So schnell sind die Wogen noch nicht glatt

Zum 100. Geburtstag Marieluise Fleißers

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer und Charlotte BrombachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Brombach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ingolstadt am 23. November 2001: Am Nachmittag hat es angefangen zu schneien, Ingolstadt liegt unter einer schmucken Schneemütze und wirkt durch die Folgen von Massenkarambolagen auf den zu- und abführenden spiegelglatten Autobahnen fast ein wenig von der Außenwelt abgeschnitten. Mitten drin, nahe der Donau, liegt das Theater, ein überdimensionierter Bau, der gewagt der pittoresken Altstadt den rauen Charme von Beton entgegenstreckt und, wegen der Finanzierung durch Steuergelder aus den nahegelegenen Raffinerien, gerne "Öloper" genannt wurde. Dort feiert heute eine ortsansässige Baufirma ihr 50-jähriges Jubiläum. Und dort wird der hundertste Geburtstag der lokalen Schriftstellerin Marieluise Fleißer begangen und der nach ihr benannte Preis an die Autorin Petra Morsbach verliehen.

Eine nicht ganz repräsentative Umfrage unter sechs Germanistikstudenten erbringt folgendes Ergebnis: Drei kennen Marieluise Fleißer überhaupt nicht, zwei haben ein diffuses Bild von ihr, in dem obendrein Bertolt Brecht eine undurchsichtige Rolle spielt, und immerhin eine hat ein paar ihrer Erzählungen gelesen. Man darf also, wenn man das bundesdeutsche Bildungssystem nicht als gänzlich marode abtun will, getrost davon sprechen, dass Marieluise Fleißer nach einer kurzen Renaissance in den 1970er Jahren nur mehr ein Geheimtipp ist. Und das ist bedauerlich. Elfriede Jelinek etwa bezeichnet Fleißer als die "bedeutendste deutschsprachige Schriftstellerin" des vergangenen Jahrhunderts, von der sie viel gelernt habe und die ihr wichtiger sei als beispielsweise Brecht, mit dem Fleißer in den 20er Jahren eine produktive Freundschaft verband. Eine Verbindung, die ihr heute noch nachhängt und sie in Literaturgeschichten häufig zur bloßen Gespielin des großen Dramatikers degradiert. Über dieses biografische Detail wird versäumt, Fleißer als eigenständige, höchst aufregende und bewegende Schriftstellerin wahrzunehmen. Wer Fleißer heute liest, kann noch immer ihren knappen, rauen, an der oberbayrischen Provinz geschulten Tonfall entdecken, den sie ganz originell in die deutsche Literatur eingebracht hat, kann die unsichere Balance erspüren, die sie zwischen Sprache und Leben herstellte.

Marieluise Fleißer, am 23. November vor 100 Jahren in Ingolstadt geboren, schaffte die Flucht aus der Enge der Heimat: zunächst zum Studium nach München, anschließend ins aufregende Berlin der 20er Jahre. Sie hatte den Ehrgeiz und Elan, den es braucht. Sie hatte überdies Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht als Förderer. Feuchtwanger kehrte nicht nur den Namen Luise Marie in Marieluise um - das klinge mehr nach Schriftstellerin -, er schlug ihr auch den expressionistischen Stil aus dem Kopf und machte sie mit dem bekannt, was man später unter dem Stichwort Neue Sachlichkeit fasste. Viel wichtiger jedoch: Die Fleißerin, wie Brecht sie nannte, verfügte über immenses Talent, das ihr von Größen wie Alfred Kerr oder Walter Benjamin schon früh bescheinigt wurde. "Aber ich möchte Ihnen noch einmal persönlich sagen" schreibt ihr Kurt Pinthus am 19. Dezember 1928, "wie sehr mich Ihre Arbeiten angerührt haben, insbesondere die mir fast unbekannten Novellen, und wie sehr ich von der Stärke Ihrer Begabung überzeugt bin."

Fleißer war plötzlich Teil avantgardistischer Boheme-Kreise, machte sich als Erzählerin und vor allem als Theaterautorin einen Namen. 1926 wurde ihr erstes Drama "Fegefeuer in Ingolstadt" aufgeführt, ein verstörendes Stück, das die Sprachlosigkeit der Protagonisten in einer klaustrophobischen Kleinstadthölle intensiv verdichtet.

