Aussöhnung von Realismus und Phantastik

Valerio Aiollis bemerkenswerter Debutroman "Ich und mein Bruder"

Von Pia-Elisabeth LeuschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia-Elisabeth Leuschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es kann nicht gehen", denkt man, "das Ergebnis muss eine Peinlichkeit sein, unerträglich". Es ist nicht peinlich. Im Gegenteil: schwere- und scheinbar mühelos, in jedem Moment plausibel geglückt, erzählt Valerio Aiolli aus der Perspektive eines Fünfjährigen. Und plötzlich versteht man, warum dieser Debutroman 1999 den Premio Fiesole gewann und warum Antonio Tabucchi ihn im "Corriere della sera" als Sternstunde der neueren italienischen Narrativik begrüßte. Nun liegt dieses Werk in einer deutschen Übersetzung von Angelika Beck vor, die zwar vor einigen (von Aiolli sensibelst aufgespürten) Toskanismen oder Ausdrucksidiosynkrasien notwendig kapitulieren musste, aber den Gesamt-Ton des Originals über die weitesten Strecken achtsam trifft.

"Ich und mein Bruder" - schon mit der minutiösen Verschiebung und Missachtung der traditionellen Höflichkeitsformen innerhalb dieses Titels beginnt uns Aiolli in die Perspektive seines Romans hineinzuziehen. Denn: wie früh hat man uns ausgetrieben, uns selbst zuerst zu nennen, und uns gelehrt, stattdessen die konventionell-höfliche Redeweise "X und ich" zu gebrauchen, auch wenn sie keinerlei Priorität in unserer Wahrnehmung entspricht? Aiollis Protagonist hat diesen Schritt noch nicht vollzogen. Für ihn hat die eigene sinnliche Wahrnehmung - von Dingen wie von Worten in Klang oder Verwendungsweise - noch ungebrochen Vorrang vor deren "Bedeutung" in der Welt der Erwachsenen, die er sich erst mühevoll, durch die Übernahme von deren Maximen, erschließt. Was dem kleinen "Ich" ins Auge fällt, sind Runzeln um einen Mund, die beim Lächeln die Richtung wechseln, Nonnenaugen, die im Kreis herumschwirrenden Fliegen gleichen und ein Blick des Vaters auf die Mutter, der ihn unwillkürlich an die Boxhandschuhe denken lässt, die ihm der Onkel zum Geburtstag versprach.

Was Aiolli uns aus dieser zugleich eingeschränkten und detail-erhellenden Perspektive erzählt, ist das Florenz von 1966, das von einer katastrophalen und denkwürdigen Überschwemmung des Arno heimgesucht wird. Aber die pittoresk-verheerenden Aspekte dieser Katastrophe figurieren nur am Rande der Perspektive des kleinen Ichs: als Blick auf 'ertrinkende' Autos, bei denen das Wasser die Hupe auslöst, oder in den überhörten Gesprächen der Eltern, die ihre wirtschaftliche Schädigung zu ermessen suchen. Wichtiger und empfindlicher fühlbar sind ihm jene indirekten Vorgänge, für die diese Überschwemmung ein dezent gewähltes Symbol ist: die alles hinwegreißende ökonomische und ideologische Sintflut, die das Ende des italienischen Wirtschaftswunders bedeutet, und die zeitgleiche unheilbare Werteverunsicherung beim Umbruch vom italienischen Agrarstaat des 19. Jahrhunderts zu einer sich der Zukunft öffnenden, zunächst industriellen und dann technologischen gesellschaftlichen Realität.

Unmittelbar erlebt wird dieser Umbruch von der - gleichsam zufällig herausgegriffenen - Kleinbürgerfamilie, der Aiollis Ich als Kind zugehört. Sein Papa investiert all seine Zeit und all sein Geld in ein Bauprojekt, das ihm einen sozialen Aufstieg ermöglichen soll und endlich an der Skrupellosigkeit eines tatsächlichen, abgefeimteren Bauspekulanten scheitert. Die Mutter betrügt ihren ewig beschäftigten und launischen Ehemann mit einem jungen Bessergestellten, mit Schwimmbad und keckem Haarschopf, worauf der Vater, Tennisstunden vorschützend, seinerseits fremdgeht: mit einer Frau, die der kleine Junge, psychologisch feinfühlig, als "Piratin" bezeichnet. Das scheint zunächst sinnlich motiviert, da sie zum Tennisspielen ein Tuch um den Kopf geknüpft hat, zugleich aber lässt Aiolli das kleine Ich damit präzise eine Verschmelzung von exotischer Faszination und Gefährlichkeit ausdrücken, die etwas von ihm nicht Durchschautes umreißt, - dass nämlich diese Frau seinen Papa 'erbeutet'.

Dann sind da natürlich noch etliche Tanten und Onkel, Großeltern, Freunde der Familie - alle mit derselben traumwandlerisch sparsamen Erzählweise charakterisiert, als Fixpunkte, zwischen denen sich das mühselige Geschäft der Weltaneignung des Ich vollzieht. Das Bedrohliche dieser Situation lässt in ihm die psychologische Notwendigkeit des 'Bruders' entstehen - nach einem Mechanismus, der wohl allen Lesern aus ihrer eigenen Kindheit vertraut ist. Denn wer hat sich nicht irgendwann, sich allein gelassen fühlend, einen imaginären idealen Kameraden erfunden? Für Aiollis Protagonisten ist es der verstorbene Bruder, dessen Tod in der Familie verschwiegen wurde und den er sich nicht anders als lebend vorstellen kann: erwachsener, schon aufmüpfiger und zu Lausbubenwitzen aufgelegt, wird dieser Bruder ihm zum geistigen Begleiter und Führer durch die dräuend unerklärbare Welt der Erwachsenen und hilft ihm, Erlebtes zu hinterfragen und Trauriges zu ertragen. Wenn nämlich das kleine Ich gerne weinen oder sich erbrechen möchte, legt ihm dieser Bruder die Hände über die Augen oder vor den Mund und erleichtert ihm so, Tränen oder Mageninhalt zurückzuhalten. In der Gestalt des Bruders gelingt Aiolli jene Aussöhnung von Detailrealismus der Beobachtung und Phantastik in der Bezugnahme auf die Welt, die er als das höchste Ziel all seines Erzählens bezeichnet.

In jener Dimension der Phantasie wird auch diee bedeutendste Dunkelheit umdacht und indirekt verhandelt, die den Roman grundiert: die Frage des Todes. Ein Großvater und eine weitere sehr sympathische Romanfigur finden im zeitlichen Rahmen der Erzählung, die das letzte Kindergartenjahr des Ich bis zu seiner Einschulung umspannt, den Tod. Und als der Protagonist sich am Ende des Romans, subtil symbolisch, mit einer Zigarette in die Welt des Erwachsenseins hineinvergiftet und dann die Realität des Todes zu begreifen beginnt, entlässt uns auch Aiolli in die graue Welt einer Aufgeklärtheit, für die ein solches Erzählen das Wiedererleben einer unmittelbaren Naivität bedeutet.

Titelbild

Valerio Aiolli: Ich und mein Bruder. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Angelika Beck.
Pendo Verlag, Zürich 2001.
224 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3858424099

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch