Ein großer amerikanischer Roman - mit europäischem Makel
"Der menschliche Makel" von Philip Roth
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Mais ne lisez pas, comme les enfants lisent, pour vous amuser, ni comme les ambitieux lisent, pour vous instruire. Non, lisez pour vivre" - "Lesen Sie nicht wie die Kinder, um sich zu unterhalten, und nicht wie die Strebsamen, um sich zu bilden. Nein, lesen Sie, um zu leben", rät Flaubert im Juni 1857 seiner Briefpartnerin Mademoiselle Leroyer de Chantepis. Im Spannungsverhältnis von Leben und Lesen, auf dem schmalen Grat einer so geringen wie signifikanten Differenz existiert jener Typus Leser, der lebt, um zu lesen, und liest, um zu leben. Philip Roths neuer Roman wird diesen leidenschaftlichen Leser sehr beglücken und ihn schließlich tief in seinem Selbstverständnis kränken.
Nirgendwo, so mag es dem Außenstehenden scheinen, sind Leben und Lesen so deckungsgleich wie in der Welt der Philologischen Seminare, wo Lektüre und Alltag einander durchdringen, wo Lesen gleichermaßen Ausdruck professionellen Strebens, privater Leidenschaft und evasiver Lebensangst sein kann. In dieser Welt spielt "Der menschliche Makel", und hätte Dietrich Schwanitz das Genre "Campus-Roman" im deutschen Sprachraum nicht langfristig als eine Spielart akademisch aufgeputzter Trivialliteratur kompromittiert, könnte man Roths Buch einen Campus-Roman nennen; denn Lehre und Gelehrsamkeit, Konkurrenz- und Machtkämpfe, verdrängte und verborgene Leidenschaften beherrschen das angesehene Athena College an Amerikas Ostküste und weisen doch weit über die so abgeschlossen scheinende akademische Provinz hinaus, in die Randbezirke der kleinstädtischen Gesellschaft ebenso wie in die politisch-private Welt des Weißen Hauses und des zur selben Zeit berühmt werdenden Oral Office.
Unnötig deshalb zu sagen, dass den Lesemodellen der Protagonisten Lebens- und Liebeskonzepte entsprechen: Der Held Coleman Silk, Professor für Altphilologie, ehemaliger Dekan, Ende 60, ein behutsamer, altmodischer, traditionsgewisser und strenger Leser, führt ein harmonisches Leben im Kreis seiner Familie und vermag es, sinnlich wie intellektuell, dem Augenblick zu leben. Seine Gegenspielerin, die junge Dozentin für Französische Literatur Delphine Roux, ist eine theoriefixierte und postmodern orientierte Leserin, in deren Lektüre der Ehrgeiz die Realitätsflucht kompensiert; doch wer, da ist Roths poetische Gerechtigkeit unerbittlich, wer literarische Werke nach Maßgabe ihrer Political Correctness klassifiziert, tritt auch dem Leben mit einem Kriterienkatalog in der Hand gegenüber und bleibt emotional unreif und erotisch unbefriedigt. Denn während der alternde Philologe zwischen Literatur und Leben zu unterscheiden weiß, sucht die junge Theoretikerin, die mit Madame Bovary nicht nur das Herkunftsland teilt, im Leben vergebens jene parfümierte Bedeutungsschwere, die ihr die Werke von Milan Kundera liebenswert gemacht haben.
Silk, der hochschulpolitisch rigide und lange erfolgreiche Dekan, wird beruflich und sozial schließlich durch Delphine Roux und die in ihr verkörperten wirklichkeitsfremden und menschenfeindlichen Grundsätze zur Strecke gebracht. Einen saloppen Ausspruch im Seminar lastet man ihm als Diskriminierung von schwarzen Studenten an, seine Frau stirbt unter dem Schock der gesellschaftlichen Degradierung, die erwachsenen Kinder verlieren ihr Vertrauen in den Vater und wenden sich von ihm ab. Die Affäre lässt Silk die Nähe des Schriftstellers Nathan Zuckerman suchen. Er soll den Fall dokumentieren und das falsche Bild korrigieren, das Silks Lebensleistung überlagert und auszulöschen droht. Zuckermans Buch über Silk, "Der menschliche Makel", verändert das Bild von Coleman dann auch wirklich, vor allem, weil Zuckerman herausfindet, dass Silk in jungen Jahren einen Identitätswechsel vollzog, als er sich von seiner schwarzen Herkunftsfamilie abwandte, um, genetisch durch einen hellen Teint 'begünstigt', als weißer Amerikaner jüdischer Herkunft Karriere zu machen (Verena Lueken hat kürzlich ausführlich über Anatol Broyard, den langjährigen Literaturkritiker der "New York Times", der das lebensgeschichtliche Vorbild für Silks Biographie lieferte, berichtet, vgl. F. A. Z. vom 13. April 2002).
