Fassaden des Anstands

Alan Bennett erzählt vom Tod

Von Michael SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knochentrockener britischer Humor, kondensiert in Genre-Bildern, die so dicht geschrieben sind und so viele Haupt- und Nebenzweige aufweisen, dass die Bezeichnung "Kurz-Romane" ohne weiteres zulässig ist - so stellt sich im Verlag Klaus Wagenbach eine der profiliertsten Stimmen der zeitgenössischen angelsächsischen Literatur vor. Alan Bennett, geboren 1934, hat als Theaterautor, als Drehbuchschreiber für Film und Fernsehen und als Humorist von sich reden gemacht. Berühmt wurde er mit einer Reihe von Monologen, die von der BBC in den frühen 80er Jahren unter dem Titel "Talking Heads" produziert wurden - Alltagssprache beim Wort genommen, entlarvende Kaskaden, böse, hintergründig und zeitkritisch. Darüber hinaus hat er auch - unter anderem - die Drehbücher zu "Prick Up Your Ears" (1987) und "The Madness of King George" (1994) verfasst und ist deshalb mittlerweile in seiner britischen Heimat so beliebt, dass es fast schon bedenklich ist - zumindest wenn man den gern gepflegten deutschen Denktraditionen anhängt, die fein säuberlich zwischen "E"- und "U"-Literatur unterscheiden. Aber ist das wirklich und immer zwingend nötig?

Machen wir also eine Probe aufs Exempel, die nicht mehr als zwei, drei Lektürestunden erfordert. Ingo Herzke hat zwei Prosatexte, die auf älteren dramatischen Arbeiten beruhen, ins Deutsche übertragen; in beiden geht es um den Tod, und trotzdem gibt es viel zu Lachen. "Hand auflegen" macht den Anfang - das ist kaum mehr als die Schilderung eines Londoner Gedenkgottesdienstes für einen jungen Schwarzen, der unter unklaren Umständen in Südamerika ums Leben gekommen ist, und dessen Freunde ein halbes Jahr später in einer anglikanischen Kirche im Norden der Stadt zu einem Ritual zusammenkommen, das ihrer versammelten weltlichen Intelligenz mutmaßlich Hohn sprechen sollte. Denn die Anwesenheit Gottes wirkt ein wenig peinlich, wenn die Trauergemeinde aus so vielen säkularen Berühmtheiten beiderlei Geschlechts besteht: aus Pop-Ikonen, Fernsehmoderatorinnen, gefragten Architekten oder hochrangigen Politikern. Und tatsächlich versammeln sich überraschend viele solcher Menschen in den Kirchenbänken, um Unauffälligkeit bemüht, um leise aber effektvolle Gesten der Trauer vor den Augen aller anderen und vor denen der Autogrammjäger und Klatschreporter, die vor der Kirche lauern. Alle waren sie Freunde - oder besser Kunden? - von Clive, standen ihm nahe, weil er als ihr Masseur gearbeitet und seine heilenden Hände gerne und häufig in den Dienst einer noch weitaus privateren Zuwendung gestellt hat.

Will sagen: Das ganze Establishment hat mit dem Verstorbenen im Bett gelegen, Männlein und Weiblein, Ehemann und Ehefrau, Hetero- und Homosexuelle. Jeder ahnt, warum die anderen ebenfalls gekommen sind, und manche reagieren verärgert, wenn ihnen das klar wird. Auch der Pater, der den Gottesdienst hält, hat Clive nicht als ein Schäfchen seiner Gemeinde kennen gelernt - und während er nun auf der Kanzel um die ersten Worte seiner Predigt ringt, wird er, ohne es zu wissen, von einem älteren Vorgesetzten beobachtet und bewertet, denn der junge Kleriker gilt als Mann mit Zukunft, als einer der begriffen hat, dass in fortschrittlichen Zeiten auch der Gottesdienst Unterhaltung ist und der Pater ein Entertainer sein sollte.

