Verbrauchtes Ornament oder poetogenes Prinzip?

Ein Sammelband kümmert sich um Gott und Götze in der Literatur der Moderne

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit der Religionskritik Ludwig Feuerbachs und ihrer Verschärfung bei Karl Marx und Sigmund Freud ist die positiv von Wundern, Unsterblichkeit und einem allmächtigen Gott sprechende Theologie in den Verdacht geraten, zur Verblendung und Entmündigung der breiten Massen beizutragen. Der Verdacht stützt sich auf den Vorwurf, dass sie heimliche Wunschträume des Menschen, Menschheitsutopien von Glück, Macht und Stärke propagiert und sich dabei auf die Autorität von Offenbarung stützt als verwirklicht oder doch verwirklichbar. Der Gott dieser Theologie wurde zu Recht als selbstgemacht, also keineswegs transzendent, und die Verstellung des Antlitzes Gottes als eines Anderen durch geschickt getarnte Projektionen eines selbstsüchtigen Ich entlarvt. Diese Religionskritik hat zu einer Verächtlichmachung der Theologie im Ganzen geführt und nicht zuletzt auch dazu, dass sie aus dem wissenschaftlichen Diskurs ebenso weitgehend ausgeschlossen wurde wie der Gottesgedanke aus den neuzeitlichen Welterklärungstheorien.

Fast gleichzeitig hat sich das Reden über Gott und Theologie in einem anderen Diskursfeld angesiedelt: dem der modernen Literatur. Die Genese dieses Wandels lässt sich bis in die Anfänge der modernen Literatur zurückverfolgen. 1929 etwa hat Sigmund Freud in seinen Ausführungen über "Das Unbehagen in der Kultur" den "Kulturerwerb" des Menschen als einen Prozess beschrieben, in dessen Verlauf die ursprünglich in und von den Göttern verkörperte "Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit" sukzessive auf den Menschen übertragen wurde. Freuds Formulierung vom "Prothesengott", zu dem der Mensch geworden sei, indem er die ursprünglich göttlichen Vermögen als "Hilfsorgane" dem eigenen Leib angelegt habe, versammelt Merkmale, die in der christlichen Tradition den ,Götzen' zugeschrieben werden. Die Bibel beschreibt 'Götzen' als artefaktisch, betont ihre bloße Materialität und stuft sie gegenüber Gott als sekundär ein, da sie diesen bzw. bestimmte seiner Eigenschaften substituieren. Der Prozess der modernen Selbstermächtigung findet bekanntlich seinen umfassendsten Ausdruck bei Friedrich Nietzsche. In einer kleinen Parabel, deren Kernaussage im dritten Buch von "Die fröhliche Wissenschaft" zum geflügelten Wort geworden ist, wird einer unverständigen Masse auf dem Marktplatz von dem "tollen Menschen" folgendes verkündet: "Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!" Nietzsches Text hat seinen Wert nicht nur in der Bestimmung, dass Gott "durch die Menschen" getötet worden sei, sondern in der Art und Weise, wie er die Konsequenzen dieses Todes weiterdenkt. Mit dem Tod Gottes kommt Gott nicht an sein Ende, vielmehr beginnt die Zeit seiner "Verwesung". Die Verwandlung, die nach Nietzsche das Prinzip ,Gott' erfährt, stürzt den Menschen einerseits "in ein unendliches Nichts", eröffnet aber andererseits auch ungeahnte Möglichkeiten, die der Unvergleichlichkeit der Tat entsprechen. Nietzsche prophezeit, dass Gottes "Verwesung" lange dauern und die Menschen nachhaltig bestimmen werde: "Welche Sühne feiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?"

Nietzsche präludiert mit seinem Axiom eine Erkenntnis, die kennzeichnend für die (literarische) Moderne insgesamt werden sollte: Der Tod Gottes 'bedeutet' nicht bloß eine Horizontverschiebung, sondern einen grundstürzenden Horizontverlust, der das Denken, Dichten und Existieren aus ihrer - zugleich sinnstiftenden - Verankerung reißt, infolgedessen boden-, halt- und orientierungslos macht sowie angsttreibender Unbehaustheit preisgibt. Gleichzeitig ist dieser Horizontverlust Ausgangspunkt für zwei gewichtige poetologische Prinzipien der (Post-)Moderne: für die erstmals 1968 durch Roland Barthes erfolgte Proklamation des "Tod[es] des Autors" und für die 'Negative Theologie' als Dekonstruktion.

