Psychotraumatologie

Über ein neues Paradigma für Psychotherapie und Kulturwissenschaften

Von Harald WeilnböckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Harald Weilnböck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der furiose Einzug der Psychotraumatologie in das Feld der etablierten Humanwissenschaften ist letztlich jener nach wie vor unaufgeklärten Gretchen-Frage nach der 'hysterischen Frau' geschuldet. Sie steht im Zentrum der Urszene wie des Familiengeheimnisses der Freudianischen Psychoanalyse, wurde doch stets erwogen, inwiefern Hysterie auf einen so genannten innerpsychischen Triebkonflikt der jungen Frau oder aber auf allzu vorzeitige "Verführung" zurückgeht. Dabei bezog Freud für seine spätere Zurücknahme der Hypothese, Kindesmissbrauch sei die Ursache hysterischer Symptome, von feministisch-politischer Seite mit Recht heftige Schelte. Patrick Mahonys "Freud's Dora" (2000) verweist darauf, wie Freud der vor allem psychisch vielfach missbrauchten 13-jährigen Dora obendrein noch verdrängte sexuelle Impulse einreden wollte. Freuds Ausgangsthese war in ihrer Pauschalität wissenschaftlich nicht zu halten.

Dass die Frage nach dem Verhältnis von äußerer Traumatisierung und innerem Konflikt über ein Jahrhundert hinweg nicht mehr ernsthaft aufgegriffen wurde, ist freilich nur als Reflex eines innerinstitutionellen Widerstands der Psychoanalyse selbst begreiflich. Und so entspringt das aktuelle Interesse an psychotraumatologischen Fragestellungen vor allem dem Bereich der klinisch-praktischen Therapiearbeit und den Kulturwissenschaften. In Deutschland ist es auch auf den demografischen Sachverhalt zurückzuführen, dass inzwischen die dritte Generation der Opfer und Täter nach dem Holocaust im öffentlichen Diskurs prägend geworden ist. Damit konnte sich ein weitgehend unvoreingenommenes und sachlich orientiertes Interesse an den historischen und individuellen Dimensionen von Psychotraumatik artikulieren. In den USA ist die Thematik präsent, seit für die psychosozial auffälligen Vietnam-Veteranen das Syndrom der 'Posttraumatischen Belastungsstörung' geprägt wurde. Auch wurden dort die Traumatisierungen der Shoah-Überlebenden nicht, wie in der deutschen Nachkriegs-Psychiatrie, auf "erbliche Defekte" der Betroffenen (!) zurückgeführt.

Psychotraumatologie im sozialwissenschaftlichen und klinischen Bereich

Gottfried Fischer und Peter Riedesser gebührt das Verdienst, die Psychotraumatologie als Begriff und integrale Grundlagenwissenschaft bündig formuliert zu haben. Die "Lehre von Struktur, Verlauf und Behandlung seelischer Verletzungen" konzentriert sich auf die psychische Wirkungsmacht von äußeren Ereignisfaktoren und führt das Wissen der psychosozialen, klinisch-psychologischen sowie der biomedizinischen Disziplinen zusammen. So wurde der längst überfällige Einbezug des handlungstheoretischen - "sozio-ökologischen" - Faktors in die Psychopathologie geleistet. Denn die endogene Sichtweise des "Intrapsychismus", die alles Mentale von seinen soziokulturellen Kontexten isoliert, wird ja sowohl von der industrialisierten Medizin wie von den orthodoxen Psychoanalysen geteilt. Gleiches gilt für den Autonomiebegriff, mit dem Geisteswissenschaften die Kunst generell aus ihren pragmatischen Zusammenhängen herauszulösen suchten. Infolgedessen ist in diesen Bereichen die Berücksichtigung der - immer nur subjektiv verifizierbaren - seelischen Verletzungen sträflich vernachlässigt worden.

Umso präziser formulieren Fischer/Riedesser die traumatische Erfahrung "dialektisch" als "vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das [...] eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt" und vielfältige psychische und psychosomatische Symptome verursachen kann. Damit ist der verbreiteten Gleichsetzung von konkretem Ereignis und Trauma vorgebeugt und die biografie- und psychoanalytische Perspektive auf die je individuelle Lebens- und Sozialisationsgeschichte in ihr Recht gesetzt. Ein Verlaufsmodell von "traumatischer Situation, persönlicher Reaktion und individuellem Lebensprozess" versteht das Psychotrauma als eine durch Gewalt "unterbrochene" Handlung, als Kollaps einer Interaktionsszene. Aufgrund dieser traumatischen Unterbrechung ist der Betroffene einem Wiederholungszwang von retraumatisierenden Flashback-Erinnerungen, Albträumen und selbstschädigenden Inszenierungsmustern ausgesetzt. Denn er folgt hilflos seinem "traumakompensatorischen Handlungsschema", das zumeist noch mit Kindheitserfahrungen angereichert ist. Es kann radikale Erfahrungsabspaltungen, Selbstbeschuldigungen, systematische Realitätsverzerrungen, irrationale Fluchtreflexe oder auch nur unzweckmäßige Schutzvorkehrungen beinhalten; und es stellt allemal eine respektable provisorische Abwehr der traumatischen Erfahrung dar. In jedem Fall hat es immense Kosten für Gesundheit und soziale Teilhabe zur Folge, solange kein traumatherapeutisches Durcharbeiten gelingt.

