Goethedämmerung

Goethe in Gedichten der Gegenwart

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

1. Lebt Goethe? Verzeihen Sie mir diese überflüssige Frage. Selbstverständlich lebt Goethe. Wir müssen ihn nicht erst wiederbeleben. Er lebt, wie Sie wissen, in der Forschung und im Feuilleton, in der Tourismusbranche und auf Tagungen, auf dem Theater, im Fernsehen und in Talk-Shows, in der Werbung, in kritischen Werk-Ausgaben und unter unkritischen Enthusiasten. Er lebt in geradezu aufdringlicher Weise und nicht selten zum Überdruß seiner Apologeten. Jeder führt ihn im Mund, aber der Verdacht ist nicht ganz unbegründet, daß nur noch wenige seine Werke lesen. Das alte Klagelied Lessings, Sie kennen es: "Wir wollen weniger erhoben, / Und fleißiger gelesen sein".

Zu den kompetentesten Lesern Goethes, sollte man meinen, gehören diejenigen, die selbst, wie Goethe, Gedichte schreiben, zumal dann, wenn sie Gedichte über Goethe schreiben. Bei diesen Lyrikern von heute frage ich an, wie sie es mit Goethe halten und was sie über Goethe zu sagen haben. Lebt er durch sie weiter? Was erfahren wir über ihn aus Gedichten der Gegenwart, die ihn erwähnen? Und was erfahren wir umgekehrt über die Lyrik der Gegenwart, wenn wir ihre Goethe-Gedichte betrachten?

2. Zunächst soll das 'Material' kurz beschrieben werden, das ich auswerten möchte. Fast 70 Gedichte von deutschen Autoren der Gegenwart, in denen Goethe namentlich erwähnt wird, konnte ich ausfindig machen. Es handelt sich dabei überwiegend um Texte aus jüngeren und jüngsten Publikationen. Ich habe, um den Gegenwartsbezug zu betonen, vor allem, aber nicht ausschließlich solche Gedichte berücksichtigt, die seit 1982, dem letzten "Goethejahr", in Buchpublikationen erschienen sind, wobei das Entstehungsjahr im Einzelfall weiter zurückliegen kann. Unter den Verfassern sind mit Volker Braun, Heinz Czechowski, Robert Gernhardt, Günter Grass, Peter Hacks, Peter Härtling, Rolf Hochhuth, Ernst Jandl, Günter Kunert, Karl Mickel, Heiner Müller, Jürgen Theobaldy, Gabriele Wohmann und Wolf Wondratschek sehr namhafte Autoren, so daß durchaus repräsentative Ergebnisse zu erwarten sind. Zusätzlich zu diesen fast 70 Texten sind mir ganz außerordentlich viele Parodien einzelner Gedichte Goethes begegnet, die ich allerdings hier nur zusammenfassend und exemplarisch berücksichtigen möchte.

Was zunächst die Anzahl der Texte angeht, in denen Goethe erwähnt wird, so ist zu bemerken, daß Autoren wie Hölderlin, Kleist, Heine, Büchner, Brecht und vielleicht sogar Benn in der Lyrik der Gegenwart weit häufiger begegnen als Goethe, wie entsprechende separate Sammlungen bezeugen. Zu Goethe, so könnte man folgern, fällt den Lyrikern der Gegenwart nicht so leicht etwas ein wie zu diesen Autoren; mit ihm können sie sich nicht ohne weiteres identifizieren; er provoziert sie weniger zu lyrischen Reaktionen. Man muß schon sorgfältig recherchieren, um auf entsprechende Texte zu stoßen - und das ist ja auch schon ein Befund: Goethe ist als Gegenstand lyrischer Vergegenwärtigung offensichtlich sperriger als beispielsweise Hölderlin oder Brecht. Symptomatisch scheint mir in dieser Hinsicht Heinz Czechowskis Gedicht "Goethe und Hölderlin" zu sein, in dem es heißt:

Den Acker, den Goethe durchpflügte,
Möcht ich nicht betreten, auch dann nicht,
Wär ich wie Goethe, vielleicht.
Hölderlin aber,
Der dem Wahnsinn verfiel,
Möchte ich sein.

Der Größe Goethes gegenüber verhält man sich reserviert, der arme Hölderlin dagegen weckt Sympathien. Goethe schreckt ab, Hölderlin zieht an. Die überaus zahlreichen Goethe-Parodien stehen zu diesem Befund durchaus nicht im Widerspruch. Im Gegenteil. Sie bezeugen - unerachtet ihrer sonst unterschiedlichen Intentionen - sehr häufig das Vergnügen, das es bereitet, große, geachtete, erhabene Meisterwerke deutscher Sprache in die Niederungen der Trivialität herabzuziehen.

3. Man kann das am Beispiel der Parodien des Gedichts "Über allen Gipfeln ist Ruh" erläutern. Es ist zweifellos das am häufigsten parodierte Gedicht deutscher Sprache, und es ist sicherlich kein Zufall, daß dieses Gedicht zugleich auch das bekannteste Gedicht deutscher Sprache überhaupt ist, das im letzten Goethe-Jahr (1982) sogar offiziell zum "schönsten" deutschen Gedicht gewählt wurde. Als 1978 mein kleines Buch über die Wirkungsgeschichte dieses Gedichtes erschien, schickten mir viele Leser weitere teils spontan selbstgemachte, teils aus der Erinnerung rekapitulierte oder in Büchern aufgefundene Parodien, so daß ich inzwischen über eine riesige Sammlung einschlägiger Parodien von "Wanderers Nachtlied" verfüge. Sie wurde kräftig vermehrt durch Publikationen aus dem Jahre 1982, die weitere Variationen, Anwendungen, Umgangsformen vorzeigten, die diesem Gedicht galten; und sie wurde anschließend fortlaufend reichlich ergänzt durch weitere Fundstücke. Erst in diesen Tagen ist schon wieder ein Buch mit neuen Goethe-Parodien erschienen. Alles in allem kann ich mindestens 300 verschiedene Parodien dieses Gedichts nachweisen.

