Wie klingt gewinnende Bescheidenheit?

Zwei Hörbücher von Friedrich Glauser und Niklaus Meienberg geben sich allzu wortkarg

Von Martin StingelinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Stingelin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 5. August 1937 leitete Josef Halperin, Mitherausgeber und Literaturredakteur der Züricher Wochenzeitung "ABC", den Fortsetzungs-Erstabdruck von Friedrich Glausers in der Fremdenlegion spielenden Roman "Gourrama" mit der Erinnerung an eine Lesung ein, die knapp zwei Jahre früher im sogenannten "Rabenhaus" des Züricher Schriftstellers Rudolf Jakob Humm am Hechtplatz stattgefunden hatte. Glauser, der sich des Genres Kriminalroman bediente, um unvermutet Atmosphäre zu vermitteln (siehe https://literaturkritik.de/txt/2001-04/2001-04-0077.html), las aus dem ersten Wachtmeister Studer-Kriminalroman, "Schlumpf Erwin Mord". Halperin, man höre, erinnerte sich: "Der Mann las mit einer etwas singenden Stimme und mit einer etwas sonderbaren Aussprache, in der schweizerische, österreichische und reichsdeutsche Tonelemente sich vermischten, so daß man sich unwillkürlich fragte: wo mag der aufgewachsen, wo herumgetrieben worden sein? Der Glauser war Schweizer, hieß es. Aber während man überlegen wollte, welche Bewandtnis es mit seinem Akzent haben könnte, merkte man, daß man gar nicht mehr mit Glauser beschäftigt war, sondern mit einem Fahnderwachtmeister Studer, der in einem Café Billard spielte und sich dabei Sorgen machte wegen eines Häftlings namens Schlumpf - schlecht Billard spielte wegen dieser Affäre, die ihn nicht losließ." Halperin beharrt in der Folge auf der singenden Stimme, an die "man sich schnell gewöhnt" hatte: "Sie sang sozusagen mit einer liebevollen Eintönigkeit, modulierte ganz wenig, mit einer gewinnenden Bescheidenheit, welche die Effekte der Aufmachung verpönte und nur die Substanz wirken lassen wollte." Doch, bei aller Bewunderung für die selten angestrebte Kunst Halperins, modulare Stimmeindrücke in Worte zu fassen, man fragt sich unwillkürlich: Wie klingt gewinnende Bescheidenheit mit etwas singender Stimme und etwas sonderbarer Aussprache, in der sich schweizerische, österreichische und reichsdeutsche Tonelemente vermischen? Hier treten tatsächlich analoge Speichermedien wie Grammophon und Tonband in die gelegentlich beschworene - für beide Seiten gewinnbringende - Konkurrenz zur Literatur: Halperins denkbar genaue Beschreibung von Glausers Stimmführung gewinnt an Kontur, wenn man die einzige erhaltene Tonaufnahme einer Lesung von Friedrich Glauser im Ohr hat, die jetzt von der "edition panter & Co." in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Radio DRS veröffentlicht worden ist: "Kif" - doch ohne Halperins die Sinnesorgane begrifflich schärfende Beschreibung würde man weniger hören, als tatsächlich zu hören ist. (Eine zweite Lesung "Aus Gourrama", von Friedrich Glauser am 6. Juni 1937 in der "Stunde der Schweizer Autoren" am Züricher Radio Beromünster von 11.35 bis 12.00 Uhr gehalten, scheint nicht erhalten zu sein.)