Der bisher im therapeutischen - aber auch im kulturwissenschaftlichen - Bereich gleichermaßen unterschätzte Abwehrmechanismus der Traumapatienten ist die Dissoziation bzw. Abspaltung. Sie trennt die verschiedenen, durchaus bewussten Erfahrungsaspekte der traumatischen Szene(en) von ihren Affektbesetzungen wie auch von ihrem Handlungs- und Erinnerungszusammenhang ab. Ausführlich schildern Fischer/Riedesser eine erfreulich unspektakuläre und eher alltägliche Fallgeschichte über dissoziierte Erlebniszustände. Dabei hätten die theoretischen Grundlegungen zur Dissoziation vielleicht durch mehr und jüngere Literatur ergänzt werden können; den Einlassungen zum Borderline-Syndrom hätte es gut getan, Ausführungen dazu auf der Basis Otto Kernbergs oder auch Rohde-Dachsers sowie die schwer einzuschätzenden Thematik der multiplen Persönlichkeit einzubeziehen.

Insgesamt ist die Darstellung durch detailliertes und anschauliches Eingehen auf kasuistisches Material, durch didaktische Umsicht und durch das Bemühen um theoretisch-konzeptuelle - gelegentlich etwas überformalisierte - Systematisierung geprägt. Dabei wird der entschiedene wissenschaftsstrategische Auftritt durch geeignete Begriffsbildungen untermauert und mittels eines Glossars transparent gemacht. Die "spezielle Psychotraumatologie", die sich an die "allgemeine" anschließt, beschäftigt sich - in allerdings unterschiedlich einlässlicher Weise - mit den thematischen Bereichen Holocaust, Folter und Exil, Kindheitstrauma, sexueller Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Gewaltkriminalität, Arbeitslosigkeit, Mobbing, lebensbedrohliche Krankheiten. Die Leichtigkeit, die dieses Lehrbuch sich in der dicht gebündelten Aufbereitung des fächerübergreifend vorliegenden Forschungswissens erhält, lässt vergessen, welch ungeheurer Integrationsleistung es bedurfte, die wissenschaftspolitisch stark verfestigten Animositäten zwischen quantitativen und qualitativen (bzw. nomothetischen und ideografischen) Methodologien zu überwinden.

Gerade durch den systematischen Einbezug der kognitionspsychologischen und medizinischen Literatur haben die Autoren auch der - durchaus aktualisierungsbedürftigen - Psychoanalyse einen großen Dienst erwiesen. Denn diese zierte sich auf ihre Weise. Friedhelm Lamprechts abgeklärte Anmerkung, dass ein Entweder-Oder der Paradigmen vollkommen unnötig ist und dass also "psychoanalytische Behandlungen oft indirekte Traumatherapien sind", bei denen "das traumatische Erlebnis [nicht] direkt im Vordergrund stehen muss", würde sich mancher Analytiker verbitten. Immerhin hat spätestens das Themenheft "Trauma" der Zeitschrift "Psyche" zur Integration der Psychotraumatologie beigetragen. Werner Bohleber gibt einen profunden Überblick über die Entwicklung der psychoanalytischen Traumatheorie, und einschlägig bekannte Fachleute gehen auf die Problemlage der Holocaust-Überlebenden (Henry Crystal, Dori Laub) ein, auf die Tradierung des Traumas in die zweite Generation (Kurt Grünberg), auf "Großgruppenidentität und ausgewähltes Trauma" am Beispiel Serbiens oder auf den Mythos von der Schlacht am Amselfeld (Vamik Volkan).

Wegweisend sind ferner die von Schlösser und Höhfeld herausgegebenen Kongressbeiträge von etwa drei Dutzend Psychotherapeuten und -therapeutinnen (der DGPT), die zumeist anhand von anschaulichen Fallgeschichten die therapeutischen Erfahrungen mit verschiedentlich traumatisierten Menschen schildern. Als Devise fungiert die Einsicht, dass es "für uns als Psychoanalytiker oft schwer vorstellbar ist, was realiter im hic et nunc des 'Außen' geschehen kann". Der sich erschließende Gegenstandsbereich ist vielfältig: Extremtraumatisierungen; die Wirkung von unbewusster elterlicher Untröstlichkeit in der Weitergabe des Traumas in der Familie; sozialgeschichtliche Phänomene wie Migrationen oder die politische Wende in der DDR; das vermehrte Auftreten borderliner - das heißt zwischen Neurose und Psychose gelegener und sozial überaus destruktiver - Störungen als Traumafolge; Viktimisierungsdynamiken zwischen Tätern und Opfern und die Wiederholungstendenz von traumatischen Beziehungen; wissenschaftsgeschichtliche sowie behandlungstechnische Aspekte, zum Beispiel zum Verständnis der negativen therapeutischen Reaktion von Klienten aus Angst vor Retraumatisierung; die Prozesse der psychotherapeutischen Integration von traumatischer Erfahrung; letztlich eine traumaanaloge Lektüre von Texten Kleists und Rushdies. In therapietechnischer Hinsicht lassen Fischer/Riedesser keinen Zweifel, dass die psychoanalytischen Prinzipien des Arbeitsbündnisses und der Gegenübertragungs-Analyse für das Verständnis und die Behandlung von Traumapatienten unerlässlich sind. Allerdings sind Modifikationen notwendig. Denn die Behandlung im herkömmlichen psychoanalytischen Setting musste häufig scheitern, weil die abstinente Neutralität des Analytikers retraumatisierend wirkte.

In künftigen Ausgaben des Lehrbuches wird man hinsichtlich neuerer psychoanalytischer Ansätze noch weiter gehen können. Man könnte zum Beispiel die Bindungsforschung stärker und die inzwischen gut konsolidierte Beziehungsanalyse nach Thea Bauriedl oder Franz Herberth/Jürgen Maurer überhaupt mit einbeziehen. Demgegenüber bleibt Fischer/Riedessers Begriff des "Beziehungstraumas" etwas dünn. Denn er meint ja einerseits den simplen Tatbestand, dass "der Täter" auch "Vertrauter des Opfers" ist, andererseits umfasst der Begriff auch die komplexeren strukturellen Traumatisierungen, die durch abträgliche familiäre und soziale Beziehungsdynamiken bedingt sind. (Dabei kommt es mitunter zu verunglückten Formulierungen, etwa wenn das "Beziehungstrauma auf Paradoxien und Diskrepanzen im menschlichen Beziehungssystem" bezogen wird, "welches ebenfalls erbgenetisch-biologisch verankert ist".)

Gerade Fischer, der selbst über "Doppelbindung" geschrieben und auf einer "beziehungstheoretischen Revolution" der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Metatheorie bestanden hat ("Freiburger literaturpsychologische Gespräche" 15, 1996), müssten diese interaktionstheoretischen Präzisierungen leicht fallen. Bisher jedoch führt zum Beispiel der Begriff der "Doppelbindung" in der Psychotraumatologie ein eher subkutanes Dasein und wird nicht im Index geführt. Wünschenswert wäre ferner die Aufnahme der psychoanalytischen Psychosomatik, wie Siegfried Zepf und Karola Brede sie vertreten. Denn das Lehrbuch beschäftigt sich auf einigen wenigen Seiten lediglich mit der traumatischen Wirkung lebensbedrohlicher Krankheiten, nicht jedoch mit den beziehungstraumatischen Familienbedingungen, die im Hintergrund schweren auto-destruktiver Psychosomatosen (zum Beispiel bei chronischen Darmerkrankungen) auffindbar sind.

Zu größere Nüchternheit müssen die Autoren ermahnt werden, wo sie auf zwei nicht hinlänglich ausgewogenen Textseiten das sensible Thema der "Fehlerinnerung" bzw. der Suggestion bei Vorwürfen des Kindesmissbrauchs abhandeln. In einer eher meinungshaften Weise wird das Phänomen der "Fehlerinnerung" und der "Trauma-Fantasmen" implizit in Abrede gestellt; und die ungut 'engagierte' Entschiedenheit dieser Wertung ist umso voreiliger, je mehr man die gründliche Recherche der einschlägigen Literatur vermissen muss, mit der zum Beispiel Jeffrey Prager sich auseinandersetzt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Autoren die latent denunziatorische Bezeichnung der "sog. 'False-Memory'-Bewegung" verwenden, wo doch korrekterweise zunächst von einer "False Memory Syndrome Foundation" zu sprechen wäre. Diese überaus notwendige Organisation von Therapeuten und Rechtsanwälten leistete dort Beistand, wo die nach amerikanischer Weise teilweise stark hysterisierte öffentliche Empfindlichkeit für Fragen des Kindesmissbrauchs mitunter zu suggestiven Befragungen von Kindern und fragwürdigen Strafanzeigen gegen Erwachsene führte.

Psychotraumatologen sollten immer damit rechnen, dass Therapieklienten ihr zunächst namenloses Leiden im impulsiven Zugriff auf die je gesellschaftlich vorherrschenden (Trauma-)Diskurse auszudrücken versuchen. Dabei mögen sich persönliche Fehlerinnerungen und Trauma-Fantasmen bilden, die - faktisch irreal - im Dienst der Abwehr gegen das Durcharbeiten der tatsächlichen Leidenszusammenhänge stehen. Jeffrey Pragers aufschlussreiches Buch über "Misremembering" schildert einen exemplarischen Fall, in dem eine Klientin nach eineinhalb Jahren Therapie recht unvermittelt die Überzeugung einbrachte, sie sei in ihrer Kindheit von ihrem Vater sexuell missbraucht worden. Plötzlich dominierten Überlegungen zu Missbrauch, Trauma und Vergessen die Sitzungen, und je weniger konkrete Missbrauchserinnerungen aktiviert werden konnten, desto frenetischer wurde die Überzeugung der Klientin und desto mehr verengte sich die Reichhaltigkeit des bisherigen Therapieverlaufs. Erst ein halbes Jahr später stellte sich zunehmend ein Konsens dahingehend ein, dass hier mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Fehlerinnerung vorlag, mittels derer die in der Übertragung auftauchenden positiven Gefühle gegenüber einem von der Mutterbeziehung verdeckten Vater abgewehrt wurden. Nichtsdestoweniger war diese Fehlerinnerung eine produktive und therapeutisch notwendige Symbolisierung der traumatisierenden Familiendynamik, unter der die Klientin zu leiden hatte; offener sexueller Missbrauch hatte jedoch nicht statt. (In anderem, aber analogem Zusammenhang wäre auf die Holocaust-Identifikation der amerikanischen Lyrikerin Sylvia Plath zu verweisen, die James E. Young 1997 beschrieben hat, oder auch auf den schweizer Autor Wilkomirski, der die autobiografische Halluzination einer frühen Kindheit im Lager entwarf.)