Natürlich sind solche Parodien aussagekräftige Zeugnisse der anhaltenden Wirkung Goethes. Sie belegen zunächst einmal die andauernde Popularität der Texte, auf die sie sich beziehen und von denen sie leben, auch dann, wenn sie ihren Vorlagen widersprechen oder sie trivialisieren. Sie geben Auskunft darüber, was aus der Überlieferung noch am Leben ist oder nach Auffassung des Parodierenden noch am Leben sein sollte. Sie können ihre eigene Wirkung nur entfalten auf der Basis der Bekanntheit der Vorlage, auf die sie sich beziehen. Nur wenn dem Leser das Ausmaß der Übereinstimmung oder der Abweichung von der Vorlage erkennbar ist, kann die Parodie ihre Wirkung tun. Das führt dazu, daß überwiegend populäre, allgemein bekannte Texte parodiert werden. Parodien nivellieren die Höhenunterschiede zwischen den Meisterwerken und den Machwerken. Sie sind gleichsam die Vehikel einer poetischen Gleichmacherei. "Über allen Gipfeln / macht's 'Muh'".

3.1 Parodien tragen ihrerseits zur weiteren Popularisierung der Bezugstexte bei und wirken damit an ihrem Bekanntheitsgrad mit, den sie noch intensivieren. Es handelt sich um eine Art von umgedrehter Schweige-Spirale: um eine Zeige-Spirale, die einen Multiplikationseffekt besitzt. Einen ähnlichen Effekt bewirken Zitate und Anspielungen, und Parodien sind ja auch nichts anderes als mehr oder weniger intensiv bearbeitete Zitate. Daher sind, wie auch kaum anders zu erwarten, die Grenzen zwischen solchen Gedichten, die einzelne Texte Goethes parodieren, und solchen Gedichten, die über Goethe sprechen, nicht streng zu ziehen, was ja auch nicht nötig ist. Sehr viele Texte, die Goethe thematisieren, bedienen sich verständlicherweise zusätzlich der Zitate bis hin zur Nachahmung einzelner Goethe-Gedichte.

3.3 Die Frage nach der Intention und dem literarischen Wert von Parodien steht letzten Endes hinter allen Versuchen, Theorien oder Systematisierungen der Parodien zu entwickeln. Es gibt dabei einmal um die Machart der Parodie: Wie gehen sie mit der Vorlage um? Wo finden sich Übereinstimmungen (die notwendig sind, um das Werk überhaupt als Parodie zu erkennen) und wo die Abweichungen? Werden lediglich einzelne Wörter oder Buchstaben ausgetauscht, werden Textteile in neue Zusammenhänge gerückt oder wird der gesamte Text im Sinne eines Experiments einer sprachlichen Revision unterzogen? Ist eine Destruktion, eine aggressive Zerstörung der Vorlage intendiert oder eine kritische Analyse, eine Verulkung oder eine Inanspruchnahme für diese oder jene ambitionierte Aussage? - Und es geht zweitens um den thematischen Anwendungsbereich der Parodie. Das Ruhe-Thema ("Warte nur, balde / Ruhest du auch") kann durch die Parodien auf alle möglichen Arten der Stille bezogen werden. Von der Pennälerpoesie ("Über allen Bänken ist Ruh") über die Zecherverse ("Bei allen Zechern spürest du / des Katers Hauch") bis zu politischen Beobachtungen ("Die Raketen lagern im Walde") reicht hier die Skala. In erster Linie werden mit Hilfe von Goethes Gedicht Untergangs- und Todesandrohungen ausgesprochen ("Warte nur, balde, bist aar a Leich"), wobei die unterschiedlichsten Ursachen für diesen zu erwartenden Exitus angeführt werden: Die Vernichtung der Natur, die umgekippten Flüsse und die gestorbenen Wälder, der Straßenverkehr, aber auch der Börsencrash, die militärischen Bedrohungen, die Atomkraftwerke usw. usw. - viel Phantasie ist nicht nötig, um das jeweils Tagesaktuelle mit Goethes Gedicht in Verbindung zu bringen.

Im Hinblick auf die riesige und 'ungeheure' Zahl der Parodien dieses und anderer Gedichte Goethes scheint es mir zwar richtig, wie angeführt, sie als 'Lebensbeweise' der Vorlagen anzusehen; doch sollte man diesen Aspekt der Wirkungsgeschichte auch nicht überbewerten. Für einen großen Teil dieser Parodien ist es überhaupt von keinerlei Belang, daß es Goethe war, der die parodierten Verse niederschrieb. Diese Parodien beziehen ihre Wirkung einzig und allein aus dem Umstand, daß es sich um allgemein bekannte, möglicherweise ehrwürdige Verse eines überaus namhaften Autors handelt. Von dem Leser solcher Parodien wird nicht erwartet, daß sie einen direkten Bezug zu Goethes Text herstellen. Der Bekanntheitsgrad allein, unabhängig von jeglicher Deutung des Goetheschen Textes, ist bereits Legitimationsgrund genug für diese Parodien. Sie funktionieren nicht anders als Werbesprüche, die Goethe für ein bestimmtes Produkt oder eine Firma in Anspruch nehmen. Insofern kann man ihnen durchaus skeptisch oder gar kritisch gegenübertreten. Trotz aller dieser Bedenken möchte ich doch daran festhalten, daß allein schon die Benutzungen der Verse Goethes Zeugnisse dafür sind, daß man sich von der Berufung auf sie Wirkung, Nachdruck, Überzeugungskraft verspricht, selbst dann, wenn man sie lediglich als Aufhänger, zur Verulkung, zum Spaß benutzt. Die Aura, die mit solchen Inanspruchnahmen gleichsam zitiert wird, ist nicht dadurch zu vernichten, daß man sie in den fragwürdigen Kontext einer Spaß- oder Konsumkultur einfügt. Zwar erwecken derartige Benutzungen den Anschein, als könne jedermann jederzeit und zu jedem Zweck über die kulturellen Leistungen der Vergangenheit beliebig verfügen; doch ist es, solange das geschieht, auch jederzeit noch möglich, den Anspruch anzumelden, daß solche Benutzungen der Aura Goethes an qualitative Bedingungen geknüpft sein müssen. Erst wenn niemand mehr von Goethe etwas wissen will und ihn auch nicht mehr zitiert (und sei es zu den banalsten Zwecken), werden alle Versuche vergeblich sein, die Art der Benutzung zu beeinflussen.