Der "Tod des Autors" war ein eminent theologisches Ereignis. In "La mort de l'auteur" heißt es hierzu: "Wir wissen mittlerweile, dass ein Text nicht bloß aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, in gewisser Weise theologischen Sinn freisetzen (der die ,Botschaft' des Autor-Gottes wäre), sondern ein vieldimensionaler Raum ist, in dem sich unterschiedliche ,écritures' vereinen und befehden, von denen keine einzige ursprünglich ist: Der Text ist ein Gewebe aus Zitaten, die den Tausenden von Brennpunkten der Kultur entstammen." Der Tod des "Auteur", mit großem, die Gottesanalogie betonenden Anfangsbuchstaben: Die kurze Formel resümiert die emphatische (Wieder-)Entdeckung einer unabschließbaren und unhierarchisierbaren Pluralität des Sinns - im Text, in der Welt, in der Welt-als-Text. In allen phono- und logozentrischen Konzepten erkennt Barthes Hypostasierungen der theozentrischen: "Indem die Literatur (man würde übrigens besser von der ,écriture' sprechen) sich weigert, dem Text (und der Welt als Text) ein ,Geheimnis', das heißt einen letzten Sinn zuzuweisen, setzt sie eine Tätigkeit frei, die man konter-theologisch nennen könnte, im eigentlichen Sinn revolutionär; denn die Fixierung des Sinns zurückzuweisen heißt, letztlich/endlich Gott und seine Hypostasierungen zurückzuweisen: die Vernunft, die Wissenschaft, das Gesetz Barthes' Manifest gegen den Autor-Gott gibt sich selbst zu erkennen als Zitat und überfällige Konsequenz eines früheren: Nietzsches Verkündigung des "Todes Gottes" und seiner Folgen. "Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben" - das berühmte Apperçu aus der "Götzen-Dämmerung" wird hier beim Wort genommen und entfaltet. Bilder vom Autor, der sich in seinem Werk opfert, sich auflöst ins Schreiben, der stellvertretend Leid erträgt und eben deshalb Heil vermittelt, haben die poetologische Reflexion von der Romantik bis in die Moderne dauerhaft begleitet. Am Ende dieser Geschichte aber und an der Wende zu seiner (Post-)Moderne lässt Barthes das Tragische dieser Todesbilder lachend hinter sich und blickt voraus auf die Befreiung, als deren Bedingung er sie deutet.

Die Sehnsucht danach, der Grammatik entkommen zu können, um so Gott loszuwerden, bestimmt das Pathos der (Post-)Moderne so dauerhaft wie die Furcht davor, dass die Grammatik unentrinnbar wäre. Am Beispiel Jacques Derridas ließe sich zudem zeigen, dass sich eine Erneuerung des abgebrochenen Diskurses unter nachmetaphysischen Bedingungen durchaus führen ließe. Mit Hilfe seiner Lektüren kann das "Negative" als Dekonstruktion der 'affirmativen Theologie' verstanden werden. Damit wird Negative Theologie als Voraussetzung und beständige Sprengung jedes systematischen Abschlusses der Rede von Gott verstanden, insofern sie fortwährend auf ethische Praxis und mystische Diskursformen verweist. In "Comment ne pas parler" etwa hat er betont, dass die Arbeit der Dekonstruktion keineswegs aus der puren Freude am Unsagbaren und Undarstellbaren resultiere, sondern aus der Offenheit von Sprache. Der Text endet mit Gedanken über das Gebet, das sich an denjenigen richtet, der unserem Sprechen vorausgegangen ist und in dessen Spur wir uns bewegen. Sprechen ist also nicht voraussetzungslos, sondern eingebettet in eine Sprache, die bereits von Spuren Gottes geprägt ist. Es ist das Unterwegssein zu einem Anderen, das den unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten der Sprache eine ethische Richtung gibt und eine aus den Fugen geratene Welt in neuen Konfigurationen zusammenfügt. Diesbezüglich ließe sich, was die Literatur der Moderne betrifft, ein Bogen schlagen von Texten Kafkas, über Stefan Georges Transfiguration Maximilian Kronbergers zum "erlöser"-Gott Maximin, dessen "ankunft" und "frühe auffahrt" uns nicht nur "mit dem lichte neuer verheissungen" erfüllt, sondern "für das neue dasein" erweckt haben soll, bis zu Paul Celans "Psalm"-Dichtung, für die "Gott", der "im Tod/all der Gemähten/ [...] sich zu[wächst]", zuletzt als "Niemand" kenntlich wird.

Dass die Literatur der Moderne gleichermaßen "Zeugnis und Resultat dieser Entwicklung" ist und auf "mannigfache Weise die Wandlungen der Götter- und Götzenwelt, sei es apologetisch oder skeptisch, sei es heiter-ironisch oder schwerblütig-melancholisch", spiegelt, hat ein 1998 in Fribourg durchgeführtes Symposion unterstrichen, das sich mit den vielfältigen Prozessen der Säkularisierung, Rationalisierung und Technisierung einerseits und der Sakralisierung, Re-Mythologisierung und Fetischisierung andererseits beschäftigte und dessen Vorträge nun publiziert vorliegen. Nach einigen Überlegungen zu grundlegenden Voraussetzungen und Ergebnissen des Epochenwandels und seiner Säkularisations- und Sakralisationsphänomene (Jürgen Söring, Stefan Bodo Würffel, Reto Sorg) kommen die literarischen Widerspiegelungen der Entwicklung von Jeremias Gotthelf über Paul Scheerbart bis Wolf von Niebelschütz, Paul Celan, Thomas Bernhard und Tankred Dorst in den Blick (Werner Hahl, Tessy Korber, Harald Fricke, Walter Lesch, Heinrich Schmidinger, Erich Garhammer). Schließlich gehen die Beiträger auch auf mentalitäts- und technikgeschichtliche, diskursanalytische und soziologische Aspekte des Säkularisationsphänomens (Gert Mattenklott, Helmut Lethen) und deren musikalische, das Politische bzw. das Utopische tangierende Dimension (Udo Bermbach, Hermann Kurzke, Corinna Carduff) ein. In erstaunlicher Breite werden Thesen erarbeitet, die eine zukünftige Beschäftigung mit diesem sicherlich noch lange nicht ausgereizten Thema befruchten werden. Der von Reto Sorg und Stefan Bodo Würffel in ihrer Einleitung gezogenen Schlussfolgerung, dass vor allem "der Antagonismus von Gott und Götze ein den Prozeß der Säkularisierung maßgeblich mitbestimmendes Verhältnis" sei, das - "gewendet als analytische Kategorie" - zur Erhellung der literarischen Moderne beitragen werde, kann fraglos zugestimmt werden. Unzutreffend scheint mir allerdings - um noch einmal auf die einleitenden Bemerkungen über den poetogenen Wert theologischer Diskurse für die (Post-)Moderne zurückzukommen - die Hypothese Jürgen Sörings, der Gott für ein "inzwischen verbrauchtes Ornament", "einen metaphysischen Schnörkel" hält, mit der Folge, dass die "poetische Rede von Gott, die gerade auch in der Bekundung seines Verlusts, seines Schwundes oder seiner Entbehrlichkeit auf ihn bezogen bleibt" zwangsläufig an Belang und Verbindlichkeit verliere. Bedenkt man dem gegenüber die interessanten Bezüge, die sich zwischen einzelnen Denkmotiven der (Post-)Moderne, der jüdisch-christlichen Tradition und der Literatur des 20. Jahrhunderts herstellen lassen, so kommt man zu einem anderen Ergebnis: Literatur präsentiert sich vielmehr als Echoraum für die "blinden Flecke" der Theologie und für Alternativen zu metaphysischen, d. h. zu Zwecken des Machtmissbrauchs instrumentalisierbaren Gottes-Bildern. Sie ist daher eine nicht unwesentliche Diskursform eines spezifisch nachmetaphysischen Redens über Gott.

Titelbild

Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel: Gott und Götze in der Literatur der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
296 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770534395

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