Wo eine öffentliche Diskursdynamik der Selbst-Viktimisierung von Opfergruppen unausbleiblich auch zur voreiligen Stigmatisierung potenzieller Täter tendiert, kam es in den USA dazu, dass Väter, die von ihren erwachsenen Kindern retrospektiv des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden, justiziable Geständnisse ablegten, ohne über eigene Erinnerungen an ein Vergehen zu verfügen. "Satan works in strange and unpredictable ways": Mit diesen Worten fügte sich ein ohnehin psychisch wenig zurechnungs- und auskunftsfähiger (christlich-fundamentalistischer) Vater, der, wie sich später herausstellte, im Sinne der Anklage unschuldig war. Dabei ist in diesen Fällen die ratlose Selbstauslieferung von Eltern lediglich die andere Seite einer familiär wirksamen Desorientierung und Suggestionsanfälligkeit, die sich, unterstützt durch die Medienkonjunktur des sexuellen Missbrauchs-Themas, bei manchen erwachsenen Kinder einstellt. Beiderseits sind (eigen-)manipulative Erinnerungsfiktionen wirksam, die desaströse strafrechtliche Inszenierungsformen herbeiführen können und dabei die eigentlichen familiären Beziehungstraumata verdecken. Vielleicht wird sich Fischers "Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung", die 2002 bei UTB erscheint, mit diesen psychosozialen Dynamiken auseinandersetzen.

Dass die USA zuletzt zunehmend als "Gesellschaft von Trauma-Überlebenden" identifizierbar wurde, in der man nach modischen Konjunkturen sorgsam choreografierte Traumaerzählungen in Talk-Show-Kontexten immer neu auflegte, verschärft diese Eskalationstendenz. Auch nehmen die gegenaufklärerischen Stimmen hierbei die Möglichkeit wahr, mit wissenschaftlichem Anstrich in einer Weise über die christliche Seele und die sie erleuchtenden Erinnerungs-Eingebungen zu sprechen, die eigentlich religiös ist. Umso trefflicher ist Pragers gedächtnispsychologische Grundlagendiskussion, die in der intellektuellen Tradition von George Herbert Mead, Maurice Halbwachs und Charles Taylor die Erinnerung nicht als Faktor der Vergangenheit, sondern als kreative Funktion der Gegenwart und ihrer szenischen Situationen begreift.

Traumabegriffe in den Kulturwissenschaften

Weil die gesellschaftliche Präsenz oder Abwesenheit von öffentlichen Trauma-Diskursen ein für die Therapie gewichtiger Faktor ist, wird sich die junge Wissenschaft der Psychotraumatologie auch um ihre kulturwissenschaftlichen Implikationen bemühen müssen. Dies umso mehr, als die eigentlich zuständigen geisteswissenschaftlichen Fächer, die der interdisziplinären Aufforderung traditionsgemäß kaum entgegen kommen, gerade in ihren neutheoretischen Sparten einen eher idiosynkratischen Umgang mit der Konjunktur des Traumabegriffs betreiben. Trefflich hat Annegret Mahler-Bungers (in dem "Trauma"-Band der "Freiburger literaturpsychologischen Gespräche") die deplatzierte Verklärung und Ontologisierung von psychotraumatologischen Phänomenen durch den Poststrukturalismus, namentlich Lyotard, beanstandet und als unreflektierte "posttraumatische Reaktion" auf die Erfahrung des 20. Jahrhunderts begriffen. Birgit Erdle moniert in diesem Zusammenhang die differenzvergessene "Einvernahmung" eines jüdischen "Denkens der Differenz und des Gesetzes" durch deutsche Autoren.

Einige Beiträger des von Elisabeth Bronfen, Brigit R. Erdle und Sigrid Weigel herausgegebenen Bandes "Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster" gehen diesem modischen Traumadiskurs jedoch mit ungutem Beispiel voran. Sigrid Weigel immerhin setzt sich genau und kritisch mit Cathy Caruths poststrukturalistischer "Universalisierung des 'Traumas' als 'Geschichte'" auseinander. Mit eigentümlicher Melancholie wird dort alles Erleben als Überleben und alle Geschichte - an und für sich und immer schon - als traumatisch und narrativ unzugänglich begriffen. Gleichzeitig erfolgt eine Reproduktion von schuldkomplexhaftem Denken, das letztlich der Übernahme von konkreter Verantwortung entgegenwirkt. Der entschiedene Appell an ein "Denken nach Auschwitz" will sich anstelle der poststrukturalistischen Insistenz auf dem ewig "Undarstellbaren" des Holocaust den Formen der "ungeheueren Beredsamkeit" zuwenden.

Mit gleichermaßen großem Scharfsinn stellt Birgit Erdle Beobachtungen zur diskursiven Funktion der Trauma-Vokabel in den deutschen Erinnerungsdebatten an. Als Daniel Liebeskind seinen Entwurf zur Bebauung des Geländes des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen/Oranienburg vorlegte (Ausschreibungstext: "Wo Lager war, soll Stadt sein!") und als er dabei nicht die Trennung des Lagers, sondern dessen Verbindung zur angrenzenden Stadt akzentuierte, befanden die ablehnenden Juroren in naiver Schamlosigkeit, der Entwurf würde "eine erneute Traumatisierung der Stadt Oranienburg bedeuten". Treffsicher und unpolemisch arbeitet Erdle die "Isolierung und Abspaltung" (Dissoziation) von unliebsamer Erinnerung wie auch die latente philosemitische "Sexualisierung" der Diskurse der Täternachfahren heraus. Einzuräumen, dass es sich bei diesen Befunden um geradezu klassische psychotraumatische Phänomene handelt, hätte Erdle freilich in ein Dilemma gestürzt - nämlich: Genozid, Krieg oder sexuellen Kindesmissbrauch aus nachvollziehbaren (diskurs-)politischen Gründen nicht unter einen Trauma-Begriff subsumieren zu wollen, während dies aus wissenschaftlich-systematischen Gründen dringend geboten scheint (und das Hamburger Institut für Sozialforschung und Fischer/Riedesser es dementsprechend so handhaben).

Die Mitherausgeberin Elisabeth Bronfen jedoch legt sich einen einigermaßen idiosynkratischen Traumabegriff zurecht. Hitchcocks "Marnie" habe im Gegensatz zu Freud gezeigt, "wie der Familienroman glücklicher genitaler Sexualität ein Genießen dessen, was ich ein traumatisches Wissen nennen möchte, verdeckt"; mit diesem Wissen habe "Dora möglicherweise Katz und Maus" mit Freud gespielt. Wo das "Trauma" solchermaßen, und mit dem inzwischen nur noch verdeckt zitierten Lacan, als Genuss-Formel einer exquisit-melancholischen jouissance goutiert wird, ist es groteskerweise einzig "die Bewegung zur heterosexuellen Paarbildung", die einen "Akt der Gewalt und der Beschneidung" darstellt. Vollends zum Ärgernis wird der Missbrauch des Traumabegriffs als beliebige intellektuelle Sensationsformel, wenn sich seine Verklärung implizit gegen die Aufhebung von psychischen Leidenszuständen richtet: "Das Trauma ist dem Gedächtnis immer schon eingeschrieben [...]; doch muss es gerade deshalb unverfügbar bleiben", so Manfred Weinberg, der wissenschaftliche Koordinator des Konstanzer Sonderforschungsbereichs "Literatur und Anthropologie". Kaum jemals war die Konjunktur von gegenaufklärerischen Diskursen problematischer als hier: Das "im Trauma Vergessene" ist das "adäquat Bewahrte"; es schnöderweise erinnern zu wollen hieße, sich wegen "Exkorporation des Traumas" zu versündigen, und dies entspräche seiner "Überführung in die inadäquate [sic!] Repräsentation bewussten Erinnerns." Jeder Psychotraumatologe mit Therapieerfahrung reibt sich ungläubig die Augen vor einer begrifflichen Elaboriertheit, die - man denke an Georges Devereuxs "Angst und Methode" - nur der Formierung von akademischer Erkenntnisverhinderung dient. Als Gegenmittel sei nachdrücklich die jüngere therapiewissenschaftliche und die traumatherapeutische Praxisliteratur empfohlen, für die hier Friedhelm Lamprechts aufschlussreiches Buch einstehen mag (wie allgemein die Verlage Psychosozial und Pfeiffer).

Auch von Seiten einer weniger theoretisch ambitionierten Geisteswissenschaft werden die "selbstlegitimatorischen" Ansprüche poststrukturalistischer Autoren und Autorinnen an den Traumabegriff mit Recht als anmaßend gerügt. Dabei fließen jedoch auch ihrerseits "theoriepolitische" Begehrlichkeiten ein, nämlich dort, wo mit vergleichbar großer Geste zur "Rekonstruktion der Geschichte des Traumas" angesetzt wird. Als ob es das Trauma, geschweige denn dessen Geschichte, in deren Zug auch noch die "Interpretation und Diagnose der Moderne" als solcher erledigt werden soll, überhaupt geben könne. Der Einwand betrifft den von Inka Mülder-Bach herausgegebenen Band "Modernität und Trauma".

Wenn an den gegenwärtigen deutschen Erinnerungsdebatten pauschal ihre "normalisierenden und entlastenden Funktionen" beklagt werden und dies schon an der "schieren Fülle der Texte, Bilder, Ausstellungen und Tagungen" ermessen wird, entstehen unfreiwillige Anklänge an Martin Walsers Es-muss-doch-einmal-Schluss-Sein. Ein, wenngleich sublimiertes, Ressentiment gegen die Artikulation von persönlich-historischer Leidenserfahrung überhaupt wird spürbar. Dass ferner die intergenerationelle Traumaforschung ohne weitere Erläuterung geziehen wird, die "traumatische Zäsur von 'Auschwitz' in ein mythologisches Ursprungsdatum transformiert" zu haben, gehört zu jenen für den Bereich der Täternachfahren bezeichnenden Affektdurchbrüchen, die gemeinhin und nicht ganz passend als 'Geschmacklosigkeiten' bezeichnet werden. Zudem beansprucht Mülder-Bach ja auch für das eigene Projekt den nicht minder ursprungsmythologisch konnotierten Begriff des "Zeitenbruchs". Er bezieht sich hier auf den Ersten Weltkrieg.