4.1. Ein Impuls, der den Parodien abzulesen war, bestimmt offensichtlich auch einen Teil der Gedichte, in denen Goethe nicht parodiert, sondern lyrisch vergegenwärtigt wird. Viele Lyriker der Gegenwart, so läßt sich verallgemeinernd sagen, reagieren gereizt auf Goethe. Sie konfrontieren ihn vorzugsweise mit profanen Situationen. Wie und wo er seine Notdurft verrichtet haben mag (Astel, Czechowski), was mit seiner Hose passierte, als Lieschen sie bügelte (Gernhardt), wie er sich wohl als Bewohner eines Altersheims gefühlt haben würde (Hotz), daß Friederike den Schnupfen hatte, als er sie besuchen wollte - das und derartiges beschäftigt die Phantasie unserer Lyriker nachhaltig. Und mit ebenso profanen Dingen sind sie auch selbst beschäftigt, während sie Goethe in ihren Gedichten nahetreten; da wird "schnell vor goethes / spiegel eine grimasse geschnitten" und in seinem Garten eine Zigarette geraucht (Kling), da werden an seinem Haus die "mit Sisyphuseifer" erneuerten, zotigen Kritzeleien betrachtet (Struzyk) und da wird ein intaktes WC in Weimar gesucht (Czechowski), - andere als solche und ähnliche 'dringende Bedürfnisse' scheinen manche Goethe-Besinger kaum umzutreiben, während sie sich ihm annähern. "O Johann, Wolfgang, / Du törnst mich an!" dichtet Robert Stauffer (immerhin der Vorsitzende des VS in Bayern) im Ton des "Mailieds", um mit den Versen zu schließen "Sei ewig unser, / lass dich lecken!" Diese Vorstellung beherrscht sogar Peter Hacks in seinem Distichon "G.":

Zwar in Wetzlar hat Goethe "Leck mich im Arsch" schon geschrieben,
Aber im ewigen Rom erst, es zu fühlen gewagt.

Angesichts solcher Geschmacklosigkeiten kommt es auf korrekte biographische Details oder genaue Zitate offenbar schon gar nicht mehr an. Hauptsache: die Drastik sitzt.

4.2 Von den Werken Goethes ist in den untersuchten Gedichten vergleichsweise wenig die Rede. Es gibt in den Gedichten einige Anspielungen auf und Zitate aus Goethes Werken, aber die Werkkenntnis ist, generell gesagt, einigermaßen begrenzt, soweit sie in den Gedichten mitgeteilt wird. Erwähnt werden: Stella, Faust, Tasso, Götz, die Harzreise im Winter, die Italienische Reise und einige Gedichte, kein Wilhelm Meister, keine Wahlverwandtschaften, sogar der Werther bleibt unerwähnt.

4.2.1 Als überraschend mag man es demgegenüber empfinden, daß Goethes "Stella", sein "Schauspiel für Liebende", gleich drei Mal in den Gedichten begegnet. Die Geschichte des Bigamisten Fernando, die in der ersten Fassung des Schauspiels in den allseits akzeptierten Vorschlag einer Ehe zu dritt einmündete (die zweite, tödlich endende Fassung ist wohl eher als ein Zugeständnis Goethes an damals herrschende Moralvorstellungen zu werten), scheint ihre provozierende Kraft - aller inzwischen erreichten sexuellen Befreiung zum Trotz - noch nicht ganz verloren zu haben. Trotzdem glaubt wenigstens B.K. Tragelehn offenbar, daß diese Provokation, um noch heute wirksam zu werden, einer drastischen Intensivierung bedarf. In "Fernandos Lied", "Geschrieben nach Jürgen Goschs Schweriner Inszenierung des Stücks", wird das Schwanken Fernandos zwischen seinen beiden Frauen zwar sehr prägnant auf die Formel "Ich und du und du und du" gebracht, zugleich jedoch äußerst vulgär auf das Bild vom "harten Schwanz" und vom "Loch" zugespitzt, das sich allerdings am Ende als das "letzte Loch", also als das Grab erweist. Kaum weniger drastisch fällt Rolf Hochhuths siebenstrophiger "Stella-Dialog" aus, der sich zwar mit einem Motto aus Goethes Drama schmückt - "Jede soll ihn haben, ohne der andern was zu rauben" -, in dem jedoch die Stella-Konstellation geradezu umgedreht wird: Ein "Er" fordert hier eine "Sie" auf, insofern Treue zu bewahren, als sie es zugleich mit ihrem neuen, jungen Liebhaber, dem "Boy", als auch mit dem Alten machen soll, mit dem sie früher "gepennt" hat und der nicht "wie Scheiße vom Schuh" weggewischt werden will. Hochhuths Stella-Dialog versteht sich, wie solche sprachlichen Aktualisierungen und Banalisierungen zeigen, als eine ideologiekritische Revision des Stella-Dramas aus dem Geist einer vermeintlich modernen Auffassung von der Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch gerade aus solcher Sicht ließe sich fragen, ob Goethes Stella-Lösung wirklich dadurch ideologisch zu überflügeln ist, daß die Forderung erhoben wird, eine Frau müsse mehreren Männern zur Verfügung stehen. Wäre das nicht vielmehr ein Rückfall in ein chauvinistisches, an den Wünschen des Mannes orientiertes Denken, das Goethe in seinem Drama gerade abgelöst hat? Auf ganz ähnliche Weise hat Hochhuth übrigens Goethes Gedicht "Besuch" ins Vulgäre umgedreht. Während in Goethes Gedicht beschrieben wird, wie ein Liebender seine schlafende Geliebte aufsucht und sich nicht entschließen kann, sie zu wecken, macht Hochhuth aus dieser Szene ein "Erstes Petting" zwischen einem Lehrbuben und einem Schulmädchen, das an Detailgenauigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Nur als zynisch läßt sich unter solchen Umständen der Titel des Gedichtes bezeichnen: "Erstes Petting oder Volksausgabe von Goethes Besuch", wobei schwer zu entscheiden ist, wer hier mehr beleidigt wird: das 'Volk', dem diese Version von Goethes Gedicht als angemessen zugemutet wird, oder Goethe. - Das dritte Stella-Gedicht - ein kunstgerechtes Sonett - stammt von Heiner Müller.

Stellasonett
Fünf Akte lang, geehrtes Publikum
Haben Sie zugeschaut, wir hoffen, gern
Wie sich zwei Damen drehn um einen Herrn
Bis endlich eins aus drei wird, grad aus krumm
Durch Liebe. Wen das Resultat geniert
Wird auch bedient: Weil schön ist, was sein muß
Schrieb Herr von Goethe einen andern Schluß
Den, wie gewohnt, das Einmaleins regiert.
Was Liebe kann: drei Herzen glühn in eins
Kann Gift und Blei vermittels Substraktion
Mit Schrecken triumphiert der gute Ton
Denn Zahl sticht Herz, das Reich des schönen Scheins
Hat keinen Grund in einem Bürgerhaus
Beruhigt auf zwei Tote schneit Applaus.

Er verfaßte sein Gedicht "für eine Stella-Aufführung in Potsdam, bei der beide Schlüsse gespielt wurden", diejenige also, die skandalöserweise, aber glücklich mit der Ehe zu dritt endet, und diejenige, die dieses Skandalon vermeidet, dafür aber, um die bürgerliche Moral zu retten, tragisch ausgeht. Heiner Müller bringt das in seinem "Stellasonett" auf die bündigen Formeln: "Mit Schrecken triumphiert der gute Ton" und "Beruhigt auf zwei Tote schneit Applaus". Das Sonett rekapituliert nicht nur die beiden unterschiedlichen "Lösungen" des Dramas, die dem Publikum in Potsdam vorgeführt wurden, sondern es deutet auch die Differenz zwischen ihnen als erschreckendes Ergebnis bürgerlicher Kunst- und Moralvorstellungen; "schön ist, was sein muß" - unter diesem ebenso ethischen wie ästhetischen Diktat kommt es notwendigerweise zur Dezimierung (Subtraktion) der Liebenden statt zur Etablierung eines "Reiches des schönen Scheins". Und den Todesfällen, durch "Gift und Blei" herbeigeführt, wird vom bürgerlichen Publikum auch noch applaudiert, womit es in Müllers Sonett zugleich anzeigt, daß es damit einverstanden ist. Die bürgerliche Wertewelt und die Kunstvorstellung sind erst wieder in Ordnung, wenn die herkömmlichen Rechenarten regieren, das Einmaleins und die Subtraktion. Diese Rechenarten hatte die erste Fassung des Dramas außer Kraft gesetzt mit

Hilfe einer unkonventionellen Liebe, durch deren Zauberkraft "eins aus drei wird, grad aus krumm". Für das Publikum aber gilt: "Zahl sticht Herz"; es will von den Zauberwerken aus dem "Reich des schönes Scheins" nicht beunruhigt werden; es besteht überhaupt auf Beruhigung durch die Kunst, selbst um den Preis von "zwei Toten", ja eigentlich zeigt es sich erst dann beruhigt und befriedigt, wie der Applaus beweist.

Zugleich betreibt das Sonett eine subtile Form der Publikumsbeschimpfung; es paßt sich durch die höfliche Anredeform ("geehrtes Publikum") und durch die als strenge Kunstübung anerkannte Form des Sonetts scheinbar den Erwartungen an, auf die ein gebildetes Publikum Anspruch erheben kann. Es sichert sich so selbst den gleichen Applaus der Befriedigung, der das bürgerliche Publikum der Stella-Aufführung charakterisierte und gleichzeitig entlarvte; Applaus für eine Botschaft, die das Publikum eher radikal infragestellt als bestätigt. Müllers "Stellasonett" erweist sich damit als eine außerordentlich weit führende dialektische Auseinandersetzung mit ästhetischen Positionen, die einerseits an den "Stella"-Fassungen Goethes und andererseits an den damaligen und gegenwärtigen Publikumserwartungen an Poesie abgelesen werden.

Die Stella-Gedichte von Tragelehn, Hochhuth und Müller bezeugen - bei aller, auch qualitativen Verschiedenheit - eine Intensität der Beschäftigung mit Goethes Texten, die für die meisten anderen Goethe-Gedichte der Gegenwart durchaus nicht typisch ist. Einzig Yaak Karsunkes Text über Goethes "Tasso" wäre ihnen an die Seite zu stellen. Sicherlich ist es in diesem Zusammenhang kein Zufall, daß diese drei Autoren in erster Linie als Dramatiker bzw. (Tragelehn) als Dramaturgen gearbeitet haben. Sie setzen sich analytisch und deutend mit dem Text Goethes auseinander, pointieren ihn, aktualisieren ihn, hinterfragen ihn, immer unter der Voraussetzung, daß der Text selbst als Folie einer solchen Interpretation durch eine Aufführung oder erneute Lektüre vergegenwärtigt wird.

4.2.2 Lyriker, die nicht zugleich auch Dramatiker sind, beweisen selten ein vergleichbares analytisches Interesse an Goethes Werken. Die Lebensstationen und die Liebschaften Goethes, die Goethestätten und die Accessoirs des Goethekults scheinen ihnen wichtiger zu sein als die Werke Goethes. Sie sprechen eher von ihrem eigenen Gemütszustand und ihrer Befindlichkeit angesichts solcher Goethe-Reminiszenzen als von einzelnen Werken Goethes. Wo das gleichwohl geschieht, wie in Wilhelm Bartschs "Harzreise im Winter. Frei nach Goethe und Grog", handelt es sich auf den ersten Blick um eine übermütige Aneignung der Hymne Goethes aus dem Jahr 1777. Gleichermaßen von Goethes Text und vom genossenen Grog enthusiasmiert, verschafft sich der "Bartschkrakeel" (so nennt er sich selbst am Ende) die Lizenz zur Annäherung an Goethes Hymne bis hin zum wörtlichen Zitat ("die Öde verschlingt ihn"), aber auch zur Abweichung von ihr. Das Prinzip dieser Abweichung ist die Vertauschung von Silben, Wörtern und Satzteilen, so daß ein scheinbarer Unfug herauskommt, wie er wohl der Sprache eines Betrunkenen nahekommen mag:

Einem Schraubkampfhuber gleich,
Der über Sperrland und Niemandsgebiet
Mit herrschenden Fittichen donnernd
Auf Sichrung und Ordenheit achtet,
Liedre mein Kreis!

