritisch orientierten Theorie" einen "Bärendienst" erweist. Vielmehr 'enttarnt' Bachmann ebenso wie Kafka Identität als "nicht-authentische Kategorie". Ein besonderes Augemerk richtet die Autorin immer wieder auf Gemeinsamkeiten von Kafkas und Bachmanns Darstellung 'männlicher' und 'weiblicher' Identität. Allerdings erscheint bei Meyer unter der Hand das 'männliche' fast immer als das Normale, das 'weibliche' als das Andere, das Besondere, das Abweichende.

Im einzelnen wendet sich Meyer den Erzählungen "Das Urteil" und "Die Verwandlung" von Kafka und Bachmanns "Unter Mördern und Irren", "Ein Wildermuth" und "Probleme Probleme" zu, wobei die letztgenannte Erzählung im Zentrum ihrer Untersuchung steht. In Auseinandersetzung mit Ingeborg Dusars Studie "Choreographie der Differenz" unterzieht die Autorin insbesondere die Szene im verspiegelten Friseursalon einer detailierten Untersuchung. Auch hier ist es Meyer besonders um die Geschlechtsspezifika der Konstruktion von Ich-Identität der weiblichen Protagonistin Beatrix zu tun. Während in Kafkas "Urteil" die Sprache und der Versuch ihres "'unzweideutigen' Verstehens" eine "tödlich verlaufende[] Identitätskrise" auslösen, sind es in 'Probleme Probleme' hingegen der "notwendig sprachlich dargestellte" Körper und die Versuche, ihn "abzuspiegeln bzw. ein Bild von ihm herzustellen", die die "Identitätsformation" der Protagonistin als "Problemkreis" evident machen. Notwendigerweise scheitert Beatrix bei dem Versuch, sich via Spiegel ihrer Identität zu versichern. Vielmehr bekommt sie lediglich immer neue, immer andere "Abbildern ihrer selbst" vorgespiegelt, deren Bedeutung "nicht greifbar, weil nicht fixierbar" ist. Ihr "Versuch der Selbstversicherung im Spiegel" artet daher in einen "immer unkontrollierbarer werdenden Verunsicherungsprozeß" aus.

Zwar erweist sich Meyers Interpretation von "Probleme Probleme" als besonders erhellend, doch hat sie auch zu anderen Erzählungen Innovatives zu sagen. So interpretiert sie "Unter Mörder und Irren" etwa unter Bezugnahme auf Adorno. Ein zentrales Thema der Erzählung behandelt das "Schandgesetz", dessen Strukturprinzip der "binäre Opposition von Opfern und Tätern" überzeitlich zu sein scheint: "die Täter sperren die Nicht-Täter im Identitätskäfig 'Opfer' ein". Deren Existenz garantiert wiederum den "Nicht-Opfern ihre Identität als Täter". So verhindere die "analytische Macht der Äquivalenzlogik des 'Schandgesetzes'", dass aus seinem Wirkungsbereich entkommen werden könne. Adornos Feststellung, dass Negation sich letztlich wieder einer Affirmation annähere, scheint Meyer geeignet, diese "Aporie" zu verdeutlichen, in der Bachmanns Erzählung "gefangen" bleibe. Dass die Erzählung letztlich aber doch aus ihr entkommt, zeigt Meyer selbst: Der Ich-Erzähler identifiziert sich in der Schlussszene "gerade nicht mit dem Opfer-Sein" des getöteten Unbekannten, sondern mit dessen "letztlich verhindertem Täter-Sein". Somit stellt er sich zumindest potentiell außerhalb des Schandgesetztes.

Sowohl die untersuchten Texte Kafkas als auch diejenigen Bachmanns, so Meyers Fazit, entlarven Identität als "ein immer schon produziertes und nie von sich aus natürlich Vorhandenes".

Ist Meyers Untersuchung auch erhellender und innovativer als der "kritische Kommentar" Pilipps, so bleibt doch ein Kritikpunkt anzumerken: dass Kafkas und Bachmanns Texte "exemplarisch [...] für den Versuch des Verweigerns einer Aussage über dasjenige 'wovon man nicht sprechen kann'" einstünden, lässt sich - abgesehen davon, dass dies keine erwähnenswerte Leistung wäre - zumindest was Bachmann betrifft kaum aufrecht erhalten, war es doch, wie der Schluss ihrer Dissertation zeigt, gerade ihr Anliegen, mittels der Kunst von dem zu sprechen, worüber die Philosophie und die Wissenschaft schweigen müssen.