Die Fragwürdigkeiten psychotraumatologischer Aussagen in diesem Band werden auch dadurch kaum geringer, dass sie sich auf Walter Benjamin berufen. "Nicht schon der Krieg, sondern erst sein Verlust erzeugt [die] Traumatisierung des kollektiven Gedächtnisses", schreibt Mülder-Bach. Der Akzent auf dem Kollektivgedächtnis - und dessen Textreservoir - mag jedenfalls die raison d'être der Geisteswissenschaften gesichert erscheinen lassen; wird doch die Bedrängnis nicht so sehr durch französische Theorie als vielmehr durch die neuen narrationsanalytischen Hermeneutiken der qualitativen Sozial- und Biografieforschung immer fühlbarer. Allerdings gerät die Psychotraumatologie hier in eine erstickende Umarmung, wobei die zentralen Konzepte der "Dissociative Identity Disorder", des "Recovered Memory" etc. im Grunde lediglich als Gegenstände von "angeheizten Debatten" über amerikanische "Hysterien" und "Hystories" Erwähnung finden. Die einzelnen Beiträger des Bandes gehen dann fast ausnahmslos so vor, als ob es nach Freuds Kriegsneurosen-Aufsatz keine psychotraumatologische Fachliteratur gegeben hätte.

In inhaltlicher Hinsicht jedoch ist Mülder-Bachs Projekt umsichtig arrangiert. Die Autoren und Autorinnen widmen sich dem kulturwissenschaftlich nüchternen Nachvollzug der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und kommen zu oft bemerkenswerten Befunden. Diese bedürfen zwar nicht immer des Traumabegriffs, könnten durch fundierte psychotraumatologische Kenntnisse jedoch wesentlich präzisiert und vor Missverständlichkeiten bewahrt werden.

So verweist zum Beispiel Ralph Ubls scharfsinnige Analyse der "traumatophilen Kriegsbilder" Max Ernsts auf jenen "psychogenen" Traumabegriff, mit dem nicht nur die zeitgenössische Psychiatrie, sondern auch, und zwar ungleich einfühlsamer, die Psychoanalyse die Kriegsneurotiker betrachtete. Eine Kritik der Avantgarde schließt sich an, die mit André Breton "das ganze Rüstzeug des Surrealismus" bereits im Weltkrieg gefunden haben wollte, aber vielfach einer ästhetischen Verstellung der traumatischen Erfahrungen Vorschub leistete. Freilich ist die Feststellung, die Avantgarde sei "in den Bann des Traumas geraten", eine geisteswissenschaftliche Pauschalität. Von großer hermeneutischer Treffsicherheit zeugt jedoch der filigrane bildanalytische Nachweis, dass Max Ernsts Ästhetik, wie auch Franz Marcs an Kandinsky geschulte Kontemplationen, eine Spaltung der Fronterfahrung zwischen "Graben- und Flugkampf", Motiven des "opaken Schmutzes" im unteren und der "transparenten Reinheit" im oberen Raum vollziehen. Ubl vermag dies aufzuzeigen, ohne auf die psychotraumatologische Literatur zum Phänomen der psychischen Dissoziation zurückzugreifen. Diese aber hätte ihn eventuell davor bewahrt, Max Ernsts schlichtweg kitschige Feldpostkarten umstandslos zu Zeichen von "Ironie und Verstellung" zu erheben und in einer unerwarteten - eigentlich poststrukturalismustypischen - Schlusswendung das sich immer schon listig selbst Entlarvende der Kunst zu evozieren. Auch die Überlegungen zur Metaphernbildung hätten vorsichtiger ausfallen müssen.

Eva Horn kontrastiert in dem Band eindrücklich die unterschiedliche narrative Matrix in der Darstellung des Kriegserlebnisses bei Remarque, Schauwecker, Jünger, Rommel, A. Zweig und E. Köppen. Jedoch ist die Tragfähigkeit der theoretischen Fundierung mittels Benjamin und Dilthey nicht hoch. Dass in der "dramatischen Nicht-Erfüllung" der "Erlebnis"-Verheißung des Augusts 1914 das "eigentliche" Trauma bestanden habe, das Trauma also das "verfehlte, gescheiterte Erlebnis" (Diltheys) gewesen sei, bleibt erläuterungsbedürftig. In einem gewitzten Beitrag über Bronnens "Katalaunische Schlacht" akzentuiert Helmut Lethen das Motiv der phonografischen Aufzeichnung der im Nachweltkriegs-Deutschland verleugneten männlichen Hysterie (Hysteria virilis). Die Schlussfolgerung, dass das "Trauma nie gegenwärtig" und "endlos wiederholbar" ist und ein vor allem "akustisches Ereignis" darstellt (205), könnte psychotraumatologisch weiter präzisiert werden. So auch Bernd Ulrichs Feststellung, dass "ein durch den Krieg Traumatisierter auf die traumatisierende Situation fixiert bleibt", zumal Ulrich die traumatogene Wehrertüchtigung vor dem Zweiten Weltkrieg nachzuvollziehen versucht.

