Programm Kakanien

Albert Kümmel liest den "Mann ohne Eigenschaften" als Anti-Kriegssoftware

Von Christian KassungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Kassung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war: Dieser Satz markiert wohl alles andere als zufällig das Zentrum jenes Erklärungsnotstandes, in dem sich die 'zivilisierte Welt' seit dem 11. September wiederfindet. Krieg und Gewalt entziehen sich virtuos dem Dualismus von Ursache und Wirkung, antworten der Komplexität der postmodernen Welt allenfalls mit weiterer Komplexitätssteigerung. Angesichts dieser immer deutlicher zutage tretenden Zusammenhänge scheint die kardinale These des Kölner Literatur- und Medienwissenschaftlers Albert Kümmel, der sich in seiner Dissertation "Das MoE-Programm" mit dem "Mann ohne Eigenschaften" Robert Musils auseinandersetzt, auf den ersten Blick geradezu absurd: Robert Musil wollte mit seinem Roman nichts anderes, als den Ersten Weltkrieg rückgängig machen. Der Text sollte den Zeitpfeil zurückbiegen, der sich mitten durch das Geschehen Europas vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges gebohrt hatte, und dessen vermutliches Telos von Musil als existentiell verhängnisvoll empfunden wurde. Ergo müsse oder vielmehr könne dieser Roman gelesen werden als der bewusste Versuch, mittels einer gezielten Veränderung des Lesers und dessen Weltverhalten in das gesellschaftliche Ergodenproblem einzugreifen.

Wie um das Funktionieren einer solchen Interaktion mit dem Leser schon direkt einmal selbst zu demonstrieren, beginnt Kümmels Untersuchung mit einer doppelten Ab-Lenkung. Noch immer definiert sich der Idealzustand eines Autors wissenschaftlicher Texte durch dessen Inexistenz. Doch indem der Literaturwissenschaftler Kümmel in seinem eigenen Text von der Faszination einer Zahl - 1897 - abgelenkt wird, vergisst er dieses Ideal und wird damit Teil seines Textes. Als "1897" dann zwei Seiten später erneut auftaucht, diesmal als biographische Markierung im Leben des Herrn Musil, stellt der Leser beruhigt fest, daß scheinbar alles wieder in Ordnung ist, dass der Autor sein Credo doch nicht vergessen hat.

Für den "Mann ohne Eigenschaften" gibt es laut Kümmel einen sehr präzise benennbaren 'Anlaß', von dem aus sich der Argumentationsgang einfädelt. Dabei handelt es sich um den Befund Musils, dass die Geschichte um 1920 noch völlig in sich selbst verhaftet sei. Alle Hoffnungen auf eine grundlegende Änderung der Verhältnisse Kakaniens hatten sich mit Kriegsende zerschlagen. Dementsprechend lasse sich - bei aller Divergenz - die Biographie Musils im Sinne einer Autorschaft um ein Wissenstableau herum anlagern, in dessen Zentrum der Begriff der Organisation steht. Das Tableau selbst sei im Sinne einer Programmierung zu verstehen, als deren (eine) Emergenz der Text des "Mannes ohne Eigenschaften" hervorgeht. Mit anderen Worten handelt es sich bei diesem ersten der drei großen Argumentationsschritte um eine Archäologie jener Möglichkeitsbedingungen, die aus den biographischen Momenten militärische Disziplinierung, maschinelle Regelung und experimentelle Psychologie einen Text erzeugen, der im Leser ebenso funktioniert: als Programmierung, als Control. Damit wird der Lektürevorgang als ein informationstechnologischer, als die Begegnung zweier Maschinen begriffen. Die Lesermaschine wird sozusagen von Anfang an mit Programmen oder Texten gefüttert. Eines von diesen Programmen ist - in statistisch betrachtet recht seltenen Fällen - die Textmaschine der 'MoE-Software'. Entscheidend ist nun der kybernetisch-systemtheoretische Bruch im Zyklus der Informationsverarbeitung: Es gibt eine Konkurrenz der verschiedensten Programme - MoE versus CNN zum Beispiel -, womit der Leser zu einem Beobachter zweiter Ordnung wird. Dies ermöglicht Selbstkontrolle und Neubewertungen, und genau hier schlägt für Kümmel die Stunde des "Mannes ohne Eigenschaften": Musil verfügte über umfassendste Kenntnisse desjenigen psychophysikalischen Apparates, den er kontrollieren möchte, dem Leser eben. Nur aufgrund dieser Voraussetzungen kann sein Unternehmen, eine Papiermaschine zu bauen, überhaupt Aussicht auf Erfolg besitzen.