Im Unterschied zu Meyer erkennt Veronica O'Regan das. In ihrer englischsprachigen Studie "Growth and Decay in Ingeborg Bachmann's 'Simultan'" äußert sie die Auffassung, dass bisherige Untersuchungen im allgemeinen Wittgensteins Einfluss auf Bachmann überbewertet haben. Zwar stimmt Bachmann mit Wittgensteins These der Begrenzung der "logical language" überein, so die Autorin weiter, doch geht sie in ihrem Glauben an eine kreative künstlerische Sprache und deren Macht "to catch a glimpse of an essentially inexpressible experience" über ihn hinaus. Spürte Pilipp dem Utopischen in Ingeborg Bachmanns erstem Erzählband nach, so unternimmt es O'Regan aufzuzeigen, dass auch "Simultan", Bachmanns zweiter und letzter Band mit Erzählungen, 'utopische' Fingerzeige aufweist und nicht so pessimistisch ist, wie in der Sekundärliteratur gemeinhin angenommen wird.

O'Regan versucht zu zeigen, dass ein bestimmtes "Spannungsverhältnis" die Simultan-Erzählungen charakterisiert. Das Bewusstsein "of tragedy and language loss", in dem die Protagonistinnen leben, werde durch einen utopischen Glauben an die Möglichkeit seiner Transformation contrapunktiert. So seien die Erzählungen an der Grenze zwischen Pessimismus und Optimismus zu verorten. Diese Positionierung sei selbst "essentially utopien" und spiegele Bachmanns Faszination für Grenzsituationen wieder. Zwei fundamental verschiedene Reaktionen auf Dasein und Welt werden in den "Simultan"-Erzählungen dargestellt, die sich beide im Verhältnis der Protagonistinnen zu Sprache manifestieren. O'Regan verweist auf die enge Verknüpfung zwischen einer restringierten Sprache und dem Mangel an utopischer Perspektive, die, so die Autorin, nicht ein Ziel ist, sondern "essentially 'richtungsutopisch'". Die Protagonistinnen der mittleren drei Erzählungen leugnen die Wirklichkeit, was, wie O'Regan deutlich macht, zu einer falschen Sprache führt. An ihnen zeigt Bachmann die lächerlichen und manchmal katastrophalen Folgen von Realitätsverneinung, die allerdings - trotz des eher kritischen und satirischen Tones - tragisch dargestellt werden. Das heißt aber nicht, dass hier utopische Themen per se fehlen. Vielmehr wird Bachmanns Kritik an verschiedenen Abwehrmechanismen gegenüber der Realität deutlich, die die Möglichkeit von Utopie verschließen.

Anders als die Protagonistinnen der mittleren Erzählungen machen Nadja und Elisabeth in den beiden Rahmenerzählungen "Simultan" und "Drei Wege zum See" eine Entwicklung durch, die sich in einem bewussteren Verhältnis zur Sprache äußert. So wird es ihnen letztlich möglich, sich mit der Wahrheit über sich selbst und ihre Beziehungen zu anderen zu konfrontieren. Zwar ist Nadja zu Beginn der Erzählung existentiell und sprachlich verarmt. Durch schmerzliche Erfahrungen und eine persönliche Krise erlangt sie jedoch ein neues Verhältnis zu Sprache und so die Möglichkeit einer utopischen Perspektive. O'Regan gesteht zwar zu, dass die Erzählung eine Zirkelbewegung vollzieht, doch Nadjas Rückkehr zu "a world of limited language" so die Autorin, "is suffused with the afterglow and effect of her Utopien experience." Ihre Situation mag sich nicht geändert haben, wohl aber ihr Bewusstsein. In "Drei Wege zum See" gelangt Elisabeth - durch den Einfluss Trottas - zu einer authentischeren Sprache und kann ihre Gefühle und Erfahrungen ernsthafter ausdrücken. Die Schlussszenen beider Rahmenerzählungen "attempt an 'inexpressible' utopische Möglichkeit. Wie O'Regan zeigt, ist beider utopische Vision intuitiv, hat eher eine innere existentielle Orientierung als einen äußeren materiellen Fokus und bleibt hoch abstrakt. Die utopischen Aspekte, vermutet O'Regan, sind von den meisten Kritikern deshalb nicht erkannt worden, weil sie die Entwicklungen von Nadia und Elisabeth übersehen haben.

Insgesamt, so die Autorin, sind die "Simultan"-Erzählungen eher durch utopische Impulse charakterisiert als durch Pessimismus und Verzweiflung. Dem mag - sicher abgesehen von "Das Gebell" und wohl auch von "Ihr glücklichen Augen"- im Ganzen wohl so sein.

Titelbild

Veronica O´Regan: Dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen. Growth and Decay in Ingeborg Bachmann´s "Simultan".
Peter Lang Verlag, Frankfurt 1999.
150 Seiten, 47,60 EUR.
ISBN-10: 0820445398

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Frank Pilipp: Ingeborg Bachmanns Erzählband "Das dreißigste Jahr". Kritischer Kommentar und Deutung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.
145 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3826020227

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Titelbild

Imke Meyer: Jenseits der Spiegel kein Land. Ich-Fiktionen in Texten von Franz Kafka und Ingeborg Bachmann.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2001.
232 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826019571

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