Der alkoholisiert radebrechende Sprecher kommt, wie man sieht, der militärisch gesicherten Grenze auf gefährliche Weise nahe, und er verbreitet, wie es Betrunkenen nachgesagt wird, lallend und mit Goethe im Bunde Wahrheiten, die man ihm kaum durchgehen lassen würde, müßte man mit seinem klaren Verstand rechnen: "Mit der Hand in der Taube und dem Dach / Auf dem Spatz sind die Reichs-neuen längst / [...] In ihren Sümpfen verdatscht". Die Verkehrung der Wörter ist ein Spiegel verkehrter Verhältnisse, die keineswegs schon dadurch in Ordnung zu bringen sind, daß man die richtige Reihenfolge der Wörter und Silben wiederherstellt. In diesem Sinne trinkt der Trunkene dem Stichwortgeber zu: "Prost sinnender Olymp / Auf dem Goethe!" Mit ihm weiß sich der Abweichler auf saufkumpanhafte Weise im Bunde, unbekümmert darum, ob Goethes Text das erlaubt oder nicht.

4.2.3 Demgegenüber ist Volker Brauns Gedicht "Im Ilmtal" ein ausdrücklicher Widerspruch zu Goethes Gedicht "An den Mond". Ein Widerspruch, der sich vor allem gegen die 5. Strophe der ersten (bzw. die 8. Strophe der zweiten) Fassung richtet: "Selig wer sich vor der Welt / Ohne Haß verschließt, / Einen Mann [Freund] am Busen hält / Und mit dem genießt [...]". Dagegen heißt es bei Braun: "Ich kann nicht leben ohne die Freunde / [...] Und nicht langt mir, nicht ruhig / Macht nun der eine mich; / Nicht glücklich kann ich verschließen / Mich mit ihm vor der Welt". Die Solidarität des Ich mit den Werktätigen ist unverzichtbar für Braun, unentbehrlich. Das Ich definiert sich überhaupt erst durch diese Solidarität mit den Freunden, es gewinnt sein Selbstbewußtsein und sein Selbstwertgefühl erst durch sie, und zwar durch viele, nicht durch einen Einzelnen. Es geht in Brauns Gedicht offensichtlich darum, eine herkömmliche Form der sozialistischen Solidarität, die lediglich durch die befriedigende Mitwirkung des Einzelnen am genossenschaftlichen Projekt der Weltveränderung bestimmt war, durch eine neue Form der Solidarität zu ersetzen, in die der Einzelne seine auch ganz individuellen Empfindungen einbringen kann. Es geht um eine Verbindung von Ich- und Wir-Gefühl, womit zweifellos eine Revision eng ausgelegter sozialistischer Ideologeme verbunden ist. Nicht nur als "Proletarier aller Länder", sondern auch als Individuen sollen sich die Menschen miteinander verbünden. Brauns Widerspruch gegen Goethe aus sozialistischer Sicht wird allerdings erkauft durch eine Reduzierung des Selbstverständnisses des Ich bei Goethe: Braun spricht lediglich von "den Gefühlen" des Einzelnen; seine nicht näher erläuterte Gefühlswelt verdient es und verlangt danach, in das Projekt des "großen Kreises" des Sozialismus einbezogen zu werden. Goethe dagegen hatte vom "Labyrinth der Brust" gesprochen. Daß in der Brust des Einzelnen bereits eine Ausweglosigkeit und unbeendbare Fragwürdigkeit enthalten sein kann, unterschlägt Braun: Aus dem "Labyrinth der Brust" Goethes wird bei ihm die nicht weiter differenzierte "Brust". Goethe, so scheint mir, erweist sich in dieser Konfrontation mit Volker Braun als der weitaus modernere Autor.

4.3 Betrachtet man die gegenwärtigen Goethe-Gedichte daraufhin, wo Goethe aufgesucht wird, welche Personen und Orte es sind, die mit ihm in Verbindung gebracht werden, so ergibt sich: Er wird in erster Linie als Weimaraner gesehen Das Haus am Frauenplan bzw. an der Seifengasse, die nahegelegene Wohnung der Frau von Stein, das Gartenhaus (neuerdings, bei Czechowski, auch das geklonte Gartenhaus), das Theater, das Denkmal der beiden Dioskuren - das sind die Orte, die in den Gedichten mehrfach begegnen. Unter den anderen Lebensstationen Goethes rangiert Sesenheim an erster Stelle. Weiter werden erwähnt: die Geburtsstadt Frankfurt, Wetzlar, wo Goethe als Referendar tätig war, die Reisen nach Italien und in den Harz, Ilmenau natürlich mit dem Kickelhahn wegen "Wanderers Nachtlied", das dort verewigt wurde; schließlich Goethe auf dem Sterbebett, womit wir wieder in Weimar wären.

4.3.1 Schon die Tatsache selbst, daß Goethe in den Gedichten überwiegend als Weimaraner gesehen und kritisch vergegenwärtigt wird, ist sehr bezeichnend. Goethe hat die längste Zeit seines Lebens in Weimar verbracht. Und gerade dieser Zeit wird überwiegend Skepsis, Kritik, Vorbehalt entgegengebracht. Insofern ist es durchaus eine pauschale Kritik, die von Lyrikern an Goethe geübt wird. Vorbehaltlose Bewunderer des Weimarer Goethe gibt es kaum. Gabriele Eckart preist zwar anläßlich eines Besuchs des Goethehauses in Weimar den "Begnadeten", doch sie tut es äußerst "zögernd", ja unbeholfen, und der Hexameter, den sie als "dein Versmaß Begnadeter", bezeichnet und wählt, stimmt hinten und vorne nicht.