Drei Jahre später kam es bei der Berliner Premiere der "Pioniere in Ingolstadt" zum Skandal. Brecht hatte das Stück nicht ohne Berechnung radikalisiert: Auf offener Bühne wurde eine Entjungferung in Szene gesetzt - es rappelte in einer Kiste. Natürlich fiel die Inszenierung auf Fleißer zurück. Die wusste gar nicht, wie ihr geschah: Die nationale Presse empörte sich, Ingolstadt war in Aufruhr, kurz: das "Schmäh- und Schandstück" machte ihr das weitere Leben nicht gerade leichter. "Aus Ingolstadt schrieb man mir sogar, daß man mich dort totschlagen würde. Seid doch nicht so derb, liebe Leute" schrieb sie in einem offenen Brief an den Oberbürgermeister, "es ist nicht fein, wenn man ein Mädchen totschlägt. Es ist auch dann noch nicht fein, wenn dies Mädchen zufällig in Berlin aufgeführt wird. Die Mädchen genießen heute größere Freiheit. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Hexenprozesse." Doch einen Knacks hat es ihr versetzt: "Ja, brechtsche Früchte schmecken bitter", schrieb sie fünf Jahre darauf in einem Brief.

Gleichwohl war es eben jener Brecht, der sich mehrmals für Fleißer eingesetzt hatte. Auch nach dem Krieg konnte sie sich hilfesuchend an ihn wenden, und er brachte ihr Stück "Der starke Stamm" am Theater unter. Ihr ambivalentes Verhältnis zu Brecht verarbeitete sie in einer Erzählung, die zunächst "Trauma" heißen sollte, 1963 dann als "Avantgarde" erschien: "Sie war blutjung, eine kleine Studentin, die sich noch nicht kannte, den Kopf vollgesponnen von ihrem Wollen, das einstweilen doch nur anmaßend war. Mit diesem Wollen geriet sie an ihn und wurde ganz stark gebrochen. Der Mann war eine Potenz, er brach sie sofort. Es würde sich zeigen, ob sie es überstand. Wenn nicht, war sie es eben nicht wert. Er war der Mann, der schon was konnte. Sie spürte tief, wie er über ihr stand, und war sie bei ihm, fasste sie doch einen Zipfel vom starken, vom glühenden Leben. Sie machte die ersten Schritte. Sie lernte schreiben an der Art, wie er schrieb."

In ihrer urkatholischen Heimatstadt, die für sie eigentlicher Ort der Inspiration und Gefängnis zugleich war, wurde Marieluise Fleißer zur Persona non grata. Die braven Bürger antworteten der gefallenen Tochter mit aggressiver Missachtung. "Wie Du mir mitteilst möchtest Du gerne nach Ingolstadt für einige Zeit", schreibt ihr der Vater ein wenig holprig, aber ehrlich besorgt, "wen Dir nicht bange ist, mir soll es nicht darauf ankomen, aber ich habe Bedenken [...], denn noch oft genug kann ich über Dich abfällige Urteile hören, auch von ins Gesicht spucken u. dergleichen, so schnell sind die Wogen noch nicht glatt."

Wie groß und nachhaltig die Verstörung gewesen sein muß, die Marieluise Fleißer durch ihr Schreiben und ihr Verhalten hervorgerufen hat, zeigen die rhetorischen Nöte, in die die Verleihung des Fleißerpreises den seit 30 Jahren amtierenden Bürgermeister der Stadt stürzt: Man freue sich über den hundertsten Geburtstag, sei schon auch stolz auf die schreibende Tochter der Stadt - aber sie habe es den Ingolstädtern halt eher schwer gemacht, Zugang zu ihr zu finden. Zurück aus Berlin habe sie doch immer durchblicken lassen, dass sie jetzt großstädtisches Leben und Denken gewohnt sei. Und irgendwie sei sie meist spröde und fast schon abweisend gewesen, auch in ihren Texten. Vielleicht gelinge ja jetzt, im Jubiläumsjahr und durch den Einblick in ihre private und geschäftliche Korrespondenz, eine erneute Annäherung.

1931 veröffentlichte Fleißer den eindrucksvollen Roman "Mehlreisende Frieda Geier", der die Strukturprinzipien eines durch Sportsgeist initiierten Männerkultes entlarvt. Ihre literarischen Leistungen verhalfen ihr allerdings nicht zu finanzieller Unabhängigkeit. Es war für sie das Eingeständnis einer Niederlage, als sie nach einigen missglückten Liebesbeziehungen nach Ingolstadt zurückkehren musste und schließlich den der Kunst nicht gerade zugetanen Jugendfreund Josef Haindl heiratete. Die "Notlösung für die nackte Existenz" - Fleißer arbeitete in Haindls Tabakgeschäft mit - ließ keinen Raum für schriftstellerische Träume. Aber aufgeben konnte sie das Schreiben nicht mehr: Sie war bereits zu sehr in die Literatur verstrickt und litt nun an der Beschneidung ihres Ausdruckswillens und an der immer schmerzlicheren Einengung ihrer Eigenständigkeit.

Es wurde still um sie. Da sie mit Brecht in Zusammenhang gesehen wurde, hatte sie unter den Nazis schlechte Karten. Ihr Verhältnis zu einem Protagonisten des rechtskonservativen Lagers hingegen, dem überheblichen und so rücksichts- wie erfolglosen Schriftsteller Draws-Tychsen hatte sie gleichzeitig von denen entfremdet, die ihr zugetan waren und wirkte auf ihr eigenes Schreiben und Werden zerstörerisch. Die unfreiwillige Rückkehr in eine kleinbürgerliche Welt, Schreibkrisen und die erfolglosen Versuche, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder im Literaturbetrieb Fuß zu fassen, machten sie verbittert und müde.

Bis Ende der 60er Jahre eine neue Autorengeneration die Sprengkraft in den Texten von Fleißer erkannte. Martin Sperr, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder sahen in ihr eine Gleichgesinnte, eine, die das Volksstück von jeder Idylle befreit hatte. Der Anregung von Kroetz und dem Engagement von Günther Rühle als Herausgeber ist es zu verdanken, dass der Suhrkamp Verlag 1972 eine Werkausgabe besorgte. Marieluise Fleißer fühlte sich endlich angemessen gewürdigt. Genießen konnte sie die späte Anerkennung für ihr stark biografisch und von biografischen Brüchen geprägtes Werk nicht mehr lange. Sie starb am 2. Februar 1974 in Ingolstadt.

Am Tag nach ihrem 100. Geburtstag beginnt der Schnee schon wieder zu tauen. Im Stadtmuseum im "Kavalier Hepp" ist eine materialreiche und gut kommentierte Ausstellung zu sehen, die sich der Autorin über ihre wichtigsten und folgenreichsten Bekanntschaften nähert - fast allesamt Männer. Von dem dort abgehaltenen Symposium bleibt unter anderem die Frage zurück, warum eine Autorin, die das Zerstörerische in den Machtverhältnissen zwischen Mann und Frau so eindringlich beschreiben konnte, im eigenen Leben gerade diesen zehrenden Kräften so nachhaltig ausgesetzt blieb. Und eine kleine Enttäuschung darüber, dass sie die politischen Radikalisierungen der 30er Jahre womöglich weniger hellsichtig wahrgenommen und weniger konsequent verurteilt hat, als man es ihr zugetraut hätte. Aber das sind Fragen, für die man sich noch weiter hineinstürzen müsste in die zwiespältigen Verquickungen von Leben und Werk. Dazu bieten die Materialien Gelegenheit, die aus Anlass ihres 100. Geburtstages erschienen sind, vor allem der ausführliche "Briefwechsel 1925-1974". Die Bedeutung von Marieluise Fleißer als Autorin, die uns bis heute sprachlich beeindrucken, verblüffen und verstören kann, liegt in ihren Werken. Sie liegen vor - und wollen gelesen werden.

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"Diese Frau ist ein Besitz". Marieluise Fleißer zum 100. Geburtstag. Sonderheft 96/2001.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2001.
177 Seiten, 7,70 EUR.

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marieluise Fleißer: Briefwechsel 1925-1974.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Günther Rühle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
740 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518397818

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Titelbild

Marieluise Fleißer: Erzählungen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Günther Rühle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
336 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 351839780X

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Titelbild

Carl-Ludwig Reichert: Marieluise Fleißer.
dtv Verlag, München 2001.
192 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3423310545

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