Albrecht Koschorke geht eindringlich der "elaborierten faschistischen Anthropologie" in Jüngers Schmerz-Begriff nach und weist den Widerspruch zwischen Momenten einer antimodernen (Schmerz-)Empfindsamkeit und modernistisch-anästhetischer Nervenstählung auf. Diese und andere "Paradoxien" Jüngers sowie die "doppelten" und "changierenden Bedeutungen" ließen sich noch genauer begreifen, zöge man die psychotraumatologischen Begriffe der Doppelbindung und der (borderlinen) Denkhemmung hinzu, ferner den der Opfer-Täter-Inversion, der das Phänomen bezeichnet, dass Täter sich selbst häufig in der Opferposition wahrnehmen, während Opfer sich die Schuld am Trauma selbst zuschreiben. Auch wäre damit jene gewagte Formulierung vermieden worden, die das "totalitäre Denken" ob seiner changierenden Logik versuchsweise "poetisch", während sie doch schlicht dissoziativ ist. Thomas Machos schonungsloser Aufsatz über die Kriegswahrnehmung des vielfach ausgezeichneten Artillerie-Aufklärers Ludwig Wittgenstein hätte von Dori Laubs Theorem des Verlusts des beschädigten "inneren Dialogpartners" profitiert; denn damit ließe sich die ansonsten etwas esoterisch verbleibende Feststellung unterfüttern, das "wirkliche Trauma" sei vielleicht das "eigene Trauma: nämlich die unerschütterliche Opazität von Selbstbeziehungen, die scheinbar aus allen Sprachspielen herausfallen".

Es ist schwer zu verstehen, warum die Beiträger so geschlossen von der psychotraumatologischen Fachliteratur absehen. Eventuell ist hier eine in den Geisteswissenschaften verbreitete, autosuggestive Überzeugung wirksam: dass es nämlich keine hilfswissenschaftlichen Errungenschaften geben könne, die von Philosophie und Philologie nicht immer schon aus eigener Kraft antizipierbar wären und die letztlich nur innerhalb einer philologisch bereinigten Sprache mit voller Gültigkeit formuliert werden könnten.

Integration von Literaturwissenschaft und Psychotraumatologie

Eine vorbildliche Zuammenführung von psychotraumatologischem Fachwissen mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen ist aus dem Kreis der "Freiburger literaturpsychologischen Gespräche" hervorgegangen. Gottfried Fischer zeichnet anhand der Arbeit seines Magistranden Denis Baspinar nach, inwiefern für den Schriftsteller und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi der erzwungene Verrat an den eigenen humanistischen Idealen das psychische Zentrum der erfolgten Traumatisierung darstellte. Infolgedessen beruhte Levis' "traumakompensatorisches Schema" auf der Paradoxie einer partiellen Idealisierung der uneingeschränkten Souveränität der SS-Soldaten, die sich persönlich nur wenig an der Tötungsmaschinerie beteiligen mussten. Auf diese Weise gelangte Levi zu dem verstörenden Motto: "Mensch ist, wer tötet, [...] wer Unrecht zufügt oder leidet". Seinen ganzen Abscheu richtet gegen die "Funktionshäftlinge" und vor allem auch gegen sich selbst. Diese nur halbbewusste Idealisierung und Diffamierung stellte zwar das psychische Überleben sicher und ermöglichte das Schreiben nach der Katastrophe; sie konservierte jedoch einen wesentlichen Aspekt des Traumaschemas, ohne das Levis' Texte nicht angemessen verstanden werden können.

Jan Philipp Reemtsma liest den "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész mit Blick auf die eigentümlich saloppe, beinahe zynisch anmutende Haltung, in der Kertész seine Konzentrationslager-Erfahrungen umsetzt. Aus Auschwitz nach Buchenwald gebracht, meint der Erzähler lakonisch: ich habe "versäumt, mich nach den Buchenwalder Gebräuchen zu erkundigen [...] wie sie es hier eigentlich machen: mit Gas [...] oder vielleicht mit Hilfe von Medikamenten", um dann in einem Berg von Leichen zu erwachen. "Ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager", denn man werde ihn sicherlich nach "dem Glück der Konzentrationslager" fragen - "wenn sie denn fragen". Weil der Zwang zur absoluten Unterwerfung und zum Einverständnis mit dem Vernichtungsapparat das Ich auch derjenigen Handlungsoption beraubt, die für Tragik und Schicksal - mithin für selbstbestimmte Rede - konstitutiv ist, bleiben, so Reemtsma, nur die Ausdrucksmittel einer entfremdenden Distanzierung. Diese mag durch naive Plausibilisierung des Unvorstellbaren im verfremdend nonchalanten Ton erfolgen (oder auch durch die Grotesken eines Edgar Hilsenrath und Georg Tabori). So gelingt Kertész das Allerschwierigste: den Tätern die Selbst-Viktimisierung der Opfer und das Faszinosum der Täterschaft zu verweigern und einen Weg zu weisen für die immense Aufgabe der Traumabewältigung im kreativen Prozess.