Literaturtheoretisch besehen bedeutet dies nichts anderes, als eine Diskursanalyse Kittlerscher Provinienz und die Literarizität der spezifischen Logik des Romans als Text engzuführen. Förmlich sieht man unter einem derartigen Erkenntnisanspruch die Köpfe ganzer Riegen konkurrierender Musil-Mitstreiter rauchen und rollen, wird hier doch der Finger in eine Wunde gelegt, die die Diskursanalyse durch ihre Fokussierung auf - um nur einige prominente Ansätze zu nennen - Apparatetechnik, Psychophysik oder Chaostheorie aufgerissen hat, und die ihr seither Schmerzen zu bereiten scheint: das Verhältnis von Wissen und Text. Die Antwort auf diesen Querstand, die Kümmel im Verlauf seiner Untersuchung so minutiös wie luzide herausdestilliert, lautet: Dass der Text stilistisch gegen seine eigene diskursive Wissensprogrammierung arbeitet, und zwar um zu denken, was sich gar nicht denken lässt. Dichtung im Sinne Musils, so die dann wohl gewichtigste Aussage Kümmels, sei das,,geregelte Nichtfunktionieren" eines Textes unter der Kräftetrias Ähnlichkeit - Nicht-Ähnlichkeit - Rückkopplung. Und wenn dann ein Wissen eines solchen Textes existiert, so kann es sich dabei allenfalls um Einsichten in die Wahrheit der Wahrheit, also um ein Meta-Wissen oder um poetologisch funktionalisierte Epistemologie handeln. Die Kluft also zwischen Diskurs und Form mithilfe des Dispositivs vom geregelten Nichtfunktionieren wenn nicht zu schließen, so doch zumindest eine gangbare Brücke zu konstruieren, dies ist die Messlatte, die Kümmel ins Zentrum der Musil-Forschung rammt.

Die Diskussion der Musil-Maschine unter dem Stichwort Organisation wird - in aller Verkürzung - derzeit von zwei prominenten Positionen bestimmt. Gerhard Meisel rekonstruierte 1991 in seiner wegweisenden Untersuchung über die "Liebe im Zeitalter der Wissenschaften vom Menschen" den "Mann ohne Eigenschaften" als einen Text, der aus dem Produzieren von Sinnfragmenten nicht mehr herauskommt und sich folglich sukzessiv selbst zersetzt, wobei er seine Argumentation am Entropieparadigma ausrichtet, welches seither aus der Musil-Forschung nicht mehr wegzudenken ist. Scheinbar genau au contraire konzipierte Christoph Hoffmann 1997 mit "Der Dichter am Apparat" selbigen als Jüngersche Mobilmachungsmaschine von zerstörerischer Produktivität. Ob Totalität à la Jünger oder Fragmentierung à la Boltzmann, Ordnung oder Unordnung, Krieg oder Frieden - in beiden Fällen handelt es sich um eine "leerlaufende Maschine". Genau einen solchen Leerlauf aber schließt Kümmels Argumentation aus: Nur eine konkret zu benennende Geschichtsphilosophie vermag den Strom für die Musilsche Papiermaschine zu liefern und deren geradezu sprichwörtlichen literarischen Aufwand zu erklären.

Wie sieht nun aber eine Geschichtsphilosophie, die zugleich Text und Code ist, konkret aus? Entscheidend ist hier, daß man dieses Programm nicht beziffern kann, ohne zugleich in Paradoxien zu sprechen. Es ist Kümmel besonders hoch anzurechnen, ein entschiedenes Plädoyer für die Aufrechterhaltung von Paradoxien vorzutragen. Musils Konzept besteht im weiteren darin, Literatur insofern als Wissenschaft zu verwirklichen, als es ihr eine Richtung einzuschreiben gilt, die nicht von einem zu erreichenden Zustand aus zu denken ist. Fortschritt wird damit zu einer Frage, auf die sie selbst die Antwort ist: das Produzieren von Möglichkeiten des Menschseins und nicht das Teleologisieren von Wirklichkeiten bestehender Gesellschaftsordnungen.

Bleibt zum Schluss der Roman selbst, die Übersetzung dieser Software in den konkreten Raum des Textes bzw. deren beider Ineinandertreten. Da ist natürlich vor allem die Offenheit des Textes, die sich geradezu zwangsläufig aus dem Möglichkeitsdenken ergibt. Erreicht wird diese Öffnung durch eine lektüreleitende Doppelstrategie von Dissoziieren und Integrieren. Diesem Gegeneinander von paranoidem und hysterischem Lektürebefehl wird die Selbstkontrolle qua Rückkopplung zur Seite gestellt. Mit Hilfe dieser oben schon genannten Befehlstrias lässt sich die fast manische Anziehungskraft des Romanbeginns auf die Literaturwissenschaft erkären: Erschütterungen des Sinns durch das Gegeneinanderstellen von Diskursen unterschiedlicher Symbolsysteme versehen den Text mit einer Beobachterebene zweiter, dritter usf. Ordnung, wodurch der Text als seine eigene Theorie funktioniert. Und genau so soll der trainierte Leser des "Mannes ohne Eigenschaften" funktionieren: Via Rückkopplung werden dessen Singularitäten jenseits platter Inhaltlichkeit anschlußfähig und organisierbar. Am Ende steht ein Leser, der ganz im Sinne Ulrichs zugleich Akteur und Beobachter, drinnen und draußen, Wirklichkeits- und Möglichkeitsmensch ist. Auf den Krieg übertragen: Afghanistan liegt mitten im eigenen Lande, in der eigenen Geschichte, im eigenen Denken. Alles andere ist zu einfach - ist Wirklichkeit.

Titelbild

Albert Kümmel: Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
481 Seiten, 51,60 EUR.
ISBN-10: 3770535677

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