Der klassische Weimaraner Goethe ist auch das bevorzugte Sujet in den Goethe-Gedichten von Günter Kunert. In wenigstens acht Gedichten Kunerts treffen wir Goethe namentlich an. Kein Lyriker der Gegenwart zitiert ihn öfter. Ich nenne hier nur einige der entsprechenden Gedichttitel: "Begegnung am Frauenplan", "Besuch in Weimar", "Goethes gedenkend", "Goethe, stark verbessert", "Unter allen Wipfeln", "Faust III", "Mehr Licht". "Kunert und Goethe" oder "Kunerts Goethe-Rezeption" - das wäre, sollte jemand ein noch unbearbeitetes Thema suchen, sicherlich vielversprechend. Das will ich hier nicht vorwegnehmen. Stattdessen möchte ich exemplarisch auf nur einen dieser Texte kurz eingehen, der sich unter dem Titel "Mehr Licht" auf Goethes Tod bezieht.

"Mehr Licht"
Das Gesicht zur Wand gekehrt
Goethe auf dem Sterbebett
Man hört nur das Kratzen
der Fingernägel
die Suche nach dem geheimen Türgriff
in eine Künftigkeit
die dunkler sein wird
als wäre ich dabei gewesen

"Mehr Licht" - das sind ja angeblich die letzten Worte Goethes gewesen, und man hat sie, wie es sich gehört, weitausgreifend gedeutet als Goethes Vermächtnis, als die Summe seiner Existenz. In seiner Todesstunde erblickt Goethe visionär für die Zukunft das, woran er selbst sein Leben lang mitgewirkt hat: Mehr Licht, mehr Lebenszugewandtheit, mehr Aufklärung, auch - religiös interpretiert - mehr Gnade. So die optimistischen Deutungen dieser letzten, legendären Worte Goethes. In Kunerts Text begegnet dieses vielsagende Zitat nur im Titel. Goethe spricht die Worte nicht wirklich aus. Es heißt: "Man hört nur das Kratzen / der Fingernägel / die Suche nach dem geheimen Türgriff / in eine Künftigkeit / die dunkler sein wird". Goethe verkündet hier nichts, er ist kein Visionär, sondern er ist wortlos auf der Suche. Es gibt keinen Halt für ihn, keine Sicherheit, keinen "Türgriff" angesichts der "Künftigkeit / die dunkler sein wird". Die optimistische Deutung der letzten Worte Goethes wird in ihr Gegenteil verkehrt. Unweigerlich brechen die finsteren Zeiten an nach seinem Tod. Vergeblichkeit, Kulturpessimismus breiten sich aus. Und dann folgt - als Clou des Gedichtes, abgesetzt vom übrigen Text - die Schlußzeile: "als wäre ich dabei gewesen". Offensichtlich eine ironische Bemerkung des Berichterstatters über Goethes Sterbestunde, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal als Selbstinfragestellung, als Infragestellung der Authentizität der Berichterstattung: Ich tue hier ja gerade so, "als wäre ich dabei gewesen", wovon ja in Wirklichkeit überhaupt nicht die Rede sein kann; und zweitens als Kommentar der dunklen, pessimistischen Deutung der letzten Worte Goethes: der Blick in die finsteren künftigen Zeiten ist nicht Goethe selbst, sondern vor allem seinem Interpreten anzulasten: "als wäre ich dabei gewesen". Ich bin es, Zeitgenosse der nachgoetheschen finsteren Zeiten, der seinen letzten legendären Worten diese düstere Deutung gibt.

Das Gedicht ist sehr bezeichnend für Kunerts Umgang mit Goethe. Immer wieder betont er ausdrücklich die Differenz der Zeiten zwischen Goethes und unserer Zeit. Er betreibt keine Aktualisierung Goethes, sondern eher eine Konfrontation mit ihm. "Goethe / und Schiller halten einander / an den Händen fest / angesichts ihrer Nachkommenschaften", heißt es in dem Gedicht "Besuch in Weimar". Stets wird Goethe darüber hinaus bei Kunert mit wörtlichen Zitaten aus seinen Werken, besonders aus seinem Spätwerk, vergegenwärtigt, wobei diese Zitate freilich neu gedeutet und umgedeutet werden. Weder leichtfertige Disqualifikation noch eilfertige Zustimmung kennzeichnen Kunerts Umgang mit Goethe. Er bringt ihm vielmehr historisches Verständnis und zugleich Distanz entgegen. Respekt und Kritik ergänzen einander. "Noch hast du nicht zu enden angefangen", bescheinigt er ihm in dem Gedicht "Goethes gedenkend".

4.3.2 Nach Weimar rangiert Sesenheim als beliebter Ort der lyrischen Vergegenwärtigung Goethes an zweiter Stelle. Sesenheim wird in den Gedichten von Wissenden und für Wissende als erinnerungsträchtiger, geweihter Ort aufgesucht. Das Gedicht von Karl Hotz ist geradezu mit "Wallfahrt" überschrieben. Wem die "Wallfahrt nach Sesenheim" gilt, muß gar nicht erst gesagt werden: Der Name Goethes begegnet in keinem der Sesenheim-Gedichte, und in Jan Koneffkes Gedicht wird nicht einmal der Ortsname genannt, dafür aber derjenige Friederikens. Franz Liebl deutet Friederike Brion in seiner "Sesenheimer Elegie" gewissermaßen als Goethes erotische Ur-Erfahrung, als deren bloße Varianten die späteren Frauengestalten in Goethes Leben und Werk erscheinen: Bettine von Arnim, Ulrike von Levetzow, das Gretchen und die römische Faustina. Bei Karl Hotz drängt sich die Gegenwart in Gestalt eines Hubschraubers lautstark in den Vordergrund, das Vergangene wird resümierend zur Kenntnis genommen: vom "berühmten Gasthof" ist die Rede, vom "alten Genie" (dabei war Goethe jung, damals), von der "Scheune (bestens erhalten)", und "am kleinen Gedenkhaus" gehen die Besucher ganz vorbei: Sie wissen schon alles, schauen sich, verständnisinnig, an und lassen sich auf die Geschichte nicht wirklich ein:

Wallfahrt nach Sesenheim

Wo man rechts von der Haupt-
straße abbiegt, verhält der
große Vogel neben dem Wagen
Schatten über den Scheiben
wir hören die schweren lang
anhaltenden Schläge er schraubt
sich hoch jäh bricht er aus
und davon -

