Fünf Tage im Märchenland

Phantastische Geschichten - auch für Erwachsene

Von Steffi SchwabbauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffi Schwabbauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo sich hochmütige Prinzessinnen, böse Stiefmütter, feuerspeiende Drachen und menschenfressende Hexen ein Stelldichein geben, da ist Märchenland. Nur hier können Flöhe so groß wie Hammel werden und Feen hilfreich in das Schicksal ihrer Bewohner eingreifen. Im 17. Jahrhundert - schon lange vor den Brüdern Grimm - entführte Giambattista Basile seine Leser und Zuhörer mit dem "Märchen der Märchen" in eine Welt der Phantasie und Hirngespinste, denn: "Es gibt nichts Erfreulicheres in der Welt, als die Taten der anderen zu vernehmen, [...] wenn wir geschmackvollen Reden unser Ohr leihen, dann verfliegt alle Trübsal, man entlässt die drückenden Gedanken und verlängert so sein Leben. Aus solcher Begierde heraus sehen wir die Handwerker ihre Werkstätten verlassen, die Kaufleute ihre Geschäfte, die Advokaten ihre Fälle, die Krämer ihre Läden. Mit offenem Mund laufen sie in die Barbierstuben und zu den im Kreise umherstehenden Schwätzern, und dort hören sie sich falsche Nachrichten, erlogene Neue Zeitungen und aus der Luft gegriffene Berichte an."

Ähnlich wie in den "Geschichten aus Tausend und einer Nacht" sind eine Reihe von Erzählungen in eine märchenhafte Rahmenhandlung eingebettet. Von einer alten Frau mit einem Fluch belegt, muss die Prinzessin Zoza einen Krug am Grabstein des Fürsten Tadeo binnen drei Tagen mit Tränen füllen, um ihn aus seiner Gruft befreien und heiraten zu können. Doch sie wird von einer Sklavin überlistet, die nun an ihrer Stelle Tadeos Frau wird. Dank der magischen Gaben dreier Feen gelingt es Zoza, bei der schwangeren Fürstin die Leidenschaft für Märchen zu wecken. Die launische Ehefrau droht nun, das Ungeborene zu töten, sollten ihr keine Geschichten erzählt werden. Also werden die kundigsten und zungenfertigsten Erzählerinnen herbeigerufen, um ihrem Wunsch nachzukommen. Darunter ist schließlich auch Zoza, die ihre eigene unglaubliche Geschichte erzählen kann und so Tadeos Liebe gewinnt.

"Das Märchen der Märchen" wurde nach seinem Erscheinen (1634-36) als "Das Pentamerone" bekannt, da es in fünf Tage gegliedert ist, an denen jeweils zehn Märchen erzählt werden. Giambattista Basile bedient sich zum Teil mündlich überlieferter Motive, findet aber auch in orientalischen Quellen und im zeitgenössischen Straßentheater Ideen für seine Phantasiegeschichten. Stoffe, die später beispielsweise in den Erzählungen von den sieben Raben oder Aschenputtel thematisiert werden, gehen erstmals in Form von Kunstmärchen in die Literaturgeschichte ein. Märchentypische Floskeln wie etwa "Es war einmal..." und die moralisierenden Leitsätze am Ende jeder Erzählung unterscheiden den Märchenzyklus von den beliebten traditionellen italienischen Novellen der Zeit. Die Welt des Märchens erscheint real, obwohl sich der tatsächliche Bezug zu Raum und Zeit ins Phantastische auflöst.

1846 erschein die erste und lange Zeit einzige deutsche Ausgabe des "Pentamerone" von Felix Liebrecht. Italianisten sehen darin allerdings eine unzuverlässige und schamhafte Übersetzung des neapolitanischen Originals. Rudolf Schenda, Mitherausgeber der "Enzyklopädie des Märchens" und Emeritus für Europäische Volksliteratur an der Universität Zürich, sowie Herausgeber des nun vorliegenden neuen "Pentamerone", hat sich deshalb sieben Mitstreiter gesucht, die nicht nur in der italienischen Sprache bewandert sind, sondern auch als Historiker, Märchenphilologen oder Kulturforscher arbeiten. Sie haben sich bemüht, den "schwierigen Dialekt-Märchentexten des Giambattista Basile [...] zu ihrem Recht zu verhelfen, endlich vollständig und möglichst textgetreu in die deutsche Sprache übertragen zu werden". Daher scheut sich diese Übersetzung nicht, auch robuste Alltagssprache wiederzugeben.

Darüber hinaus bietet sie dem interessierten Leser eine Vielzahl märchenhistorischer Kommentare, die Interpretationshilfe zu den Erzählinhalten bietet und auf die nationale sowie internationale Verbreitung der Stoffe hinweist. Auch Sprachspiele, Lokaleigenheiten und historische Gegebenheiten werden erklärt. Die Anmerkungen wurden dem Märchenzyklus angehängt. So erscheint das Werk nicht als wissenschaftliche Abhandlung, sondern bewahrt den Charakter eines Märchenbuches. Sozial- und kulturhistorische Zusammenhänge des Basileschen Werkes erläutert ein Nachwort.

"Das Märchen der Märchen" ist eine Sammlung origineller Geschichten, die gleichzeitig belehren und unterhalten wollen. Sie sind idyllisch, satirisch und durch die Übertragung des Dialektes in die Schriftsprache an vielen Stellen komisch. Die aus der Kindheit vertrauten Figuren erobern mit Zauberei, Liebe, Mut und List die Phantasie des Lesers. So entsteht ein Märchenbuch, das auch Erwachsene in die Märchenwelt entführen kann, vielleicht sogar länger als fünf Tage.

Titelbild

Basile Giambattista: Das Märchen der Märchen. Das Pentamerone. Erzählungen.
Nach dem neapolitanischen Text von 1634/1636 vollständig neu übersetzt und erläutert von Hanno Helbling, Alfred Messerli, Johann Pögl, Dieter Richter, Luisa Rubini, Rudolf Schenda und Doris Senn.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
639 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3406467644

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