Jedes pauschale Vertrauen in die traumatherapeutische Kraft auch der Kunst muss jedoch naiv genannt werden: Literarisches Durcharbeiten kann scheitern und zu einem "selbstrepetitiven Abwehrsystem" mutieren (Lange-Kirchheim). So stellt Arthur Schnitzlers "Fräulein Else" Anfang des Jahrhunderts zweifellos eine große analytische und kreative Leistung dar, was die "patriarchatstypische Entlebendigung der Frau" anbetrifft, denn es wird ein symbiotisch-übergriffiges Familiendreieck sichtbar, in dem der spielsüchtige Vater "Mündelgelder" veruntreut und die co-abhängige Mutter ihre Tochter zwecks Geldbeschaffung zur Prostitution veranlasst. Die latente Inzestuosität zwischen Vater und Tochter, so vermag Astrid Lange-Kirchheim aufzuzeigen, findet bei Schnitzler jedoch einen nur vielfach verstellten Ausdruck. Und als innerer Monolog gerät Schnitzlers Text unwillkürlich in Korrespondenz mit dem Schweigegebot und der dissoziativen Ausdruckshemmung, die bereits Funktionen des Missbrauchs selbst sind. So ist Schnitzler letztlich wohl auch mit seinen Traumaerfahrungen im inneren Monolog geblieben; auch konnte er sich entgegen seinem Vorsatz nicht entschließen, den ihm bekannten Freud um Rat zu fragen - was immer auch daraus sich ergeben hätte. In bisher unveröffentlichtem autobiografischen Material werden Vater wie Tochter Schnitzler gleichermaßen als Opfer von unbewältigter missbräuchlicher Interaktion erkennbar. Wenn Schnitzlers Tochter Lili sich dann mit achzehn Jahren - also präzise im Alter von Fräulein Else - das Leben nimmt, hat sich die Tragik der unbewussten transgenerationellen Weitergabe des Traumas in die zweite Generation vollzogen. Der beeindruckenden literarischen Umsetzung folgte offensichtlich keine hinreichend lösenden Versprachlichung der Beziehungstraumatik innerhalb der lebensweltlich-familiären Sphäre.

Das hohe Ziel, die persönlich erfahrene Traumatik inhaltlich und affektiv erschöpfend auszudrücken und ästhetisch-narrativ zu gestalten, ist also keineswegs immer schon dann selbstverständlich erreicht, wenn ein Goethescher Tasso sich fühlt, als habe "ein Gott" ihm gegeben, "zu sagen was ich leide". Bereits Gretchen hätte eigentlich die Protagonistin eines Dramas über exorzistische Folter und Hexenprozesse sein können, in dem sich die Traumaerfahrungen in Goethes Subtext deutlicher hätten profilieren müssen. Doch das Drama heißt "Faust"; und immer noch bemüht 'mann' und 'frau' sich vielfach, genialisch und strebend die Wahrheit zu finden, was nicht notwendig bedeutet, dass sich erfolgreich ein "emotionaler Zugang" zur je unbewusst inspirierenden (Beziehungs-)Traumatik erschließt. Nach therapeutischer Erfahrung ist es einzig dieser Zugang, der die transgenerationellen "Weitergeber" des Traumas zu "Nicht-Weitergebern" werden lässt und somit das Kreislauf-Gesetz von der Erhaltung des Traumas aufzuheben vermag.

Was den Großteil der akademisch verfassten Geisteswissenschaften angeht, scheint es, als könnten sie von einer institutionspsychologischen Traumatherapie unerhört profitieren, um sich ihrer eigenen Begrenzungen und Ausblendungen bewusst zu werden. Daraus würde sicherlich eine rückhaltlosere Aufgeschlossenheit für interdisziplinäre Beziehungen erwachsen.

Titelbild

Jeffrey Prager: Presenting the Past. Psychoanalysis and the Sociology of Misremembering.
Harvard University Press, Cambridge; London 1998.
261 Seiten, 39,40 EUR.
ISBN-10: 0674566416

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Gottfried Fischer / Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2. Auflage UTB.
Ernst Reinhardt Verlag, München 1999.
393 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3825281655

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Elisabeth Bronfen / Birgit R. Erdle / Sigrid Weigel (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster.
Böhlau Verlag, Köln 1999.
220 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3412143987

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Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch.
WUV Universitätsverlag, Wien 2000.
230 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3851145119

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Friedhelm Lamprecht: Praxis der Traumatherapie. Was kann EMDR leisten?
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000.
240 Seiten, 20,20 EUR.
ISBN-10: 3608896848

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Werner Bohleber (Hg.): Psyche. Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Heft 9/10, September/Oktober 2000.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000.
240 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3608972196

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Wolfram Mauser / Carl Pietzcker (Hg.): Trauma. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Band 19.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
284 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826018788

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Anne-Marie Schlösser / Kurt Höhfeld (Hg.): Trauma und Konflikt.
Psychosozial-Verlag, Giessen 2000.
526 Seiten, 35,30 EUR.
ISBN-10: 3898060772

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