Die (tragische) Ironie, dass der unerkannt selbst Schwarze daran scheitert, dass man ihn zu Unrecht beschuldigt, eine rassistische Bemerkung über schwarze Studenten gemacht zu haben, beschäftigt freilich den Erzähler und fiktiven Autor Zuckerman mehr als seinen Helden. Der findet sein inneres Gleichgewicht wieder, als er eine Affäre mit Faunia Farley beginnt, einer von einem geisteskranken Vietnam-Veteranen geschiedenen Mittdreißigerin, die ihre beiden Kinder bei einem Hausbrand verlor, seitdem von ihrem Exmann verfolgt wird und in Colemans College putzt. In den Augen der Welt ist diese Beziehung eine weitere Verfehlung Colemans, ein Fall sexueller Ausbeutung einer abhängigen und analphabetischen, zudem in ihrer Kindheit missbrauchten jungen Frau aus der Unterschicht durch einen siebzigjährigen privilegierten akademischen weißen Oberschicht-Mann. Doch damit nicht genug, während die sich moralisch gerierende Hetze feministischer Kreise Colemans Status weiter untergräbt, bedroht die existenzielle Wut des Exmannes Les Farley, des um seine Zukunft und seine psychische Gesundheit betrogenen Vietnam-Kämpfers, das Leben des vermeintlichen Juden Coleman. Erzählte man die Fabel weiter, hätte man den Roman endgültig als Kolportage diskreditiert. Dass er es nicht ist, liegt auch daran, dass unter der handlungs- und klischeereichen Oberfläche eine im hohen Grade konstruierte Tektonik erkennbar ist, und diese Konstruiertheit - das teilt der moderne amerikanische Roman mit einem so 'klassischen' europäischen Text wie den "Wahlverwandtschaften" - gar nicht verborgen, sondern ausgestellt und kommentiert wird. Lautet bei Goethe allerdings die Botschaft "Entsagung", so heißt sie bei Roth "Hingabe".
Die dezidierte Abwesenheit von Metaphysik, die Roths gesamtes Werk auszeichnet und vielleicht, um eine steile These zu wagen, zu den Charakteristika der amerikanisch-jüdischen Literatur gehört, die Abwesenheit von Metaphysik, von jenseitigen Hoffnungen, Erwartungen und Ansprüchen kennzeichnet den erfüllten Moment, im Leben, im Eros und in der Lektüre. Man wird lange suchen müssen, eine so anrührende, intime, lebensvolle und beglückend sinnliche Passage zu lesen wie die über den Tanz, den Coleman Silk Nathan Zuckerman vorschlägt und in dem die beiden alternden Männerkörper sich und einander in der Musik vollkommen genügen. Ganz unerwartet schenken solche Szenen dem Leser das heitere Glück reiner Körperlichkeit und absoluter Präsenz, Empfindungen, die er gerne aus der Lektüre ins Leben hinübertragen würde.
Und so besteht eines der Kunststücke des Romans darin, das Lesen noch im erfülltesten Moment als Form von Nicht-Leben so zu diskreditieren, dass die Leserin ihr fiktionales Alter Ego, die attraktive, eloquente, gebildete und kultivierte europäische Literaturwissenschaftlerin Delphine nur noch als Zerrbild ihrer selbst bedauern kann und an ihrer statt in entschlossener Selbstverleugnung die wortkarge analphabetische amerikanische Putzfrau als Objekt identifikatorischen Begehrens wählt, eine unscheinbare, knochige Frau, die unter ihrem Bett, über der Garage einer Milchfarm, eine Blechdose mit der Asche ihrer Kinder aufbewahrt. Spätestens hier hätte der Kolportagevorwurf sich denn auch gegen Feuilleton und Literaturkritik zu richten - die durchweg positiven Besprechungen, die Roths Roman bisher erfahren hat, dokumentieren eine Sehnsucht nach dem "wahren Leben", das für Rezensenten naturgemäß jenseits des Schreibtischs stattzufinden hat.
Die Putzfrau und Melkerin Faunia, deren geist- und wortreiche innere Monologe auch Heinrich Detering zu (berechtigter) Kritik am ansonsten makellosen Kunstwerk herausgefordert haben, hat im übrigen, aber das erfahren der Autor Zuckerman und seine Leser erst nach ihrem gewaltsamen Tod, jahrelang Tagebuch geführt. Analphabetismus diente ihr als Schutzwall vor den Zumutungen eines Lebens, das Erklärungen fordert und aus ihnen Verantwortungen ableitet; dem Autor, so darf man schließen, dient derselbe Analphabetismus solange als Chiffre für das selbstverständlich-selbstidentische, sozial aber ohnmächtige Leben, bis auch der letzte Leser begriffen hat, dass erst hinter dem Klischee die Wirklichkeit beginnt und dass die Kunst darin besteht zu wissen, wann man darauf verzichten sollte, das Leben lesen zu wollen, gerade wenn man dies ein Leben lang gelernt hat.
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