"Kif" erzählt 1937 das erste, zwei Wochen lang von seinem Freund "Mahmoud" sorgfältig vorbereitete Haschischkonfitüre-Rauscherlebnis des anonymen Ich-Erzählers in der Fremdenlegion, das auch Wachtmeister Studer in Glausers ein Jahr später veröffentlichtem Kriminalroman "Die Fieberkurve" nachhaltig prägen sollte. Es handelt sich um eine eindringliche Innenschau, die den gebotenen sprachlichen, begrifflichen, stilistischen und vor allem atmosphärischen Vergleich mit Walter Benjamins (ausführlicheren) Haschischprotokollen nicht zu scheuen braucht. Glauser sandte dem für die im Oktober neu anlaufende Reihe "Länder und Völker" zuständigen Redakteur der Abteilung Wort beim Radio Studio Basel, Paul Meyer-Gutzwiller, das Manuskript am 27. September 1937 aus La Bernerie: "Ich denke am 31. Oktober in Basel zu sein - falls etwas dazwischen käme, würde ich Sie sofort benachrichtigen. Ich erlaube mir Ihnen vorläufig eine kurze Skizze zuzusenden (ich habe sie nachkontrolliert)." Die Aufnahme selbst fand dann wohl tatsächlich in der zweiten Novemberhälfte - wahrscheinlich am 18. November 1937 (nicht am 18. November 1927, wie das Booklet zur CD irrtümlich vermerkt) - statt, wie auch aus einem Brief an Glausers Verlobte Berthe Bendel hervorgeht. Den zehn Leseminuten langen Text scheint Glauser eigens für das Radio und innerhalb von sechs Tagen geschrieben zu haben. Er wurde zu seinen Lebzeiten weder ausgestrahlt noch gedruckt.

Der größte Teil dieser Informationen sind notwendig, weil auf der CD "Glauser liest "Kif" selbst - bis auf die fehlerhafte Wiedergabe des Aufnahmedatums und einem zwar interessanten, aber vielfach beschnittenen Faksimile-Auszug aus Glausers Originalmanuskript, das heute im Schweizerischen Literaturarchiv Bern aufbewahrt wird - viele Hinweise zum Entstehungskontext der Lesung fehlen. Dieser wird zwar durch eine Begleitlesung von Frank Göhre aus seinem 1988 erschienenen Porträtbuch "Zeitgenosse Glauser" zum Teil nachgereicht, die eigentliche Bedeutung dieses einzigen erhaltenen Tondokuments eines Autors, der die von ihm erschaffenen Figuren vorwiegend über ihre Stimmführung und Akzentfärbung zu charakterisieren pflegte, wird sich aber nur Glauser-aficionados erschließen.

Dieser Vorbehalt gilt doppelt für die ausgewählten Reportagen und Gedichte von Niklaus Meienberg, die der Schauspieler Mathias Gnädinger für "Kein & Aber Records" gelesen hat. Es scheint sich um den Live-Mitschnitt einer Lesung im Züricher "sogar theater" zu handeln, doch schon ihr Datum fehlt im Booklet, das - bis auf den arg gekürzten Lebenslauf "Meienberg über Meienberg" von 1987, der gänzlich seines Witzes beschnitten, aber um den gespenstischen Zusatz: "Drei Jahre später, im September 1993, wählte Niklaus Meienberg den Freitod", ergänzt wurde - nur Meienbergs integralen (auf der CD aber nicht gelesenen) "St. Galler-Diskurs bei der Preisübergabe" von 1990 und eine Biographie Gnädingers enthält. Die Lesung des Schauspielers, der alle nur erdenklichen Meienbergschen Register zieht, erweist sich gleich zu Beginn dort am souveränsten, wo sie nichtdeutschschweizerischen Ohren am verschlossensten bleiben wird, bei der Lektüre der "Kinderverse oder die Benutzung des Dialekts zu verschiedenen Zwecken, evt. auch für die Dialäktik": Die hier geleistete Verdichtung der Dialektik des Dialekts wird nur erkennen, wer weiß, dass sich "Dialekt" im St. Gallischen Heimatdialekt des Journalisten und Schriftstellers Niklaus Meienberg mit einem breiten "ä" spricht; die Obszönitäten werden ihm in ihrer Sprödigkeit und Wärme - Dialektik! - ebenso entgehen wie die Schlusspointe über einen zum Glück auch in der Schweiz bald schon vergessenenen ehemaligen Justiz- und Polizeiminister.

Die Scham der Hörbücher über ihre Herkunft lässt sie gelegentlich allzu wortkarg eingekleidet daherkommen, und man möchte ihnen mit den gesprächigeren Bucheinschlägen beispringen, aus denen sie hervorgegangen sind.

Titelbild

Niklaus Meienberg: Ausgewählte Reportagen und Gedichte. Gelesen von Mathias Gnädinger.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2000.
16,40 EUR.
ISBN-10: 3906547280

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Titelbild

Friedrich Glauser: Kif. Gelesen von Friedrich Glauser.
Dittrich Verlag, Köln 2000.
12,80 EUR.
ISBN-10: 392086252X

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