Biedere Heimatkunde mit Abscheugarantie

Ein historisch-kulturelles Druckwerk über das "Reisen im Biedermeier"

Von Ulla BiernatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulla Biernat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angeblich bildet das Reisen - zuerst den Reisenden und dann dessen Leserschar, wenn er aus seinen Erlebnissen in der Fremde einen Bericht verfasst. Gerhard Tötschinger ist offenbar kaum polyglott veranlagt und hat demnach keine Ahnung, wie ein kultur-historisches Reisekompendium auszusehen hat. Vielmehr gelingt es ihm, mit seinem altbackenen Buchstabenbilderbuch über das Reisen im Biedermeier gewisse psychosomatische Symptome zu induzieren, wie das Lesen sie selten hervorruft. Doch purer, unkomplizierter Abscheu gehört zu den seltenen Vergnügen eines Rezensenten, so dass wir dafür gerne körperliche Schmerzen in Kauf nehmen.

"Ach, wer da mitreisen könnte..." ist Tötschingers biedere Heimatkunde larmoyant betitelt. Damit ist die paradoxe biedermeierliche Sehnsucht nach Aufbruch und Veränderung gemeint, der nur die wenigsten Zeitgenossen nachgeben konnten. Trotzdem vermitteln Text und Bild genau das Gegenteil: Die Welt scheint damals ein Perpetuum mobile gewesen zu sein, "zu Fuß, zu Roß, per eigener Karosse mit Dienerschaft oder in vielen Kutschen und mit Hofstaat, in der Postkutsche, in der Kutsche einer privaten Linie, per Schiff". Eben: Zu Fuß oder in der Kutsche, mehr Möglichkeiten gab es nicht - wer Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Schiff reiste, war entweder Seemann oder Forscher, gehörte also zu einer Minderheit innerhalb einer sozial privilegierten Minderheit. Das ist nur ein mildes Beispiel dafür, wie Tötschinger durch Verallgemeinerungen zugunsten eines betulichen Erzähltons die historischen Fakten verfälscht.

Eine wesentliche Rolle spielt dabei die nostalgische Neigung des 1946 bei Wien geborenen Autors, die Gegenwart und Vergangenheit in ein schiefes Verhältnis zueinander zu setzen: "Aus heutiger Perspektive, mit der Furcht vor Atomkraft und Verkehrsinfarkt, mag der Gedanke an die Reise ,Hoch auf dem gelben Wagen' Sehnsucht bewirken. Für den Reisenden des Jahres 1840 hatte die neue Eisenbahn, die Technik des anbrechenden Industriezeitalters[,] nur Gutes." Die Industrialisierung war um 1840 längst sinnfällig geworden; und die Eisenbahn fand keineswegs ungeteilte Bewunderung in Deutschland; man fürchtete vielmehr gravierende psychische, physische und soziale Veränderungen für die Menschen.

Die Themen des kruden Druckwerks sind unter anderem die Gefahren des Reisens, der "Modeberuf" Postillion und "Räuberwirtshäuser" - der wohlige Schauer aus historischer Distanz wird einkalkuliert, die Verkitschung des Trivialen ist Tötschingers bevorzugte Methode. Dankenswerterweise scheint sich der Verfasser seiner literarischen Unzulänglichkeiten und seines kulturhistorischen Unwissens dunkel bewusst zu sein: Großzügig zitiert er aus zeitgenössischen Reiseberichten und -briefen, egal ob sie relevante Informationen oder Klischees bieten. Wahllos und für das Biedermeier unrepräsentativ (mit dem Begriff wird schlicht die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts etikettiert) bemüht er z.B. Johanna Schopenhauer, Gustav Freytag, Levin Schücking, den Freiherrn von Knigge, J. G. Seume und diverse österreichische Lokalgrößen.

Womit Tötschinger auch Herrn Tötschinger höchstselbst meint. Leider sind wir für andere Leute selten so interessant, wie wir es für uns selbst sind. Doch von dieser Einsicht ist der Kompilateur weit entfernt. ",Hoch auf dem gelben Wagen / Sitz ich beim Schwager vorn! [...]' Das haben wir als Kinder gesungen, auf der Schullandwoche, mit unseren hellen vorpubertären Stimmchen. Auch beim Bundesheer haben wir das Lied gesungen, das hat weniger melodiös geklungen, da war die Pubertät vorbei, die Stimme in den Keller gerutscht und wir waren weniger begabt als vordem. Aber als Soldat habe ich endlich den Text verstanden. Als Bub habe ich mir zwar nicht gerade den Kopf zerbrochen über den Sinn, aber dieser gelbe Wagen hat mich doch verwirrt. Wieso gelb? Was für ein Wagen?" Genug, genug. Auch die schönste Folter muss einmal ein Ende haben. Ach!

Titelbild

Gerhard Tötschinger: "Ach, wer da mitreisen könnte...". Reisen im Biedermeier.
Amalthea Verlag, Wien 2001.
240 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-10: 3850024547

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