Es dauert nicht lange und das Gedenken läuft ziemlich aus dem Ruder, denn gleich der erste Satz der improvisierten Predigt lässt eine eher private Note erahnen - und öffnet die Schleusen für die übrigen Teilnehmer der Veranstaltung. Es hagelt daraufhin Bekenntnisse, Sentimentalitäten und Erörterungen der körperlichen Vorzüge des Verblichenen, und wenn man so will, wird aus der Totenfeier eine Beschwörung der Lebenslust. Aber dann folgt das Fegefeuer: Denn woran ist Clive gestorben? Woran muss er gestorben sein, so wie er gelebt hat? Und was steht seinen Freunden womöglich auch bevor?

Wie Bennett das auf wenigen Seiten hin- und herwendet, wie er die Angst vor AIDS aufkommen und wieder verblassen lässt - wie er die Versammelten erst für ihre Libertinage büßen und sie dann wieder zu ihren Gewohnheiten zurückkehren lässt - das hebt diese Geschichte hoch hinaus über eine eindimensionale moralische Satire auf Heuchelei und falsche Religiosität. In diesem Kirchenschiff schwitzt eine Gesellschaft, die sich in vollem Verfall befindet, weil sie alle ihre Rituale in Frage gestellt und so weit ausgehöhlt hat, dass die überkommenen Formen zwar noch als Showeffekte nutzbar sind, aber die durchaus spürbaren wirklichen Empfindungen nicht mehr auffangen können.

In der zweiten Geschichte, in "Vater,Vater, lichterloh", geht es um ähnliche Qualen, aber an einem anderen Ort: Bennett erzählt vom Sterben eines übermächtigen Vaters - also von einer Schlüsselszene in jeder spät- oder postpatriarchalischen Gesellschaft. Der alte Mann dämmert in der Klinik dahin, während sein Sohn als Lehrer an stumpfsinnigen Schülern und Eltern verzweifelt und sich nebenbei von seiner Frau Vorwürfe anhören muss, die seine persönlichen Charaktereigenschaften, verglichen mit denen des Vaters, in ein ungünstiges Licht setzen. Nur zu oft hat der Sohn in seinen Träumen den alten Mann schon umgebracht - und stets ist es dabei "schnell, schmerz- und kampflos" zugegangen. Der wirkliche Tod ist anders; er zieht sich lange hin und hindert den Sohn zudem an der Arbeit. Bis zuletzt bleibt der Vater ein Ärgernis und außerdem ein Mensch mit ausgeprägtem Sinn für Effekte.

Als es dann aber definitiv zu Ende geht, will der Sohn trotzdem einmal etwas richtig machen; also flieht er geradezu aus einer Elternsprechstunde und schwört, das Krankenhaus bis zum letzten Atemzug des Vaters nicht mehr zu verlassen. Das ist aufopferungsvoll gedacht und doch nur der unmittelbare Reflex eines schlechten Gewissens, und es kann deshalb auch nicht wirklich gut gehen. Midgley junior geht einen dornigen Weg ins Hospital, begleitet von einem Konzert zwiespältiger Kommentare aller Anverwandten; dann sucht er Trost bei einer Krankenpflegerin - und das pietätvolle Werk denaturiert in gewisser Weise und artet in Ehebruch aus. Wie schon in der Geschichte von Clive dem Masseur bröckeln Zeile für Zeile die Fassaden der Wohlanständigkeit, virtuos und mit Sinn für Pointen lässt Bennett die Situation umkippen, gönnt dem Sohn ein bisschen Lebenslust und dem Sterbenden mutmaßlich ein leises Lächeln vor dem letzten Atemzug - und wer darüber nicht lachen kann, dem ist auf Erden, wie man so sagt, wahrscheinlich nicht zu helfen.

Titelbild

Alan Bennett: Vater, Vater lichterloh. Zwei Kurzromane.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002.
128 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3803131685
ISBN-13: 9783803131683

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch