Archäologischer Krimi

Zwei Einführungen in die Kontroversen der Troia-Forschung

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Wissenschaftler streiten, kann es mitunter hoch hergehen. Die Auseinandersetzung um die Grabungsergebnisse Manfred Korfmanns auf dem türkischen Hügel Hisarlik an der Eingangspassage zum Schwarzen Meer, die im vergangenen Sommer die Medien beschäftigt hat, ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Wenig schmeichelhaft als "Däniken der Archäologie" titulierte der Althistoriker Frank Kolb seinen Tübinger Kollegen Korfmann und warf diesem "Irreführung der Öffentlichkeit" vor. Es ging - wieder einmal - um das sagenumwobene Troia. In einer großen Ausstellung hatte Korfmann in drei deutschen Städten die Resultate seiner Grabungen präsentiert. Aufsehen erregten dabei vor allem Funde, die eine Übereinstimmung der Grabungsergebnisse mit den entsprechenden Beschreibungen in der "Ilias" nahelegten, wie Korfmann im Ausstellungskatalog schrieb. Der Nachweis eines "historischen Kerns" von Homers Versepos schien endlich in greifbare Nähe gerückt. Zumindest bis sich Widerstand gegen Korfmanns Beweisführung regte. Der öffentliche und bisweilen niveaulose Schlagabtausch ist inzwischen abgeklungen. Der interessierte Laie allerdings ist nun so klug als wie zuvor. Was ist dran an der Kritik der aktuellen Grabungen Korfmanns in Troia? Wurde Korfmann Unrecht getan? Oder hat dieser wirklich vorschnelle Schlussfolgerungen aus seinen Funden gezogen?

Wissenschaft scheint beinahe zur Glaubensfrage zu werden. Auch ein Troia-Symposium an der Universität Tübingen, bei dem Mitte Februar dieses Jahres alle Beteiligten noch einmal ihre Positionen und Ergebnisse vortragen konnten, hat diesen Eindruck erhärtet. "Die Fazits hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können. Während Peter Jablonka oder etwa der Göttinger Althistoriker Gustav Adolf Lehmann die Gemeinsamkeiten betonten, die bei der Tagung herausgearbeitet worden seien, blieben Manfred Korfmann und Frank Kolb unverrückbar und sahen sich jeweils durch die Ergebnisse der Konferenz in ihrer Ansicht gestützt", zog die Presse Bilanz.

Etwas Licht ins Dunkel der Troia-Forschung versuchen nun auch zwei kleine Einführungsbände zu bringen, die beide noch vor dem Streit geschrieben wurden. Das Spannende hierbei: während im Reclam Verlag die Ergebnisse des Tübinger Prähistorikers euphorisch feiert, meldet sich in der Reihe "Wissen" des C.H. Beck Verlags just ein Kritiker der Thesen Korfmanns zu Wort. Das fordert einen Vergleich der beiden Büchlein geradezu heraus.

Unumstritten ist und bestätigt wurde durch die Debatte: Bis heute hat die "Ilias" Homers, das erste uns erhalten gebliebene Stück abendländischer Weltliteratur, nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Die Geschichte von Achilleus' Zorn und dem erbitterten Kampf um die Stadt Troia beschäftigte und inspirierte bis in die Gegenwart unzählige Forscher, Dichter, Künstler und Komponisten. Das beginnt nicht erst bei Vergils "Aeneis" und hört auch nicht bei Christa Wolfs "Kassandra" auf. "Mythos oder Historie?" lautet stets die Frage, die die Wissenschaftler bewegt. Der Archäologe und F.A.Z.-Redakteur Michael Siebler beantwortet nun im Reclam-Bändchen "Troia. Mythos und Wirklichkeit" diese Frage aufgrund der Ergebnisse Korfmanns. Der Troia-Mythos von der Antike bis zur Neuzeit und die Geschichte der verschiedenen Grabungen finden bei Siebler dabei ebenso Raum wie die Rezeption Homers, die Anfänge der Schrift und schließlich die Ruhmsucht des "Troia-Entdeckers" Heinrich Schliemanns. Augenfälligster Verdienst Sieblers ist es nicht, Korfmanns Grabungsergebnisse zu referieren, vielmehr liefert er einen wirklich spannend zu lesenden Überblick über das Thema. Angesichts des ansprechenden Stils des Journalisitik-Profis Siebler gerät Dieter Hertels Einführung "Troia. Archäologie, Geschichte, Mythos" zumindest formal ins Hintertreffen. Der Professor für Klassische Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München schreibt zwar für einen Wissenschaftler erfreulich verständlich. Doch erscheint seine Darstellung, ebenfalls mit Rekursen auf Mythos und Rezeption (allerdings nicht auf Schliemanns Grabungen), wesentlich trockener. Die Geschichte um die sagenumwobene Stadt des Königs Priamos entfaltet bei Hertel nicht annähernd die Faszination wie in Sieblers Schilderung. Freilich lässt sich jedoch die detaillierte Erörterung der einzelnen Grabungsfunde zu des Professors Gunsten anführen. Bei Hertel werden die zahlreichen Fakten wesentlich akribischer und auch umfassender dargelegt: Holzarten, Keramikfunde, bautechnische Besonderheiten, Bauphasen und Befestigungsanlagen werden ausführlich beschrieben und so die Schlussfolgerungen der Wissenschaftler aus den einzelnen Funden für den Laien transparent gemacht. Und um die ging ja schließlich der Streit. Was also erfährt der Leser darüber?

Regelrecht Revolutionäres berichtet Siebler über die aktuellen Grabungsergebnisse Manfred Korfmanns. Der Tübinger Prähistoriker hatte sich 1988 aufgemacht, um nach jahrzehntelanger Ruhe mit einem internationalen Grabungsteam erneut auf dem Hügel Hisarlik den Spaten anzusetzen. Alle Fragen zu den historischen Inhalten von Homers Epos habe Korfmann dabei ursprünglich bewusst ausgeblendet, betont Siebler. Vielmehr näherte sich der Historiker den Ruinen vor dem Hintergrund eines allgemeinen Interesses an einem bedeutenden Bodendenkmal. Durch die Grabungsergebnisse geriet die "Ilias" jedoch unvermutet bald wieder in den Blick. Siebler: "Jahr für Jahr konnte Stück für Stück in das riesige Puzzle der Stadtanlage eingefügt werden, deren Erscheinungsbild sich bis heute gründlich verändert hat". Allein das Areal von Troias Siedlungsfläche habe sich binnen weniger Jahre um mehr als das Zehnfache auf etwa 270.000 Quadratmeter vergrößert. Was bis dato als "armselige kleine Siedlung" erschien und schon deshalb nicht für eine Gleichsetzung mit dem Troia Homers in Frage kommen konnte (so ein Argument Frank Kolbs, wenige Jahre vor Korfmanns Grabungen), präsentierte sich plötzlich als "Residenz- und Handelsstadt mit eigenem Regierungsviertel auf der mauerumwehrten Zitadelle, die einst Lebensraum für bis zu zehntausend Menschen geboten haben mag." Kein derartiges Macht- und Wirtschaftszentrum sei in weitem Umkreis für die späte Bronzezeit bekannt. Schriftfunde sowie die Bestätigung intensiver Verbindungen Troias zum anatolischen Hinterland, dem Reich der Hethiter, ließen bekannte Schriften aus den hethitischen Palastarchiven in neuem Licht erscheinen. Letzte Zweifel, dass es sich bei den Ruinen auf Hisarlik um das homerische Troia handelte, seien bald widerlegt worden. Homers "Ilias" avancierte damit endgültig zur historischen Quelle. Doch zahlreiche Fragen sind nach wie vor ungeklärt: Gab es wirklich den Troianischen Krieg der Griechen gegen die Feste am Hellespont? Und welche der verschiedenen Siedlungs-Schichten Troias wäre dann die "richtige", d. h. homerische? Siebler gibt hier zwar einige Spekulationen und Interpretationen wieder - doch letztgültige Aussagen können auch nach Korfmanns bisherigen Grabungen noch nicht getroffen werden.

Wesentlich nüchterner fällt dagegen das Fazit von Dieter Hertel aus. Weder unter philologischem und althistorischem noch unter archäologischem Blickwinkel könne in irgendeiner Form von einem "historischen Kern" der Sage Homers die Rede sein. "Nicht ein Mythos mehr oder minder entsprechendes Geschehen in der späten Bronzezeit, sondern eine jüngere, ganz anders geartete, geringfügig und sich in ähnlicher Weise an anderen Orten Nordwestkleinasiens abspielende Begebenheit der frühen griechischen Geschichte kommt als Grundlage der Sagenbildung in Betracht: die Besiedlung Troias durch aus Mittelgriechenland stammende Griechen." Alles sei viel unspektakulärer, als es die öffentliche Debatte wahrhaben wolle, betont Hertel, der denn auch souverän und gründlich Kapitel für Kapitel die Forschungsergebnisse Korfmanns relativiert.

Liest man die beiden Troia-Einführungen parallel, scheint die Verwirrung perfekt. Kaum ein Grabungsfund, der nicht unterschiedlich gedeutet werden könnte. Die Kontakte zum anatolischen Hinterland, die laut Michael Siebler durch hethitische Schriften belegt wurden und die These des mächtigen Handelszentrums Troia stützen, sind für Dieter Hertel allenfalls "ganz schwache Beziehungen" und Troia war demzufolge von "nur lokalem Rang". Korfmanns umfangreiche Rekonstruktion der Unterstadt, die Troias Gesamtfläche so sensationell vergrößert hat, beruht Hertel zufolge wie "alle Rekonstruktionsversuche auf Phantasie", da es "nicht möglich [war], die Grundrisse der Häuser, die Bebauungsdichte und den Straßenverlauf zu ermitteln." Ein Stadtplan lasse sich also nicht erstellen. Und auch die nach der Siebler-Lektüre zunächst schlüssig erscheinende Interpretation eines Grabens als Verteidigungsanlage im Kriegsfall und der Fund einer "Stadtmauer" erscheint, durch Hertels Perspektive betrachtet, plötzlich in anderem Licht und lässt noch zahlreiche Fragen und Zweifel zu. Die Beispiele ließen sich beliebig fortführen.

Wer hat nun Recht? Wo könnte der Leser ein Entscheidungskriterium für die eine oder andere Darstellung finden? Die Lektüre der beiden Troia-Bücher hinterlässt eine gewisse Ratlosigkeit. Archäologie und Geschichte scheinen also wirklich zur Glaubenssache zu werden, zumindest für denjenigen, der die wissenschaftlichen Fakten nicht selbst in ihrer Gänze beurteilen kann. Und wer kann das schon? Aber womöglich macht gerade das den Reiz des Themas aus. Der Mythos Troia ist längst zum wissenschaftlichen Krimi geworden. Und seine Entschlüsselung ist noch lange nicht in Sicht.

Titelbild

Michael Siebler: Troia. Mythos und Wirklichkeit.
Reclam Verlag, Stuttgart 2001.
200 Seiten, 4,60 EUR.
ISBN-10: 3150181305

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dieter Hertel: Troia. Archäologie, Geschichte, Mythos.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
128 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 340644766X

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