Eine streitbare Volksschriftstellerin

Zum Tod von Luise Rinser

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Luise Rinser ist am 17. März im Alter von neunzig Jahren gestorben. Sie war eine erfolgreiche Schriftstellerin und eine ehrenwerte Frau. Mehr als dreißig Bücher hat sie geschrieben: Erzählungen, Romane, Essays, immer wieder Tagebücher und auch eine Autobiographie. Vieles davon ist in hohen Auflagen gedruckt und einiges in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden. Mit Simone de Beauvoir sicher eher vergleichbar als mit Simmel, sah sie sich in Frankreich noch mehr anerkannt als in Deutschland. Und in Nordkorea, über das sie einen Reisebericht verfasst hat, soll zeitweilig kein ausländischer Autor mehr gelesen worden sein als diese Autorin.

Über ihre Wirkung hat die beliebte und bereitwillige Gesprächspartnerin einmal in einem Interview zutreffend gesagt, sie sei weniger auf einzelne Bücher als auf ihre Gesamtpersönlichkeit zurückzuführen. Eine „Persönlichkeit“ von Format war Luise Rinser ohne Zweifel. 1984 trugen ihr die Grünen die Kandidatur für das Amt der Bundespräsidentschaft an. Die moralische und politische Glaubwürdigkeit, die sie bei ihrer großen Lesergemeinde genoss, verdankte sie (trotz eines begeisterten Hitler-Gedichts, das sie in noch sehr jungen Jahren geschrieben hatte) nicht zuletzt ihrer lebensgefährlich kritischen Haltung im Dritten Reich. Von ehemaligen Freunden denunziert, wurde die Nazi-Gegnerin im Herbst 1944 verhaftet. Die Monate im Frauengefängnis Traunstein beschreibt das zunächst auf Papierfetzen notierte, dann ausgearbeitete und 1946 veröffentlichte „Gefängnistagebuch“.

Die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, die religiöse Erziehung im katholisch-barocken Provinzmilieu Oberbayerns und die reformpädagogischen Anregungen während ihres Lehrerstudiums haben ihr späteres Werk nachhaltig geprägt. Aus der jungen Pädagogin mit dichterischen Neigungen wurde eine Dichterin mit starken pädagogischen Impulsen; aus der Volksschullehrerin eine Volksschriftstellerin, die es verstand, einem breiten Publikum moraltheologische Lebenshilfe, politische Aufklärung und karitatives Engagement in Form von geschickt komponierten, allgemeinverständlich geschriebenen, oft spannenden und immer gefühlsreichen Geschichten anzubieten. In ihnen gibt es noch die bei modernen Autoren so selten gewordenen positiven Helden, mit denen man sich gerne identifiziert und von denen man etwas Vorbildliches lernen soll.

Rinsers erster großer literarischer Erfolg war der Roman „Mitte des Lebens“ (1950). Für den Autor dieses Nachrufs gehörte er zu jenen Büchern, die ihn in jungen Jahren stark beeindruckt und in die Erwachsenenliteratur eingeführt haben. Dafür bleibt er, allen später aufkommenden Zweifeln gegenüber dem Gelesenen zum Trotz, dankbar. Nina, deren bewegten Lebensweg der Roman nachzeichnet (über deren autobiographische Komponenten berichtet 1982 Rinsers Autobiographie „Den Wolf umarmen“), setzt sich für politisch Verfolgte des Hitler-Regimes ein. Doch ist sie nicht nur edel, hilfreich und mutig, sondern hochintelligent und emanzipiert obendrein. Alle lieben sie, doch sie liebt nur einen. Und auf den verzichtet sie (zunächst), denn er ist verheiratet. Nina führt ein an Leiden und Leidenschaften derart reiches Leben, dass sie zwangsläufig außerhalb jeder normalen, satt zufriedenen bürgerlichen Ordnung steht.

Die ist der Autorin auch nicht sonderlich sympathisch. Ihre Liebe gilt den Rebellen, den Verfolgten oder Gefangenen, den Heimatlosen und Hilfsbedürftigen, den Schwermütigen und Schwachen. Viele ihrer Helden lassen eine komfortabel gesicherte Existenz hinter sich: In dem Roman „Daniela“ (1953) verlässt die Tochter eines hohen Beamten ihr Elternhaus, den reichen Verlobten und die angenehme Stelle an einem städtischen Gymnasium, um als Volksschullehrerin in einem abgelegenen Moordorf den Kampf gegen Schmutz und Sünde aufzunehmen. Gegen Ende des mit vielfältigen Entsagungsmotiven durchsetzen Romans „Die vollkommene Freude“ (1962) kehrt die verstoßene Heldin der herrschaftlichen Villa ihres Mannes den Rücken und hilft den Kranken und Armen. In einen jugendlichen Aussteiger der siebziger Jahre schließlich hat Luise Rinser in der fiktiven Reportage „Bruder Feuer“ (1975) die historische Figur des heiligen Franziskus umgewandelt.

Im Vorwort zu diesem Buch zitiert sie die Antwort eines Franziskaners auf ihre Frage, was der heilige Franziskus wohl wäre, wenn er heute lebte: „Er wäre Journalist und schriebe über alle Nöte der Unterdrückten, wo auch immer, oder er wäre Armenanwalt; auf jeden Fall stünde er mitten im Leben und wäre voller Mitleid und Tatkraft.“ Diese Charakteristik entspricht auch ihrem Selbstverständnis. Nie hat sie sich, um zu dichten, vom Leben zurückgezogen, und ihre soziale Tatkraft reichte über die literarische Arbeit stets hinaus.

Als Wahlhelferin der SPD, als Verfasserin unbequemer Briefe an Repräsentanten der Kirche und des Staates, als Unterzeichnerin pazifistischer Aufrufe und politischer Proteste gegen die Verletzung der Menschenrechte in Ost und West, als Vortragsreisende oder Artikelschreiberin für Illustrierte hat sie unermüdlich öffentlich Stellung bezogen. Und auch auf die privaten Kümmernisse einzelner Leser ging sie seelsorgerisch ein. Sie suchte den Dialog mit ihnen, forderte sie auf, ihr zu schreiben, und nahm sich viel Zeit, die täglich eingehenden Briefe zu beantworten.

In ihren späten Essays, Reise- und auch Tagebüchern rückte die etliche Jahre in der Nähe von Rom lebende Schriftstellerin als Berichterstatterin und Kommentatorin aktueller Zeitereignisse und Probleme dem Journalismus nahe. Auf den Ölschock von 1973/74 reagierte sie mit der Schrift „Wie, wenn wir ärmer würden“, und über die Revolution im Iran, die sie zugleich eine „große Idee“ und einen „großen Irrtum“ nannte, schrieb sie das Buch „Khomeini und der islamische Gottesstaat“.

1974 berichtete Luise Rinser über ihre Erfahrungen auf einer indonesischen Leprainsel, über die Heilungschancen und Behandlungsmethoden dieser in Europa fast vergessenen Seuche, nicht zuletzt auch über ihre eigenen Erfolge als Pflegerin. So viel praktizierte Nächstenliebe war gewiss bewundernswert. Etwas befremdend freilich – nicht nur an dieser Schrift – wirkte die Art, wie die Autorin der Öffentlichkeit ihre eigenen Qualitäten vor Augen führte. Sie zeigte sich ebenso edel und hilfreich wie die Helden ihrer halbautobiographischen Romane, und sie ließ uns das nicht ungern wissen. So glich sie zuweilen jenem scheinbar selbstlosen Armenanwalt in Albert Camus‘ Erzählung „Der Fall“, der nach einer guten Tat den Hut lüftet – als beifallheischende Verbeugung vor den Zuschauern.

Luise Rinser hatte viele Freunde, doch auch Kritiker und Feinde. Zu den harmlosen gehörten die Rezensenten: Sie sind mit ihr meist nicht zufrieden gewesen und sie nicht mit ihnen. Mit einigem Recht haben sie ihr wiederholt vorgehalten, dass ihr literarisches Können unter ihren moral- und religionspädagogischen Anstrengungen zu leiden habe und daß sie in ihrer manchmal kolportageartigen Schreibweise den Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums allzu leichtfertig entspreche. – In der Tat erschienen ihre Dichtungen dort am ehesten geglückt, wo sie ohne gedankenreiche Sentenzen, breite psychologische Erläuterungen und gefühlvolles Pathos knapp und nüchtern beschreiben. Die Nachkriegserzählung „Jan Lobel aus Warschau“ ist hierfür ein Beispiel.

Verbitterter als auf die Literaturkritik hat Luise Rinser auf die weit weniger harmlosen politischen Anfeindungen reagiert, denen sie sich im Herbst 1977 ausgesetzt sah. Eine Münchener Illustrierte hatte sie in absurder Weise den „Sympathisanten“ des Terrorismus zugerechnet und damit eine Diffamierungskampagne eingeleitet, an der sich maßgeblich auch einige schwäbische Lokalpolitiker beteiligten. Die christliche Sozialistin konnte sich rehabilitieren. Gewalt als politisches Mittel hatte sie in ihrem Werk stets abgelehnt. Die Mitleidsfähigkeit jedoch auch gegenüber Gewalttätern hat sie sich bewahrt.

Das Etikett „katholische Sozialistin“, das man der schon seit ihrer Jugend eigenwilligen und rebellischen Luise Rinser anzuhängen pflegt, ließe sich nach Lektüre der Autobiographie „Ein Wolf umarmen“ vorsichtig überprüfen. Die Dichter und Philosophen, die sie in ihrer ersten Lebenshälfte gelesen und bewundert hat (übrigens kaum ein „Moderner“ unter ihnen), stehen aller sozialistischen Theorie und Praxis fern. Und ihr Katholizismus erscheint in diesem Buch nur als ein Teil umfassenderer mystischer Neigungen, sinnlicher und ästhetischer Bedürfnisse. „Der Urgrund meines Glaubens ist mystischer Natur“, bekennt sie. So verwundert es nicht so sehr, daß sich ihr christlicher Glaube durchaus mit ihren Sympathien für fernöstliche Religiosität, für meditative und magische Praktiken sowie astrologische Charakterbestimmungen verträgt.

Ein zentraler Begriff ihres Denkens ist der des „Lebens“, das es in all seinen Polaritäten zu bejahen gelte, letztlich auch in seinen Erscheinungen des „Bösen“, ohne welches das „Gute“ nicht vorstellbar sei. Nicht nur damit stand sie jenem Autor nahe, den sie lange außerordentlich verehrte: Hermann Hesse. Und viele von denen, die zeitweilig von Hesse begeistert waren, gehörten denn auch der Rinser-Gemeinde an.