Wir essen im berühmten Gast-
hof am Platze im Nebenzimmer
Verstreutes vom alten Genie
neben der Scheune (bestens
erhalten) der Pfarrhof

Später spazieren wir heiter
am kleinen Gedenkhaus vorbei
lächeln verständig uns an
und schaun (wie auf Befehl)
nach Straßburg hinüber

Ganz anders bei Koneffke:

Hunde scharren im Hof
als könnte die Erde erzählen

als schlüge noch immer sein Rock
übers Haus das Herz auf der Kammer
als kämen noch Wolken vom Rhein
vor die Scheune tanzten am Abend
als stürzte noch Obst immersüßes
hinab in den Schoß seiner Liebsten
als gäbe er wieder und wieder
die flüchtigsten Worte: der Dichter

ist gut schon gut
Friederike im Hof
beruhigt die Hunde

Hier wird nicht das bereits Berühmte und Restaurierte aufgesucht (oder umgangen), sondern das eher Private, Intime als das "immer noch", "noch", "wieder und wieder" Bleibende angesehen. In dem fünf Mal hypothetisch verwendeten "als" im Sinne von "als ob" wird das Gegenwärtige so wahrgenommen, als wäre es identisch mit dem Vergangenen, womit zugleich gesagt ist, daß es sich so nicht verhält. Goethes "Rock", sein "Herz", die "Kammer" Friederikes, die "Wolken vom Rhein", die "Scheune", das fallende "Obst" und der "Schoß seiner Liebsten" sind durch Imagination gegenwärtig und sie sind doch eben nur durch die Imagination gegenwärtig. Die Differenz der Zeiten wird auf diese Weise zugleich schmerzlich bewußt gemacht und aufgehoben. Am Ende sieht sich die elegische Vergegenwärtigungs-Phantasietätigkeit des Sesenheim-Besuchers belohnt durch die tatsächliche, unzweifelhafte Anwesenheit der Friederike. Sie "beruhigt die Hunde": Der Besucher ist angekommen und er ist willkommen. Nicht die markanten Ereignisse, sondern gerade die "flüchtigsten Worte" des Dichters leisten hier die Vergegenwärtigung des Vergangenen.

4.4 Zu sprechen ist schließlich von solchen Gedichten, die Goethe weder durch Zitate noch durch Rekapitulation historischer Lebenssituationen oder durch Ortsbesichtigungen seiner Wirkungsstätten, weder durch Werkdeutungen noch durch Parodien thematisieren, sondern die ihn in fiktive, meist aktuelle Situationen versetzen. Goethe als Kommentator der Frankfurter Buchmesse (Hans Weigel), Goethe im Altersheim (Hotz), Goethe beim Flirten mit einem Milchmädchen, gegrüßt von Arno Schmidt (Beat Brechbühl), Goethe als Beifahrer einer Autofahrt (Theobaldy) - das sind beispielhafte Sujets solcher Gedichte. Sie bieten die Gelegenheit zu überprüfen, ob und wie Goethe nach Auffassung heutiger Lyriker unserer Gegenwart standhält. Wenn er (in Weigels Gedicht) angesichts der Buchmesse aufgrund des Medienspektakels und der Geschäftemacherei, die dort herrschen, den Tod der Poesie in einem ärmlichen Eckchen konstatiert, so ist solche Inanspruchnahme Goethes gegen alle Äußerlichkeiten zwar gut gemeint und sogar beherzigenswert, doch bleibt sie selbst äußerlich. Goethe war bekanntlich kein schlechter Geschäftsmann, wenn es um die Vermarktung seiner Poesien ging. Die These von einer puren Unvereinbarkeit von Markt und Medien mit der Poesie fände in ihm sicherlich keinen Verteidiger. - Als Bewohner eines Altersheims wird Goethe in Karls Hotz' Gedicht offensichtlich aus der Sicht eines Mitarbeiters als ein wenig nachlässig, jedoch eitel und sehr reinlich geschildert; für seine Sammlungen hat man im Altersheim keinerlei Verständnis, so daß ihm die Hausordnung in Erinnerung gebracht werden muß. Außer dem Hinweis auf die Charaktermerkmale Goethes enthält das Gedicht allerdings wenig Nachdenkenswertes; möglicherweise regt es dazu an, über die ökonomischen und sozialen Bedingungen von Goethes Alters-Existenz im Haus am Frauenplan zu reflektieren.

Unter den Gedichten, die Goethe in fiktive Situationen stellen, scheint mir der etwas ältere, aus dem Jahr 1973 stammende Text "Abenteuer mit Dichtung" von Jürgen Theobaldy der weitaus schönste zu sein.

Abenteuer mit Dichtung

Als ich Goethe ermunterte einzusteigen
war er sofort dabei
Während wir fuhren
wollte er alles ganz genau wissen
ich ließ ihn mal Gas geben
und er brüllte: "Ins Freie!"
und trommelte auf das Armaturenbrett
Ich drehte das Radio voll auf
er langte vorn herum
brach den Scheibenwischer ab
und dann rasten wir durch das Dorf
über den Steg und in den Acker
wo wir uns lachend und schreiend
aus der Karre wälzten

Respektlos und selbstbewußt setzt das Gedicht ein: Das Ich rangiert noch vor Goethe, der sich als Beifahrer einigermaßen desorientiert und täppisch verhält, während der Sprecher seinem berühmten Mitfahrer gegenüber seine Routine im Umgang mit der seit Goethe fortgeschrittenen Technik stolz und überlegen ausspielen kann. Aber alles andere als eine Klassiker-Demontage, ein Sturz vom Sockel ist hier offensichtlich intendiert. Goethe folgt spontan der Einladung zum Mitfahren, neugierig und wißbegierig erkundigt er sich nach allen Funktionen des Gefährts und probiert sie risikobereit selbst aus; mit motorischer Begeisterung genießt er das befreiende und mitreißende Gefühl von Geschwindigkeit und Lautstärke. Dieser Goethe erweist sich bei der gemeinsam unternommenen Autofahrt gerade nicht als ein regungsloses Denkmal, sondern als ein höchst lebendiger, übermütiger Gefährte. Das sichert ihm die Sympathie des Berichterstatters. Mit diesem Goethe kann er sich identifizieren und am Ende sogar verbrüdern. Sein Gedicht - selbst zwanglos formuliert, ohne einengende Reime und begrenzende Strophengliederung - stellt den Vorgang, der zu dieser Verbrüderung führt, als eine abenteuerliche Befreiungsbewegung dar. Gegen alle Etikette, gegen gesellschaftliche Zwänge und spießbürgerliche Rücksichten drängt es Goethe hinaus "Ins Freie". Aus der Kerkerszene des "Faust" stammt bezeichnenderweise dieses Zitat, und es signalisiert die Bereitschaft zu unbedingter Selbsterfahrung. Die Wegstrecke selbst, die Richtung "Ins Freie", hat Vorrang vor jedem denkbaren Fahrtziel. Das gemeinsam bestandene Abenteuer wird unter solchen Umständen zu einem Abenteuer der Erfahrung der eigenen Subjektivität, und in ihrem Zeichen kommt es am Ende zur Verbrüderung der gleichgesinnten Jugendlichen. Mit "Dichtung" hat dieses Abenteuer insofern etwas zu tun, als Goethes Verhaltensweise für den Berichterstatter offensichtlich diejenigen Qualitäten demonstriert, die eine junge, subjektive Poesie seiner Auffassung haben sollte: Umstandslos spontan soll sie sein und auf Neues aus, lebenszugewandt, lustbetont und freiheitsoffen, also undogmatisch. Die Verbrüderung mit Goethe enthält das Bekenntnis zu einer solchen Dichtung. Goethe - natürlich der junge Goethe, der rebellische Stürmer und Dränger, nicht der gesetzte herzogliche Geheimrat - wird hier bedenkenlos für das Programm der Neuen Subjektivität der Siebziger Jahre in Anspruch genommen, als deren Exponent in Theorie und Praxis Jürgen Theobaldy gilt.

Theobaldys Gedicht ist eine Ausnahme-Erscheinung unter den Gedichten der Gegenwart, die Goethe vergegenwärtigen. Im Rückblick auf diese Texte muß man sagen: In den Gedichten, die Goethe thematisieren, herrscht insgesamt der voyeuristische, sexistische, touristische und populistische Blick auf Goethe durchaus vor. Die Lyriker bemerken an dem Phänomen Goethe überwiegend das, was jedem oberflächlichen Blick auch ohne sie zugänglich wäre: die Liebesaffären, die Goethestätten, die Kraftausdrücke. Sie genießen es sichtlich, Goethe zu trivialisieren und zu banalisieren. Diese Reaktion auf die vermeintliche Unnahbarkeit Goethes ist auch durchaus begreiflich und wäre sogar zu legitimieren, wenn man unterstellte, daß Goethe auf diese Weise in die gegenwärtige Lebenswirklichkeit zurückgebracht werden soll. Doch ist solcher Annäherung entgegenzuhalten, daß dieser Goethe, der banale und triviale Goethe, ohnehin am Leben ist und keiner Wiederbelebung bedarf. Hier werden nur Klischees, Stereotypen, Vorurteile eilfertig bedient. Was überhaupt bemerkt, beobachtet, kommentiert wird, ist überwiegend das, was auch ohne solche Gedichte bereits im allgemeinen Bewußtsein ist: Immer wieder Weimar und das Gartenhäuschen, Sesenheim, Gingo biloba, die Liebschaften. Nichts dagegen über Goethes naturwissenschaftliches Denken, nichts über den Bergbau, über seine Romane, über die Antike-Rezeption, über seine Erneuerungen und Verjüngungen, besonders diejenigen des Alterswerkes, das nach wie vor eine terra incognita bleibt. Goethe wird überwiegend als klassischer Weimaraner gesehen und als solcher kritisch betrachtet. Die Entmythologisierungen dieser Klassizität, die doch bereits selbst zum Ritus erstarrt sind, herrschen immer noch vor. Sie erfolgen durch die Konfrontation des Klassikers bzw. Olympiers mit profanen Situationen. Den "Geheimrat" vermag kaum ein Gegenwartslyriker seinem Goethe zu verzeihen. Dem vorklassischen Leben und Werk Goethes wird demgegenüber deutlich Sympathie entgegengebracht. Der Sturm und Drang wird gegen die Klassik ausgespielt. Das Biographische rangiert eindeutig vor dem Werk. Die interessantesten Begegnungen mit Goethe und seinem Werk ergeben sich dort, wo entweder eine dezidierte Auseinandersetzung mit einzelnen seiner Werke stattfindet (Stella, Harzreise im Winter) oder wo völlig fiktive Situationen entworfen werden (Theobaldy).

Läßt das einen Rückschluß auf die Lyrik heute zu? Daß nur wenige Gedichte eine wirklich produktive Rezeption Goethes erkennen lassen - und diese wenigen guten, die neuartigen, die nachdenkenswerten Gedichte habe ich hier in den Vordergrund gestellt - das kann eigentlich nicht überraschen. Es wird immer mehr schlechte als gute Gedichte geben. Aber die Gründe dafür, daß es sich so verhält, lassen sich am Beispiel der gegenwärtigen Goethe-Gedichte doch recht deutlich erkennen: Die Lyriker geben sich mit ihren Gegenständen (in unserm Fall ist der "Gegenstand" Goethe) zu wenig Mühe. Sie verschaffen sich zu wenig Sachkenntnis, sie begnügen sich mit dem, was man auch ohne neue Gedichte jederzeit und überall über diesen Gegenstand erfahren kann; ja mehr noch, sie rücken ihn in solche trivialen Zusammenhänge, die die Eigenart, die Besonderheit dieses Gegenstandes eher verbergen als enthüllen. Die Lyrik tritt allzu oft in Konkurrenz zur Zote, zum ungeformten Alltagsgeschwätz, zum Halbwissen, statt ihre Möglichkeit wahrzunehmen, ihren Gegenständen aus kompetenter Kenntnis ungeläufige Aspekte abzugewinnen und sie in neuartige Situationen zu stellen. Bloße Befindlichkeitsbekundungen angesichts Goethes und mehr oder weniger freche Witzeleien oder Obszönitäten können das nicht leisten. Goethe als Herausforderung der eigenen Produktivität ist noch längst nicht ausgeschöpft.